Magazinrundschau

Es wird doch jedes Jahr besser

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
22.06.2021. In Osteuropa rekonstruiert der Historiker Bert Hoppe das Massaker in der Schlucht von Babyn Jar 1941. Die London Review beschreibt, wie Äthiopiens Militärregierung das Aushungern als eine Strategie der Aufstandsbekämpfung betreibt. Unherd hat eine Idee, wie man sensible Leser befrieden und viele neue Jobs im Verlagswesen schaffen kann. In En attendant Nadeau erklärt Olivier Mannoni, warum er seine erste Übersetzung von "Mein Kampf" in den Papierkorb warf. In Elet es Irodalom singt Görgyi Földes ein Loblied auf die zeitgenössische ungarisch-jüdische Literatur. Harper's blickt in die satten, verängstigten Gesichter von TikTok-Influencern.

Osteuropa (Deutschland), 21.05.2021

Osteuropa widmet sein aktuelles Heft dem Massaker in der Schlucht von Babyn Jar. Innerhalb von zwei Tagen im Jahr 1941, am 29. und 30. September, brachten deutsche Truppen - SS, Wehrmacht und Polizeibataillone - am Stadtrand von Kiew mehr als dreißigtausend Juden um. Das Verbrechen war lange vor der Wannsee-Konferenz der Auftakt zur Vernichtung der europäischen Juden. Der Historiker Bert Hoppe rekonstruiert die Ereignisse, vom Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion über die Besatzung Kiews bis zu den Bombenanschlägen, die der sowjetische Geheimdienst nach dem Rückzug der Roten Armee auf Besatzungsstellen verübt hatte: "In den zeitgenössischen deutschen Dokumenten wurde das Massaker durchweg als militärische Reaktion auf die Bombenanschläge dargestellt. Doch handelte es sich dabei um einen Vorwand, um den ohnehin geplanten Massenmord zu legitimieren: Auffällig war schon allein, dass nur Juden erschossen werden sollten. Zwischen (SS-Standartenführer Paul) Blobel und (Generalfeldmarschall Walter von) Reichenau bestand hinsichtlich des Judenmords große Einigkeit. Schon einen Monat vorher hatte von Reichenau persönlich die Tötung von 90 jüdischen Kindern in der südlich von Kiew gelegenen Stadt Bila Cerkva angeordnet, deren Eltern die Männer des Sk 4a zuvor erschossen hatten."

Im Editorial erklären die Herausgeber Manfred Sapper und Volker Weichsel Babyn Jar aber auch zu einem Symbol einer ideologisch motivierten Verschleierung auf mehreren Seiten: "Nach der Befreiung Kiews Anfang 1943 durch die Rote Armee nahm eine sowjetische Kommission die Untersuchung der Gräueltaten auf. Ihren Bericht sandte sie nach Moskau. Dort wurde er allerdings umgeschrieben. Die Opfer wurden als 'sowjetische Bürger' bezeichnet. Dass vor allem Juden ermordet worden waren, wurde verschleiert. Das 'Schwarzbuch' über den Genozid an den sowjetischen Juden, das Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg zwischen 1943 und 1947 zusammengestellt hatten und das mit einer Schilderung der Ereignisse von Babyn Jar einsetzt, durfte in der Sowjetunion nicht erscheinen. Im Land der Täter dauerte es bis 1967, ehe sich Mitglieder des Sonderkommandos für die Tötung von circa 60.000 Menschen verantworten mussten. Doch der sogenannte Callsen-Prozess, der wie der Frankfurter Auschwitz-Prozess maßgeblich vom Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vorangetrieben wurde, fand kein Interesse. Die Zuschauerbänke im Landgericht Darmstadt blieben meist leer. Die Zeugenaussage von Dina Proničeva, einer der wenigen Überlebenden des Massakers, erregte keine öffentliche Aufmerksamkeit. Dieses Schlüsseldokument zur Geschichte des Massakers vom April 1968 wird im vorliegenden Band zum ersten Mal publiziert. Die Verbrechen der Einsatzgruppen und der Polizeibataillone wurden seinerzeit beschwiegen."
Archiv: Osteuropa

HVG (Ungarn), 19.06.2021

Im Interview mit Farkas Zoltán spricht der Verfassungsrechtler Imre Vörös u.a. über den systematischen Verstoß der gegenwärtigen ungarischen Regierung gegen die eigene Verfassung durch das Regieren per Verordnungen. "In den Ausübungen all unserer Menschenrechte werden wir gegenwärtig eingeschränkt, vielleicht mit Ausnahme des Rechts auf Menschenwürde. Das kann nicht eingeschränkt werden. Obgleich dies auch nicht sicher ist, denn Obdachlose können eingesperrt werden. Das Wesentliche der außerordentlichen Rechtsordnung ist, dass sie allerlei Rechte einschränken kann, doch nur in Verbindung mit einer Gefahrensituation und lediglich auf beschränkte Zeit, mit dem Ziel, dass wir schnellstmöglich zum normalen Leben zurückkehren können. Aber es ist vollkommen absurd, dass man sich in Angelegenheiten vom normalen Gesetz entfernt, die mit der Gefahrensituation oder mit der Pandemie nichts zu tun haben, wie z.B. die Aberkennung des Semesters der Universität für Theater- und Filmkünste. Hierbei verstoßen ja die erlassenen Verordnungen gegen die gesetzliche Bestimmung. (...) Die wiederholte Verlängerung der Gefahrensituation (bezüglich Migration und Pandemie) zeigt gut, dass wir in einem Potemkin-Rechtsstaat leben: Bei Fußballspielen darf eine Masse von über fünfzigtausend Menschen zusammenkommen, bei Demonstrationen dürfen dies nicht mal fünfhundert tun."
Archiv: HVG

London Review of Books (UK), 21.06.2021

Wieder droht Äthiopien - diesmal unter der Regierung von Ministerpräsident Abiy Ahmeds "Wohlstandspartei" - eine Hungerkatastrophe, seit Monaten schon schlagen die Vereinten Nationen Alarm, berichtet Alex de Waal: Bereits Anfang des Jahres waren 4,5 Millionen Menschen in Tigray auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, von denen die Hilfsorganisationen aber nur rund zehn Prozent erreichen. Im Mai waren fünfzig Prozent der Kinder unterernährt. Und wieder benutzt die Regierung in Addis Abeba den Hunger als Waffe im Krieg gegen Tigray, macht de Waal klar: "Auch wenn es damals nur selten gesagt wurde, war die Hungersnot von 1984 nicht die Folge der Dürre: Das Aushungern war eine Strategie der Aufstandsbekämpfung. Äthiopiens Militärregierung bekämpfte unter der Führung von Mengistu Haile Mariam die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF). Die Tigrayer litten fürchterlich, aber ihre Wut auf Mengistu verstärkte nur noch ihre Entschlossenheit. Die TPLF errang 1991 einen militärischen Sieg und führte in den nächsten 27 Jahren als dominierende Kraft die Koalition der Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker. Ihre Herrschaft wird zu Recht kritisiert, vor allem wegen ihrer fehlenden demokratischen Institutionen, aber über eine Errungenschaft besteht kein Zweifel: Die Errichtung eines nationalen Systems zur Sicherung der Ernährung. Die Regierung ließ erodierte Hügel wieder aufrichten und kleine Dämme für bewässerte Gärten bauen, sie weitete Mikrokredite aus und installierte ein Sicherheitsnetz für Nahrung, Kredite und anderes, damit Kleinbauern auf ihrem Land bleiben konnten. Das System funktionierte 2015 und 2016, als Dürren und Ernteausfälle eine landesweite Ernährungskrise befürchten ließen. Die Regierung reagierte schnell und effektiv, mit einem Hilfsprogramm, das mehr als zehn Millionen Menschen erreichte, viele davon in Tigray, der für Trockenheit anfälligsten Region. Äthiopiens jährliches Wirtschaftswachstum von zehn Prozent verzeichnete eine kleine Delle, aber das Land entkam der größten Gefahr seit Jahrzehnten, ohne Menschenleben zu beklagen."

Deprimiert liest Stuart Jeffries den Briefwechsel zwischen Siegfried Kracauer und Theordo W. Adorno "Der Riss der Welt geht auch durch mich", der jetzt auch auf Englisch erscheint: "Eine traurige Lektüre: Zwei Holocaust-Überlebende, frühere Freunde und kurzzeitige Liebhaber klagen sich gegenseitig an für die unterschiedlichen Arten, auf die sie sich an eine feindliche Welt angepasst haben."

Unherd (UK), 22.06.2021

Wie umgehen mit Büchern, die einzelne Menschen als beleidigend empfinden könnten? Naimh Mulvey hat eine Idee: Verlage veröffentlichen ihre Romane künftig in zwei Versionen. "Die erste ist der Entwurf, der von der Autorin erstellt wurde, die nichts anderes im Kopf hatte, als eine gute Geschichte zu erzählen. Die zweite ist die Version, die durch den Filter von sensiblen Lesern gegangen ist, die alles entfernen, was von irgendeiner Gruppe als Beleidigung aufgefasst werden könnte. Auf diese Weise, denke ich, gewinnen alle: Diejenigen, die glauben, dass Literatur sich damit befassen sollte, wie Menschen wirklich sind - problematisch, beleidigend, unflätig - können darüber lesen und in deren Verdammnis schwelgen; und diejenigen, die glauben, dass Literatur uns höhere Ideale durch Charaktere zeigen sollte, die niemals fragwürdige Witze machen, können ihren sicheren, sauberen Spaß haben. Dieses Modell der doppelten Auflage hat den Vorteil, dass es Arbeitsplätze für die Heerscharen von Menschen schafft, die im Verlagswesen arbeiten wollen - und die Arbeit selbst dürfte für Absolventen, die darin geschult sind, Unsensibilitäten in Texten aufzuspüren, befriedigend sein. Natürlich wird es die Verlage Geld kosten, aber sie feiern im Moment meist Rekordgewinne, so dass sie es sich leisten können."
Archiv: Unherd

En attendant Nadeau (Frankreich), 16.06.2021

In Frankreich ist unter dem unauffälligen Titel "Historiciser le mal" eine kritische Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" herausgekommen. Der Übersetzer Olivier Mannoni spricht mit Santiago Artozqui über eine sehr spezielle Arbeit - und die Zusammenarbeit mit dem Herausgeber Florent Brayard. "Er ist ein angesehener Historiker, den ich vor allem durch sein bemerkenswertes Buch über Auschwitz ("Auschwitz, enquête sur un complot nazi", Seuil, 2012) kannte. Er hat mir gegenüber gleich klargestellt, dass er meine Arbeit demolieren wird. Er wollte keine Übersetzung nach den Regeln der Kunst, sondern eine Übertragung von Hitlers Text: einen Text, der so überladen, so 'verdreht' im Wortsinn, so schlecht geschrieben und gedacht - damit meine ich: so chaotisch in seiner Struktur - ist, wie das Original. Ich wusste sofort, dass ich das ablehnen muss: zwei Jahre Arbeit zerstören lassen, Hunderte von Stunden, die ich damit verbracht hatte, ein Gleichgewicht herzustellen, wenn auch ein wackliges, das war doch absurd. Und doch habe ich dann zugesagt, ohne eine Sekunde zu zögern. Was Florent Brayard von mir verlangte, war einsichtig, evident. Und ich habe die Prosa Hitlers dann hundertprozentig so wiedergegeben, wie sie war." Sonia Combe erzählt die Geschichte der kritischen Ausgabe.

Foreign Policy (USA), 15.06.2021

Justin Ling widerspricht  der jüngst u. a. in Vanity Fair und anderen Medien geäußerten These, der Erreger für COVID-19 könnte aus einem virologischen Labor in Wuhan stammen, auch wenn die Vorstellung neuerdings wieder Aufwind bekommt: "Bis heute gibt es nur wenige Studien, die die Idee des Laborlecks ernsthaft verteidigen. Dagegen gibt es zahlreiche glaubwürdige Studien, die auf den natürlichen Ursprung von COVID-19 verweisen. Eine umfassende Studie vom März 2020 in Nature Medicine ergab, dass 'SARS-CoV-2 kein Laborkonstrukt oder ein absichtlich manipuliertes Virus ist' … Am effektivsten an der Laborlecktheorie ist nicht die Qualität der Beweise, sondern ihre Quantität. In rasantem Tempo erscheinen Teile um Teile einer Theorie, die einander mitunter sogar widersprechen, bevor sie angemessen widerlegt oder auch nur diskutiert werden können … Nehmen wir den Bericht über kranke Labormitarbeiter: 'Was besagt es, dass drei Mitarbeiter eines großen Forschungslabors während der Grippesaison an grippeähnlichen Symptomen leiden?' fragt der Evolutionsvirologe Stephen Goldstein. Bissige Schlagzeilen, die vermerken, dass die Arbeiter ins Krankenhaus eingewiesen wurden, zerbröseln zu Staub, betrachtet man den Kontext. In China wird die Grundversorgung größtenteils in Krankenhäusern erbracht, nicht in Arztpraxen wie in den USA. Cheryl Rofer arbeitet 35 Jahre als Chemikerin am Los Alamos National Laboratory und ist auf Rüstungskontrolle spezialisiert. Jahrelang arbeitete sie in streng kontrollierten, streng geheimen Laboren mit Plutonium. 'Wenn diese Leute während der Arbeit an einem Waffenprogramm oder ähnlichem erkranken würden, würden sie nicht in ein Krankenhaus gehen', sagt sie. Selbst das Indiz der Nähe des Labors zum Ausbruch der Seuche ist ein schwaches. Es ist nicht sicher, dass Wuhan der Ursprungsort des Virus war, und nicht nur der Ort, an dem es zuerst entdeckt wurde. Wie bei SARS könnte das Virus Hunderte Kilometer entfernt entstanden und lange Zeit unbemerkt geblieben sein, selbst als es auf den Menschen übersprang."
Archiv: Foreign Policy

Intercept (USA), 19.06.2021

Auch Mara Hvistendahl bleibt skeptisch angesichts vorschneller Verurteilungen in der Diskussion um den Ursprung des SARS-CoV-2-Erregers. In einem Artikel des Magazins empfiehlt sie, sich an wissenschaftliche Beweise zu halten: "Bis vor kurzem hatte die Vorstellung, ein Virus könnte aus einem Labor entfleuchen, nichts mit politischen Überzeugungen zu tun. Das erste SARS-Virus ist gleich mehrmals aus Laboren entwichen - mindestens zweimal aus dem National Institute of Virology in Peking. Es wird angenommen, dass ein Ausbruch von H1N1 1977 in der Sowjetunion und in China von sowjetischen Wissenschaftlern verursacht wurde, die in einem Labor mit lebenden Viruserregern experimentierten. Bei einer Reihe führender amerikanischer Labors wurden ebenfalls erhebliche Sicherheitsverletzungen festgestellt, unter anderem beim CDC. Vor der Pandemie wurde in wissenschaftlichen Magazinen regelmäßig über solche Risiken berichtet. In einem Artikel aus dem Jahr 2017 über die Eröffnung des Wuhan Institute of Virology äußerte Nature Bedenken hinsichtlich der Sicherheit. Der Begriff eines Laborlecks wurde auch von Science zu Beginn der Covid-19-Pandemie in einem Artikel verbreitet, in dem auch ein natürlicher Spillover diskutiert wurde … Es gibt immer noch keine direkten Beweise für ein Laborleck, und viele Wissenschaftler sagen immer noch, dass ein natürlicher Ursprung wahrscheinlicher ist. Der wissenschaftliche Konsens hat sich nicht in Richtung eines Laborursprungs verschoben. Aber einige Experten mit Fachwissen und Agenda argumentieren, dass ein Laborleck die Pandemie verursacht hat, basta. Wir sollten Wissenschaft und Evidenz den Vortritt lassen und begreifen, dass Wissenschaft wie jede andere Disziplin von miteinander konkurrierenden Interessen geprägt ist."
Archiv: Intercept
Stichwörter: Coronavirus, Wuhan, Covid-19

New Statesman (UK), 18.06.2021

Im vorigen Jahr wanderte Tim Parks den Weg nach, auf dem Giuseppe Garibaldi 1849 vor den französischen Truppen aus Rom fliehen musste (unser Resümee). Jetzt ist sein Buch "The Hero's Way" erschienen, und Jeremy Cliffe fragt sich beim Lesen, ob der italienische Nationalheld, der auch in Südamerika und Frankreich für die Freiheit kämpfte, heute ein Bürger von Nirgendwo oder von Überall wäre? Garibaldi war ein Mann mit braunen Augen, von denen jeder dachte, sie wären blau, lernt Cliffe: "Wenn sein Vermächtnis heute uneindeutig erscheint, liegt das daran, dass er in seinem Idealismus pragmatisch war. Der Marsch von Rom - sowie sein Scheitern und das darauffolgende Exil - zeigten Garibaldi und seinen Mitstreitern, dass sie, wie Parks es fasst, 'alles Reden von sozialer Umwälzung und Republik beenden müssen'. Als Garibaldi elf Jahre später in Sizilien landete, tat er dies mit einer Dosis Realpolitik, er unterstützte die Bourgeoisie und die Monarchie aus dem nordwestlichen Piemont. Garibaldi war ein republikanischer Revolutionär, der einen Deal mit dem Establishment machte; ein nationalistischer Internationalist und ein bescheidener, zurückhaltender Mann, der zu einer Ikone einer überschwänglichen Nation wurde. In seine Fußstapfen zu treten, heißt solche Paradoxe auszuhalten."
Archiv: New Statesman

New York Times (USA), 21.06.2021

Eine Gruppe von Reportern hat zu "JFK8" recherchiert, dem größten Auslieferungslager von Amazon in New York, das in der Pandemie die halbe Stadt versorgte - und zugleich mit Personalproblemen zu kämpfen hatte. Amazon erscheint in der Reportage nicht ganz als der übliche Böse, wie man es aus hiesigen kritischen Berichten kennt. Dass die Leute bei Amazon kein Zuckerschlecken erwartet, wird nicht verschwiegen, aber ein größeres Problem ist für die Reporter, dass Amazon sozial nicht durchlässig ist: Bei Wal Mart schaffen doppelt so viele Ungelernte den Weg ins Management wie bei Amazon, und das hat mit dem sehr negativen Menschenbild Jeff Bezos' zu tun. Schlimm ist auch, dass bei Amazon sogar die Angestellten in der digitalen Hölle der Call Center verenden. Deutlich wird das an dem Fall von Dan Cavagnaro, der mit einem schwer an Covid erkrankten Kollegen gearbeitet hatte, Alberto Castillo. "Cavagnaro hatte eine Auszeit von Amazon genommen. Im Juni schlug er nach Einwilligung seines Arztes vor, wieder zur Arbeit zurückzukehren, aber er konnte in der Firma niemanden erreichen, um darüber zu diskutieren. Die Personalmanagment-Software von Amazon verzeichnete ihn dann als Schwänzer, und er bekam Abmahnungen. Da er keine Antwort bekam, schlug er irgendwann die Hände über dem Kopf zusammen und akzeptierte die Kündigung einfach. Nachdem die Times bei Amazon in dieser Sache nachfragte, bot ihm die Firma seinen Job wieder an."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Amazon

Elet es Irodalom (Ungarn), 18.06.2021

Im Interview mit Kácsor Zsolt spricht die Literaturhistorikerin Görgyi Földes über zeitgenössische ungarisch-jüdische Literatur. "Wenn sich die Frage darauf bezieht, ob es heute eine ungarisch-jüdische Lyrik gibt, dann ist die Antwort: unbedingt. Und wenn wir uns auf das Terrain der heutzutage wesentlich betonter betriebenen Prosa oder des Dramas begehen, dann hat die Sache tatsächlich einen großen Lauf. Wenn ich die Ergebnisse charakterisieren müsste, dann würde ich solche Schlüsselwörter nennen wie: jüdische Mystik; chassidische Tradition; Holocausterfahrung und nicht nur aus dem Holocaust stammende Traumata; das Thema der Identität; Judentum vermischt mit anderen Identitätserscheinungen, wie zum Beispiel das Gefühl des Fremdseins; manchmal eine soziologische Perspektive oder queere Fragen. Und all dies läuft sehr oft auf die tiefsten Fragen des Daseins hinaus."

Harper's Magazine (USA), 01.06.2021

Der Literaturdozent Barrett Swanson hebt seine großartige Reportage über eine Villa, in der Investoren TikTok-Influencern gratis Kost und Logis bieten, solange sie nur einträglich influencen, performen und skalieren, zwar nicht mit den ersten Zeilen aus Allen Ginsbergs "Howl" an ("I saw the best minds of my generation destroyed by madness"), aber hinter der Motivation zu diesem Trip steckt ein sehr ähnlicher Befund: Zum einen brechen immer mehr Studenten ihre College-Laufbahn ab, um sich lieber als Influencer zu versuchen, zum anderen neigen diejenigen, die am College bleiben, zu Depressionen, Zukunftsängsten. Derweil schießen die gesponserten Clubhouses und Villas, in denen die TikTok-Influencer vor sich hin werkeln, überall aus dem Boden: "Das Pooldeck blickt auf die gewellte Landschaft der Beverly Hills, mit den kirchturmartigen Spitzen der Pinienbäume in die Ferne geätzt. Es hätte alles den Anschein der Idylle, wären da nicht die giftigen Rauchkleckse von den Waldbränden, die Kalifornien einhüllen und dem Himmel die dräuende Anmutung eines Katastrophenfilms verleihen. Die Westküste steht in Flammen. 50.000 Amerikaner stecken sich pro Tag mit Covid-19 an und die Wirtschaft rückt immer näher an ihren steilen Absturz heran. Vor dieser apokalyptischen Kulisse wirkt es seltsam, diesen Kids dabei zuzusehen, wie sie herumhüpfen und -wirbeln. Wenn ich die Jungs frage, ob sie sich Sorgen um den Zustand der Nation machen, kratzen sie sich an der Nase und blicken von ihren Telefonen auf. 'Was. Nääh, Mann', sagt einer. 'Es wird doch jedes Jahr besser.' ... Diese Kids waren noch sehr jung, als ihre Eltern ihnen iPhones und Tablet in die Hand drückten. Sie kannten nie ein Selbst, das nicht einer anonymen, virtuellen Beobachtung gegenüber stand. So kann es durchaus sein, dass das, was auch immer wir in diesem Zusammenhang unter 'authentisch' verstehen, nicht der Standarddefinition entspricht, wie Rousseau und die Romantiker sie auffassten - ein wahrhaftiger Ausdruck der ungeschminkten Persönlichkeit -, sondern sie sind 'authentisch' in dem Sinne, dass ihre Identitäten geformt wurden in makelloser, unbewusster Sympathie für alles, was ihr Mob an Onlinefollowern für zuspruchsfähig und harmlos hält. Mehrere Male während meines Besuchs scheint es mir, als sehe ich den Preis, den sie dafür zahlen, in ihren Gesichtern aufschimmern - eine Art fahle Verzweiflung. Einmal kam Brandon zu mir und sagte: "Was wirklich Angst macht und viele von uns nachts umtreibt: Man weiß nie, wie lange es so bleiben wird. Also quasi: Was kommt als nächstes?"