Im Kino

Haarsträubendes Komposit

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Stefanie Diekmann
11.03.2020. Alle lügen in Hirokazu Kore-edas "La Vérité", in dem Catherine Deneuve eine Mutter und Schauspielerin spielt, die Hader in Bösartigkeit konvertiert, und Juliette Binoche ihre Tochter. Julie Dashs 1992 entstandener Film "Daughters of the Dust" erzählt von afroamerikanischen Kulturen auf der Insel Ibo Landing: ein kontemplatives Plädoyer für immer weitere Diversifizierung.


"La Verité" ist ein haarsträubendes Komposit aus Topoi und Klischees. Und ein ziemlich schöner Film. Ob er deshalb als ein typischer Film von Hirokazu Kore-Eda zu bezeichnen wäre, kann dahingestellt bleiben; aber es steht außer Frage, dass nur wenige Filmemacher Repertoire und Kontingenz, Konvention und Überraschung, das Überdeutliche und das Beiläufige so gekonnt zu verbinden verstehen wie der Regisseur von "La Vérité", der auch der Regisseur von "Shoplifters" (Palme d'or 2018), "Unsere kleine Schwester" (2015), "Like Father, Like Son" (2013) und zehn weiteren Spielfilmen ist.

Ein Abonnement auf die Darstellung von Familien: ihre Dysfunktionalität, ihr Beharrungsvermögen, hat Kore-Eda spätestens seit "Nobody Knows" (2004), in dem eine Geschichte von Verwahrlosung und Solidarität erzählt wird. Ein Abo auf den Zusammenhang zwischen familialer Dysfunktionalität und den Spielregeln, von denen die sozialen und ökonomischen Interaktionen innerhalb eines Milieus bestimmt werden, gibt es außerdem. Aber so schmerzhaft und heftig die Affekte der Figuren sein mögen, sind sie in diesen Filmen immer kontrolliert, ihre Artikulation verregelt: ein Prinzip, das sich auch dann nicht ändert, wenn die Familie zu einer französischen wird ("La Vérité" ist der erste Film, den Kore-Eda außerhalb Japans gedreht hat) und die Erzählung auf das Modell Film-im-Film rekurriert, das die Option eröffnet, Affekte zu spiegeln, zu sublimieren, aber auch zu potenzieren und ihnen eine Kontur zu geben.



Einige Topoi des Familienentwurfs: Die Mutter (Catherine Deneuve) ist Schauspielerin, die Tochter (Juliette Binoche) wäre das vielleicht auch gerne geworden, ist jetzt aber Drehbuchautorin und entdeckt, dass die Mutter sich ihren Drehbuchtext nicht mehr merken kann. Die Vergangenheit, die beide trennt und verbindet, war im Wesentlichen von der dauernden Abwesenheit der Mutter bestimmt, was auch zentrales Thema des Films ist, der in der Gegenwart gerade gedreht wird. Allerdings verhält es sich dort so, dass die Filmmutter nicht altert (altern darf), während die Filmdiva, die mit dem Alter hadert und den Hader in Bösartigkeit konvertiert, nur gecastet worden ist, um die Filmtochter auf den allerletzten Metern zu verkörpern. Eine dritte Frauenfigur gibt es auch, gespalten in eine lebendige (Manon Lenoir) und eine tote Schauspielerin, die in den familialen Verwerfungen als die Leiche im Keller und im Verweissystem von "La Vérité" als Hommage an Deneuves früh verstorbene Schwester Françoise Dorléac figuriert. Was sonst an Figuren auftritt: Ehe- und Ex-Ehemänner, eine Enkelin, Gewerke, Chauffeure und ein bezaubernder Mann für alle Fälle (Alain Libolt), sucht sich aus der Schusslinie zu halten und verfolgt, mehr oder weniger irritiert, mehr oder weniger erheitert, die Aushandlungen, die zwischen Mutter, Tochter und der auferstandenen Toten ablaufen.

Die Wahrheit, "La Vérité", lässt sich unter solchen Umständen allenfalls als Titel eines Buchs ins Spiel bringen, das als Autobiografie der Filmdiva vermarktet wird und vom Prinzip wahrheitsgetreuer Darstellung denkbar weit entfernt ist. Was indes auch nicht anders zu erwarten war. Die Abweichungen, Verdrehungen zu zählen und mit Post-Its zu markieren (ein liebenswürdiges Detail), ist exakt so überflüssig, wie es die Filmdiva bereits in der ersten Konfrontation mit ihrer Tochter konstatiert. Denn tatsächlich geht es hier nicht um Wahrheit oder um Lügen, die auf Buch- und Skriptseiten, unter Haupt- und Nebenfiguren und immer wieder auch im Film-im-Film erzählt werden, sondern um Liebe, die mit Wahrheit nur sehr bedingt zu tun hat, und um den Schmerz, der durch den Mangel an Liebe entsteht, und dem mit Lügen vielleicht am besten beizukommen ist.

Die große Szene, in der auf unerklärliche Weise etwas wie Erlösung hergestellt wird (aber ein unerklärliches Moment eignet der Erlösung bei Kore-Eda eigentlich immer), ist die Szene einer Erzählung, die wahr sein könnte, vielleicht aber auch aus Lügen zusammengesetzt ist. Für andere Erzählungen, die ebenfalls zur Erlösung und zur Versöhnung beitragen, gilt dies in jedem Fall, mit einer Backstage, die ein, zwei Mal tatsächlich transparent gemacht wird und ansonsten im Off verbleibt, weil sich dieser Film nicht dafür interessiert, ob das Erzählte wahr ist, sondern dafür, was es vermag. Alle lügen, einige etwas gekonnter als die anderen. Einige wollen trotzdem die Wahrheit hören und wissen zugleich, dass man damit nicht sehr weit kommt. Geliebt werden wollen alle und getröstet werden ohnehin: Um diese simple, sehr wichtige Einsicht hat Hirokazu Kore-Eda seinen vierzehnten Film organisiert.

Stefanie Diekmann

La Vérité - Frankreich 2019 - Regie: Hirokazu Kore-eda - Darsteller: Catherine Deneuve, Juliette Binoche, Ethan Hawke, Clémentine Grenier, Manon Clavel - Laufzeit: 106 Minuten.

***



1903 schrieb der Soziologe, Bürgerrechtler und erste afroamerikanische Harvard-Doktorand W. E. B. Du Bois sein Hauptwerk "The Souls of Black Folks". In dem Buch über das "negro problem" und die aus verschiedenen Gründen nie explizit gestellte Frage, wie es sich anfühlt, ein Problem zu sein, findet sich sein wohl berühmtestes Theorem über das doppelte Bewusstsein "des Afroamerikaners": "One ever feels his twoness, - An American, a negro; two souls, two thoughts, two unreconciled strivings; two warring ideals in one dark body, whose dogged strength alone keeps it from being torn asunder."

1902 spielt der Film "Daughters of the Dust", 1992 geschrieben, produziert und inszeniert von Julie Dash, auf Ibo Landing, einer kleinen Insel vor der Küste Georgias, deren Bewohner, die Gullah, durch ihre Abgeschiedenheit eine sehr eigenständige afroamerikanische Kultur entwickelten, in der sich viele Traditionen ihrer afrikanischen Vorfahren erhielten. Hier lebt die Familie Peazant, die sich darauf vorbereitet, in den Norden zu immigrieren. Nana Pezant (Cora Lee Day), die Dorfälteste, hält gegen Ende des Films der Familie eine leidenschaftliche Ansprache, in der sie die Spannungen innerhalb der Familie rekapituliert und in der auch die Worte Du Bois` widerhallen: "There must be a bond, a connection between those who go north and those who remain, between us who are here and those who are across the sea. We are as two people in one body. The last of the old and the first of the new. We will always live this double-life because we are from the sea. We came here in chains. And we must survive!"

Dash erzählt ihre Geschichte aus der Perspektive eines ungeborenen Kindes, eines Mädchens, mit dem Nanas Tochter Eula (Alva Rogers) schwanger geht. Der Vater ist nicht ihr Mann Eli (Adisa Anderson), sie wurde bei der Vergewaltigung durch einen anderen gezeugt. Dash gesteht ihren Figuren stets auch ein eigenständiges Leben zu, anstatt sie nur zu Platzhalter*innen für (nicht nur) in der Vergangenheit erlittenes Unrecht zu machen. Wenn man bei dem Bild der schmerzhaften Zweiheit bleibt, scheint sich diese zunächst noch weiter aufzuspalten, indem Eulas Geschichte einerseits allgemein für die der afroamerikanischen Bevölkerung als Ganzes steht, aber auch ganz individuell für sich selbst. Dabei werden die Probleme durchaus klar benannt: Landflucht, die Konflikte zwischen verschiedenen Kulturen und sozialen Schichten, sexuelle Gewalt gegen Afroamerikanerinnen (auch als strukturelles Problem: "The rape of coloured women is as common as a fish in the sea," heißt es in einem Dialog) und über allem scheint unheilvoll der lange Schatten der Sklaverei zu liegen. Aber es geht darum, die Menschen selbst dabei gerade nicht als ein Problem zu betrachten, sondern als Individuen, die mehr sind als die Summe des Leids, das ihnen widerfuhr, die keine Opfer mehr sein wollen, sondern Überlebende, die sich in einer besseren Zukunft ihres Lebens erfreuen können.



Ästhetisch verfolgt Dash dieses Ziel durch die warmen, farbenfrohen, meditativen und kontemplativen Bilder ihres Kameramanns Arthur Jaffa. Auch begeistert der sense of place des Films, am deutlichsten in der Darstellung des Strandes, der Dreh- und Angelpunkt des sozialen Lebens des Dorfes ist. Hier wird festlich gespeist, aufs Meer geblickt und von fremden Ländern geträumt, gestritten und sich wieder vertragen. Schließlich gehört zur einnehmenden Gestaltung auch sein Gespür für Sprache, für die besondere Melodie des breiten Slangs der Insulaner*innen.

Dashs Utopie besteht nicht darin, dem "doppelten Bewusstsein", der Zweiheit beizukommen, indem sie versucht, eine "Ureinheit" (wieder)herzustellen. Vielmehr geht es um eine immer weitere Diversifizierung. Es gibt nicht eine afroamerikanische Kultur, sondern viele. Schon auf dem kleinen, hochkonzentrierten Raum der Insel finden sich Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, an unterschiedliche Götter glauben und - nicht zuletzt - sich unterschiedlicher Strategien und Kulturtechniken bedienen, um mit dem Leid der Vergangenheit und den Widrigkeiten und Freuden der Gegenwart umzugehen. Ist die Welt von "Daughters of the Dust", wie die der Hood-Filme der Zeit, die sich im Gangsterfilmgewand mit dem Leben in den afroamerikanischen Slums der großen Städte auseinandersetzten, eine, in der es keine Weißen gibt, dann ist die Ursache hier nicht soziale Segregation. Vielmehr beginnt der Film damit, dass eine Frau aus der Familie vom Festland mit ihrem schick gekleideten und gebildeten Mann, der die neusten technischen Errungenschaften der Zeit nach Ibo Landing bringt, zurückkehrt. Der soziale Andere, der von außen kommt und eine andere Perspektive auf die Welt (aber auch eine gewisse kulturelle Arroganz gegenüber den "Hinterwäldlern") im Gepäck hat, wäre in den meisten Filmen wohl weiß, hier ist er ebenfalls schwarz. Nicht in der Einheit besteht die Utopie des Films, sondern in der Vielheit, im friedlichen und freien Zusammenleben derer, die mehr oder weniger haben und (anderes) wissen, derer, die gehen und derer, die bleiben, der letzten der Alten und der ersten der Neuen.

Nicolai Bühnemann

Daughters of the Dust - USA 1991 - Regie: Julie Dash - Darsteller: Cora Lee Day, Alva Rogers, Barbarao, Trula Hoosier, Umar Abdurrahamn - Laufzeit: 112 Minuten.

"Daughters of the Dust" ist am 13. und 21. März im Berliner Kino Arsenal zu sehen, im Rahmen der Reihe "Black Light", die sich dem schwarzen amerikanischen Kino des 20. Jahrhunderts widmet.