Magazinrundschau

Radikale in Festanstellung

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
17.01.2023. Der New Yorker empfiehlt wärmstens John Guillorys Essayband "Professing Criticism", eine wahre Soziologie der Literaturkritik. In Novinky fragt die Schriftstellerin Zuzana Kultánová, wie die Tschechen die 90er erlebt haben - jenseits von Disko und Havel. Elet es Irodalom und HVG trauern um den Philosophen Gáspár Miklós Tamás und den Verleger Géza Morcsányi. La vie des idees betrachtet den Niedergang der israelischen Arbeiterpartei. Die New York Times begutachtet von KI-Art metabolisierte Filmstills, die den Glanz des Neuartigen verbreiten.

New Yorker (USA), 23.01.2023

Mit seinem Essayband "Professing Criticism" legt John Guillory eine wahre Soziologie der Literaturkritik vor, freut sich Merve Emre, auch wenn die Professionalisierung der Kritik eigentlich kein Anlass zur Freude sei, wie sie feststellt. Denn jede professionelle Formierung gehe einher mit einer Deformation. Mit jeder Ausbildung gehe das Wissen um die eigene Könnerschaft einher, verloren aber gehe der Sinn dafür, dass man die Welt auch auf andere Weise wahrnehmen könne. Die Akademisierung der Kritik sei besonders fatal: "Close Reading hat sich in viele Lesemethoden verzweigt - rhetorisches Lesen für die Dekonstruktivisten, symptomatisches Lesen für die Marxisten, reparatives Lesen für die Queer-Theoretiker - und gipfelte in dem, was als 'Methodenkrieg' bezeichnet wurde. Aber die Methodenkriege, so Guillory, bedeuteten in Wirklichkeit die Bereitschaft, sich mit 'überhaupt keiner Methode' zufrieden zu geben. Keine dieser Praktiken war in einem wissenschaftlichen Sinne reproduzierbar; kein Literaturwissenschaftler konnte versuchen, die Ergebnisse einer feministischen Kritik von 'Jane Eyre' zu bestätigen. Darüber hinaus interessierte sich die Kritik mehr für ihr eigenes Protokoll als für das, was Guillory 'das verbale Kunstwerk' nennt. Diskussionen darüber, wie ein Roman oder ein Gedicht funktionierte, waren weniger wertvoll als die historischen oder politischen Ereignisse, die sich darin manifestierten. Die Ziele der Kritik und der Wissenschaft gingen auseinander. Die letzte Phase in der Entwicklung der Kritik begann mit dem Aufstieg einer Figur, die Roger Kimball denkwürdig als 'Radikalen in Festanstellung' bezeichnete und die wir uns als 'akademischen Aktivisten' vorstellen könnten. Für sie bestand die eigentliche Aufgabe der Kritik darin, sich an sozialen Veränderungen außerhalb der Universität zu beteiligen. Der Kampf gegen die Ausbeutung könne geführt werden, indem man über Rassismus, Sexismus, Homophobie und Kolonialismus schreibe und dabei eine zunehmend verfeinerte Sprache des historischen Kontextes, der Identität und der Macht verwende. Literarische Artefakte (Gedichte, Romane und andere Spielereien der Eliten) könnten als Studienobjekte durch solche der Popkultur (Taylor Swift, Selfies und andere Spielereien der Massen) ersetzt werden."

Weiteres: Calvin Tomkins porträtiert die Künstlerin Tala Madani. Rebecca Mead liest Harry Windsors Erinnerungen.
Archiv: New Yorker

HVG (Ungarn), 16.01.2023

Am 15. Januar starb im Alter von 74 Jahren der im rumänischen Siebenbürgen geborene Philosoph Gáspár Miklós Tamás, einer der bedeutendsten und wohl letzten öffentlichen Intellektuellen Ungarns. András Hont, der mehr als zehn Jahre lang für HVG die Artikel von Tamás redigierte, erinnert sich an ihn: "Die Schaffenden, die jene Kultur, in die wir hineingewachsen waren, mit wer weiß welcher Farbprägung von einem Edelmetall dominierten, verlassen uns gerade. Jancsó, Makovecz, Esterházy, Zoltán Kocsis und jetzt Gáspár Miklós Tamás (zwischen den Geburtstagen des jüngsten und des ältesten liegen 30 Jahre und dennoch sind sie klar abgrenzbar gegenüber der Epoche von Illyés, Ottlik und Bibó). Sie waren gleichzeitig Erschaffer und Vermittler, unter letzterem verstehe ich, dass sie Beschützer einer vergangenen Bildung, ja Kultur waren. Zwar ist noch einigermaßen sichtbar, wer auf sie folgen könnte, es ist aber weniger sichtbar, wem die Neuen etwas übermitteln sollen. (…) Ich schrieb anfangs, dass ich nicht weiß, was genau vom Lebenswerk von TGM bleibt. Denn ich weiß nicht, wer ihn begreifen wird, und wer ihn überhaupt wird begreifen wollen."

Vor kurzem gab es noch ein Interview mit Gáspár Miklós Tamás, in dem er recht schwarz für die Zukunft Europas sieht: "Wo ich Faschismus sehe? Überall. Der Faschismus, insbesondere der Postfaschismus ist keine Diktatur im herkömmlichen Sinne. Er wird nicht vom Staat vollzogen, sondern von einer mit Gewalt und Ausgrenzung sympathisierenden Bevölkerung. Der Postfaschismus bringt diesen erschreckenden, irrationalen Schwung in die öffentliche Sphäre, dessen wichtigstes Element die Diskriminierung ist - siehe die Migration, siehe Genderfragen."

Der aus Siebenbürgen stammende Filmemacher Róbert Lakatos spricht im Interview über die Situation der ungarischen Filmemacher in Siebenbürgen: "Kinematografische Lehre gibt es hier, Filmproduktion nicht. Ein kleiner Teil der Filmstudenten bekommt irgendwelche Arbeiten bei den regionalen Medien, doch wir bilden vor allem Fachkräfte für Budapest aus. Ergo sind wir Provinz, mit jener Frustration und dem teilweise falschen Überlegenheitskomplex, dass wir wohl Potential hätten für ein eigenes kulturelles Zentrum, doch fehlt dazu leider sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Kraft. Tröstlich ist, dass rumänisch-ungarische Koproduktionen entstehen, in denen auch wir Siebenbürger Ungarn eine kleine Lücke für uns finden können. (…) Unsere kulturellen Tradition auch im Film zu nutzen ist für mich wichtig, so wie dies in der Musik Béla Bartók und Mihály Dersch taten. Das ist meine Welt. Der Film 'Wessen Hund bin ich?' war eine Ausnahme, denn ich war sehr frustriert angesichts des politischen Abgrunds vor uns. Mein jetziges Filmprojekt ist ein altes, doch ich musste damit warten bis die in Westeuropa herrschende Erwartungswelle, wonach der osteuropäische Film aktuelle gesellschaftliche Probleme aufzuarbeiten hat, schwächer wurde. Grob ausgedrückt war der Westen nicht an unseren kulturellen Traditionen interessiert, sondern an unserem Elend. Jetzt langweilt es sie hoffentlich, denn einige Beispiele zeigen, dass auch Filme, die kulturelle Traditionen thematisieren, Zugang finden."
Archiv: HVG

Spiegel (Deutschland), 16.01.2023

Eine Gruppe von Journalisten will ein Mietshaus in der Kreuzberger Oranienstraße an Investoren verkaufen, das es 1991 gekauft hatte: Schätzwert: 12 Millionen Euro. Es handelt sich um linke Journalistin wie die ehemalige Chefredakteurin der Berliner Zeitung, Brigitte Fehrle. Damals marode, wurde das Haus mit Mitteln des Senats renoviert. Es gab da so eine Formel für ehemalige Hausbesetzer, die aber versprechen mussten, im Haus wohnen zu bleiben, so Frauke Hunfeld im Spiegel. 85 Prozent der Renovierung wurde dann vom Senat bezahlt: "Von geplanten Gemeinschaftsräumen ist die Rede, von Flächen, die man zu kleinen Mieten Gruppen und Projekten zur Verfügung stellen wolle. Man wisse, so die künftigen Selbsthelfer in ihrer Projektbeschreibung, dass 'die Nachfrage gerade von sozialen Projekten nach preiswertem Gewerberaum riesengroß' sei. Um die 'Nahversorgung der Straße' will man sich ebenso kümmern. Für eine der Gewerbeeinheiten stellt man sich einen 'Bäcker vor, einen Gemüse- oder einen Milchladen'. Es klingt sozial, ambitioniert, fantastisch." Gemeinschaftsräume gibt's dann allerdings doch nicht, so Hunfeld: "Auch die gewünschte Hauswerkstatt wird nicht eingerichtet, und anscheinend bekommt kein soziales Projekt Platz zu günstigen Mieten." Und die Eigentümer wohnen zumeist nicht in dem Haus, obwohl sie das als "Selbsthilfegruppe" sollten, sondern montieren nur Klingelschilder mit ihren Namen an die Türen und vermieten unter der Hand.
Archiv: Spiegel

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 12.01.2023

David Ownby führt in die Diskussionen chinesischer Intellektueller ein, die durchaus lebhaft, wenn auch in einem eng gesteckten Rahmen vor allem drei Fragen diskutieren: Was ist Chinas Rolle in der Welt? Wie kann die Volksrepublik ihre eigene Geschichte begreifen? Und vor allem: Wie einzigartig ist China? "Auch die chinesische Neue Linke, die in den 2000er Jahren für einen gezähmten Kapitalismus und den Kampf gegen Ungleichheit eintrat, ist überzeugt von Chinas Einzigartigkeit. Laut Wang Hui oder Wang Shaoguang hat Chinas Aufstieg bewiesen, dass die angeblich 'universellen Werte' des Westens so universell nicht sind. Das Land verdanke seinen Erfolg vielmehr politischen Innovationen wie der 'reaktiven Demokratie' (die Staatspartei antwortet auf die Bedürfnisse des Volkes), die der durch Klientelismus, Feminismus und Multikulturalismus gelähmten 'repräsentativen Demokratie' des Westens überlegen sei. Dagegen habe China die 'Rolle des Staats' weiterentwickelt. Diese 'reaktive Demokratie' habe eine verblüffende Ähnlichkeit mit Mao Tse-tungs 'Massenlinie', entgegnen wiederum Liberale wie der Historiker Xu Jinlin und warnen: Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten auch Japan und Deutschland einen ganz ähnlichen Staatskult entwickelt, und das habe in Krieg und Niederlage geendet. Doch auch die Liberalen finden, dass China seine eigene Vision der Moderne entwickeln und damit zur Vielfalt der universellen Werte beitragen müsse. 'Die Zivilisationstradition Chinas ist nicht nationalistisch, sondern beruht vielmehr auf universellen und humanistischen Werten', schreibt Xu."

Novinky.cz (Tschechien), 13.01.2023

Štěpán Kučera unterhält sich mit der tschechischen Schriftstellerin und Trägerin des Jiří-Orten-Preises Zuzana Kultánová über die Ära der neunziger Jahre, in der auch ihr neuer Roman "Zpíváš, jako bys plakala" (Du singst, als würdest du weinen) spielt. "Die Revolution war zwar eine samtene, aber trotz allem eine Revolution", so Kultánová. "Mich überrascht, dass meine Generation nicht mehr darüber schreibt. (…) Mir scheint, der Blick auf die Neunziger bewegt sich immer zwischen zwei Extremen: Discoland und Havel. Aber das dazwischen fehlt. Viele Menschen haben die neuen Verhältnisse nicht verkraftet, und das spüren wir an der heutigen politischen Entwicklung. Wir müssen uns ernsthaft mit denen beschäftigen, die in den Internetforen schimpfen, dass sie vergeblich mit den Schlüsseln geklirrt haben." [Das Schlüsselgeklingel war fester Bestandteil der friedlichen Demonstrationen der Samtenen Revolution.] "In den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen gibt es Menschen, die alles verloren haben, die wütend sind, weil sie das Gefühl haben, dass keiner sie hört und sieht; und wir wissen nichts über sie - was sehr gefährlich ist. (…) Ich erinnere mich auch an gelegentliche Diskussionen meiner Eltern [nach der Wende] darüber, dass die sozialen Unterschiede nie zuvor so gravierend gewesen seien. Sie waren naiv - und folglich enttäuscht. Sie dachten, dass die Revolution irgendwie von selbst bewirkt, dass es ihnen besser geht. Und ich denke, dass es einer Menge Menschen in unserem Land so ergangen ist."
Archiv: Novinky.cz
Stichwörter: Kultanova, Zuzana, 1990er, Wende

La regle du jeu (Frankreich), 11.01.2023

Der postkoloniale Komiker Dieudonné hat sich in einem obskuren Fernsehsender und einer obskuren Zeitschrift bei den Juden entschuldigt. Marc Knobel glaubt ihm kein Wort. Allzu intensiv war Dieudonnés Abdriften in die rechtsextreme Szene. Zugleich zeigt Dieudonnés Fall, dass es vom einen zum anderen Extrem nur ein Schritt ist: Dieudonné, so Knobel, habe eine Strategie verfolgt, die etwa von Eric Marty, einem Literaturwissenschaftler an der Universität Paris-VII in Le Monde beschrieben worden sei: "In erster Linie will er den Juden die Eigenschaft als Opfer absprechen, indem er ihnen die Zeichen ihrer eigenen Henker zuschreibt; die Juden zu den Handwerkern des schwarzen Märtyrertums und der Sklaverei machen. Sich selbst dagegen will er als Opfer darstellen, indem er die 'Lynchjustiz' anprangert, der er ausgesetzt sei. Dieser Antisemitismus durchzieht auch radikale schwarze Bewegungen in den USA, die Black Panthers oder Nation of Islam mit ihrem Anführer Louis Farrakhan. Dieudonné versucht, eine sehr zersplitterte schwarze Gemeinschaft zu vereinen, deren Ressentiments gegenüber einer Republik, die ihre Versprechen nicht einhält, steigen. Für ihn sind die Schwarzen und Nordafrikaner die ersten Opfer des Rassismus. In einigen schwierigen Vorstädten ist ihm Erfolg garantiert. So durchdringt die Thematik des 'verdorbenen Mainstreams' seine Aufführungen."
Archiv: La regle du jeu

London Review of Books (UK), 16.01.2023

Deborah Friedell liest zwei Bücher über die amerikanische Starreporterin Dorothy Thompsons, die als eiserne Nazi-Gegnerin Hitler interviewte und jahrelang den Kriegseintritt der USA propagagierte, um am Ende ihre Sympathien für Deutschland zu entdecken und ihren Aversionen gegen Juden freien Lauf zu lassen - "wie ein gestrandetes Schiff, wenn die Wasser zurückgegangen sind". Doch 1934 war sie die berühmteste, meistgelesene - dank ihrer Kolumne für die Herald Tribune, die weltweit lizensiert wurde - Hitlergegnerin in der englischsprachigen Presse: "Diejenigen, die anderer Meinung waren als sie, waren 'Schwachköpfe', 'Feiglinge' und 'Strauße', 'Architekten des Zynismus', 'die Angst haben, aufzuwachen und zu leben'. Besonders verärgert war sie über den Nationalhelden Charles Lindbergh. Er war ihr 'lieb und teuer' gewesen, als er im Alleingang von New York nach Paris geflogen war; aber er hatte sich an die Spitze von Kundgebungen gesetzt, um das Neutralitätsgesetz gegen die 'britische und die jüdische Rasse' zu verteidigen, die 'unser Land in den Untergang führen' würden. Er war der von Thompson am meisten gefürchtete Amerikaner, 'Amerikas Sorgenkind Nummer eins', der schöne Mann, der, da war sie sich sicher, 'Amerikas Führer' werden wollte (wie er es in Philip Roths Roman 'Das Komplott gegen Amerika' tut). Seine Fans beschuldigten Thompson der Hysterie - die Angriffe gegen sie waren fast immer sexistisch. Eine Bemerkung (die Alice Roosevelt Longworth zugeschrieben wird) lautete, Thompson sei die 'einzige Frau in der Geschichte, die ihre Menopause in der Öffentlichkeit hat und dafür bezahlt wird'. Sie erhielt so viel Post, viele davon Hassbriefe, dass sie ihr mit speziellen Lastwagen zugestellt werden mussten; drei Sekretärinnen, die alle Madeline hießen, halfen ihr beim Sortieren der Briefe und übergaben die bedrohlichsten an das FBI. Vor dem Weißen Haus versuchte eine Gruppe von Frauen, sie symbolisch zu erhängen: Sie sagten, sie seien alle Mütter, und Thompson wolle 'das Leben von einer Million Jungen in Blut und Schmerz opfern'. Senatoren aus Idaho, Montana und North Dakota forderten, gegen sie als 'britische Agentin' zu ermitteln. Wie sonst lasse sich ihre Bemerkung während der Schlacht um Britannien erklären, dass 'wenn die Demokratie in Großbritannien untergeht, dann nicht, weil das britische Volk Hitler nicht mit allem, was es hatte, bekämpft hat, sondern weil ... die größte Demokratie und die größte freie Nation der Welt zugelassen hat, dass sie ohne angemessene Hilfe untergeht'?"

La vie des idees (Frankreich), 11.01.2023

Die israelische Arbeiterpartei hatte einmal 35,7 Prozent und charismatische Ministerpräsidenten wie David Ben Gurion, Golda Meïr, Yitzhak Rabin oder Schimon Peres, und ist in den letzten Wahlen auf 3,69 Prozent herabgesunken, gerade mal über die Dreiprozentschwelle, die es erlaubt, in die Knesset einzuziehen. Denis Charbit bespricht zwei nicht mehr ganz neue Bücher, die den Niedergang der isaelischen Linken ergründen, Steve Jourdins "Israël - autopsie d'une gauche (1905-1995), und Thomas Vescovis "L'Echec d'une utopie - une histoire des gauches en Israël". Charbit neigt mehr zu Jourdins differenzierter, melancholischer Darstellung. "Jourdin setzt mit der Ermordung von Yitzhak Rabin einen Schlusspunkt unter seine Geschichte. Der Todesstoß für den Friedensprozess lag jedoch weniger im Verschwinden dieses politischen Führers (die Mehrheit der Israelis war bereit, ihm auf seinem Weg zum Frieden zu folgen) als vielmehr im wachsenden Zweifel an den Zielen des palästinensischen Nationalismus infolge der zweiten Intifada, des Rückzugs aus dem Gazastreifen und des zweiten Libanonkriegs. Gleichzeitig zweifelten die Palästinenser an der israelischen Absicht, sich nach dem ersten Schritt, der Auflösung des Gazastreifens, aus dem Westjordanland zurückzuziehen. Paradoxerweise sieht Vescovi dort, wo Jourdin die Todesnachricht registriert, ohne irgendeine Aussicht auf eine Wiedergeburt zuzulassen, in der Bildung einer jüdisch-arabischen Linksfront den einzigen Ausweg aus diesem historischen Niedergang. Mehrere Initiativen sprechen für diese Neuzusammensetzung".

Elet es Irodalom (Ungarn), 13.01.2023

Am 4. Januar starb im Alter von siebzig Jahren der ehemalige Verleger, Übersetzer und Dramaturg Géza Morcsányi. Morcsányi spielte u.a. im Film "On Body and Soul" von Ildikó Enyedi mit, der 2007 bei der 67. Berlinale mit dem Golden Bären ausgezeichnet worden war. Der Schriftsteller László Darvasi erinnert sich an den legendären Verleger von Magvető, der es schaffte, die bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller im Haus zu halten. "Die Schriftsteller, also wir, denken an ihn als Individuum, als Persönlichkeit - als Vater, als Bruder, als guten Freund, als netten Bekannten -, die Abwesenheit seiner Person zeigt sich als Leere in unserem Gesicht. Er hingegen dachte offensichtlich im Team. Das haben seine Autoren, die auf ihn als persönliches Geschenk zählten, nicht wirklich so gesehen - abgesehen von einigen gewieften Ausnahmen wie Esterházy. Seine Absicht, 'den besten Zoo' zusammenzustellen, kann auf seine Theatererfahrungen zurückgeführt werden. Die Verlagsarbeit betrachtete er stets als imponierende und permanente Regieführung, das Leben eines Verlags, die Anerkennung seiner gehegten Pflanzen auf dem Markt war eigentlich eine nie endende Inszenierung. Für die Aufrechterhaltung der Qualität bedarf es unzählige Faktoren. Manchmal kann ein Elefant über die Bühne donnern, und wir merken es nicht einmal. Ein anderes Mal fällt das ganze Gebäude vom Quieken einer Maus zusammen. Wer für die Familie verantwortlich ist: der verdeckt stehende Gott. Vielleicht ist es eine Übertreibung, doch wenn es nicht so wäre, wäre die gesamte ungarische Kultur, der er auch als Übersetzer angehörte, von seinem frühen Todes nicht derart erschüttert."

New York Times (USA), 13.01.2023

Unerhörte Retro-SciFi-Helme: "Tron" in der nie gedrehten und auch nie geplanten Version von Alejandro Jodorowsky, konzipiert von Johnny Darrell mit der K.I.-Software Midjourney.

Mit niemals realisierten Filmen kennt sich Frank Pavich aus: 2013 drehte er einen Dokumentarfilm über Alejandro Jodorowskys größenwahnsinnig konzipierte, aber letzten Endes nie umgesetzte Adaption von Frank Herberts Science-Fiction-Klassiker "Dune". Von daher ist Pavich wohl der richtige Mann, um auf einen populären Trend innerhalb der sich explosionsartig verzweigenden A.I. Art zu blicken: annähernd fotorealistische, anhand bloßer Textanweisungen und einen endlosen Schatz an Bildarchiven realisierte Stills aus imaginären Filmen - wie etwa eine von Alejandro Jodorowsky gedrehte Version des Cyberkino-Klassikers "Tron" aus den Achtzigern. Ein mit der Software Midjourney erstellte Filmgalerie lädt zum "Was wenn"-Träumen ein. "Ich versuche immer noch, meinen Verstand darum zu wickeln. Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen der Art und Weise, wie Alejandro Jodorowskys Arbeiten von nachfolgenden Filmemachern aufgenommen und referenziert wurde und wie seine Arbeit von Computerprogrammen einverleibt und metabolisiert wurden. Aber das ist nicht dasselbe. Eigentlich möchte ich sagen, dass Einfluss und Algorithmus nicht dasselbe sind. Aber kann ich mir da so sicher sein? ... Einerseits kredenzt die Software uns eine Art turbo-aufgeladenes Pastiche. Und dennoch steckt in dieser Imitation etwas vom Glanz des Neuartigen. Ihr glückt eine der wichtigsten Aufgaben des Filmemachens: die Leute in eine andere Zeit, in eine andere Welt zu versetzen. Wären Künstliche Intelligenzen bei den Oscars zugelassen, würde ich meine Stimme 'Jodorowskys Tron' in der Kategorie 'bestes A.I.-Kostümdesign' abgeben und zwar schon alleine deshalb, weil sie sich solche unerhörten Retro-SciFi-Hüte und -Helme erträumt hat." Aber "was wird es bedeuten, wenn Filmemacher, Produktionsdesigner und Filmstudenten mit ihren Imaginationen sehen können, wenn sie mit all dem digital archivierten, visuellen Material der menschlichen Zivilisationen malen können? Wenn unsere Kultur von Szenen, Sets und Bildern von alten Filmen beeinflusst wird, die es nie gegeben hat oder die noch nicht ausgedacht wurden? Ich habe da so ein Gefühl, dass es wir es bald herausfinden werden."

Der Newsletter Good Internet hat hier, dort und da drei großartige Sammel-Dossiers mit Links zu weiteren solcher Filmgalerien. Viel Spaß beim Stöbern - es lohnt sich!
Archiv: New York Times