Vorgeblättert

Leseprobe zu Francois Walter: Katastrophen. Teil 2

15.03.2010.
(S. 116 ff)

5. Geißel Gottes oder Plage der Natur?

Die Analyse der Naturkatastrophen entzieht sich offenbar jeder metaphysischen Zwangsjacke. Die Geschichte der Disziplinen, die sich mit dem Werden von Erde und Menschen befassen, zeichnet in vielen Einzelschritten die allmähliche Emanzipation der Erkenntnis nach. Dieser Entwicklung soll - nur zur Erinnerung - eine kurze Bemerkung gewidmet werden. So bringt der Begründer der modernen universitären Geographie, Carl Ritter (1789-1859), das rationale Deutungsmuster zur Vollendung, indem er auf wissenschaftlicher Ebene das Ende der Beziehungen zwischen Theologie und geographischer Forschung markiert. Denn der Mensch verfügt seiner Meinung nach über eine Reihe von Möglichkeiten. Die Oberfläche der Erde sei für sein Handeln geradezu prädestiniert. Damit weist seine These über den platten Mechanismus der Physikotheologen des 18.Jahrhunderts hinaus, insofern als dem Menschen die Freiheit überlassen bleibt, die Naturgegebenheiten zu seinem Besten zu nutzen. Diese Infragestellung der physikotheologischen Tradition führt zwar zu einer Verarmung der Naturwahrnehmung. Als Ausgleich dafür wird jedoch einer Ästhetisierung der Naturphänomene der Weg geebnet, namentlich im Begriff des Erhabenen. Diese Entwicklung ermöglicht das Verständnis von Landschaft, die um ihrer selbst willen und nicht mehr als Offenbarung des Göttlichen geheiligt wird.(45) Diese erneute Heiligung der Natur vollzieht sich jenseits göttlicher Transzendenz. Beide Vorstellungen (von der Vorsehung auferlegte Vergeltungsmaßnahme zum einen und Erklärung aus der säkularisierten bzw. auf andere Weise erneut sakralisierten Natur zum anderen) bestehen nun weiterhin nebeneinander, ohne des_wegen widersprüchlich zu erscheinen.


5.1 Was ist nur aus der Vernunft geworden?

Nach Lissabon verzeichnet das 18. Jahrhundert einen deutlichen Rückgang religiöser Gesten. Aber die Kultur bleibt christlich, und dissonante Töne sind Randerscheinungen. Das 19. Jahrhundert ist diesbezüglich von einer eher pragmatischen Haltung geprägt. Die religiösen Traditionen sind unterschiedlich gewichtet mit stärkeren Widerständen in der religiösen Kultur, die dem Pietismus und dem Katholizismus nahesteht.(46) Vor allem die katholische Kirche bündelt die Kritik der sogenannten aufgeklärten Geister, die, kirchenfern oder innerhalb der kirchlichen Hierarchie, gegen jede Form abergläubischer Praktiken einen erbitterten Kampf führen. 1789 scheut ein Prälat nicht vor der Äußerung zurück, man solle, anstatt in eiskalten Kirchen zusätzliche Gottesdienste abzuhalten, bei denen die armen Leute nur noch stärker frieren, lieber Brennmaterial sammeln, um es an die zu verteilen, die es dringend benötigten.(47) Die tatkräftige, öffentliche Hilfeleistung, die man den Opfern zuteil werden lässt, erfährt gegenüber Bußtagen und Predigten eine deutliche Aufwertung. Diese Argumentationsweise ebnet, auch wenn es offenbar geleugnet wird, einer neuen gesellschaftlichen Dimension von Verantwortung den Weg. In der Tat ist der wesentlichste Vorwurf, den man der Vorsehungstheorie machen kann, dass sie resignative und passive Verhaltensweisen hervorbringt, während eine rationale Betrachtung der Naturerscheinungen die verantwortungsvolle Tat voraussetzt, die die Folgen der Verwundbarkeit zu lindern sucht. Beide Ansätze können miteinander in Konflikt geraten, wie Forschungen zum Ätnaausbruch belegen, die zahlreiche Berichte über Sühneprozessionen dem weitgehenden Fehlen von Dokumenten gegenüberstellen, die konkrete Versuche betreffen, die strömende Lava aufzuhalten, gelten derartige Bemühungen doch als gotteslästerlich.(48)
     Im allgemeinen bleiben die religiösen Bezüge erhalten, können aber als reine Rhetorik weiter fungieren. In diesem Sinne ist die Definition des Begriffs "fleau" (Plage, Geißel) in der Encyclopedie zu verstehen, die auf den metaphorischen Charakter beim Bezug auf das göttliche Handeln verweist: "Dieser Begriff wird im übertragenen Sinne gebraucht für alle großen Unglücksfälle, die es der göttlichen Vorsehung gefällt, dem Menschengeschlecht aufzuerlegen. So sind Pest, Hungersnot, Überschwemmungen, schlechte Fürsten usw. "Geißeln (Plagen)" Gottes.(49) Ganz allmählich vollzieht sich im Wortschatz durch die Attribute, die diesen Wörtern zugeordnet werden, eine Bedeutungsverschiebung: Es heißt nicht mehr Geißel Gottes, sondern "Geißel der Natur", nicht mehr das Wüten Gottes, sondern "ein wütender Kampf der Elemente".(50) Offen bleibt die Frage, ob die alte Unterscheidung zwischen primären und sekundären Ursachen noch brauchbar ist und ob diese Begriffe zum Erfassen der Ereignisse ausreichen. Wenn die Schriften der Gebildeten auch in Richtung einer Säkularisierung der Wahrnehmung gehen, muss man sich hüten, zu stark zu verallgemeinern. Das traditionelle Deutungsmuster bleibt in den jeweiligen Arten, die Welt zu denken, bei der großen Mehrheit der Menschen offensichtlich nach wie vor tief verankert.(51)
     Vom 18. Jahrhundert an suchen die Gebildeten, den Gedanken der Strafe zurückzudrängen, um die Katastrophen unter einem positiveren Blickwinkel zu analysieren. Gott bediene sich ihrer, um den Menschen seine Macht zu zeigen. Außergewöhnliche Naturerscheinungen seien durchaus erklärbar, sie seien aber dazu bestimmt, die Menschen zu Gott zu bekehren, damit sie die Güte und Macht ihres Schöpfers anerkennen.52 In seiner Predigt vom 30. März 1783, die er nach einem Erdbeben in Süditalien gehalten hat, nutzt Johann Caspar Lavater (1741-1801) die Situation für apologetische Zwecke und erklärt, dass sich derartige Ereignisse für einen vernünftig denkenden Menschen nicht ausschließlich als Naturphänomene interpretieren lassen. Nach Lissabon war dieses Beben in jenem Jahrhundert das stärkste. In Kalabrien wurden wahrscheinlich 400 Dörfer zerstört, und es hat etwa 30000 bis 50000 Opfer gefordert. Nach Ansicht des Pastors gibt es zum Begreifen dieses Ereignisses als Vergegenwärtigung der Allmacht Gottes keine Alternative. Die Katastrophe soll die Zuhörer zum Nachdenken über ihre eigene Zerbrechlichkeit und ihren eigenen Tod bewegen. Sie sei eine Warnung für die Ungläubigen. Jeder möge sich selbst als Überlebenden sehen, dem für Reue und Umkehr noch Zeit bleibe. Tragische Ereignisse seien als Rute Gottes anzusehen, die uns mahne, von der Sünde abzulassen.(53) Ähnliche Töne schlägt Yves-Michel Marchais an, ein Pfarrer aus dem Anjou: "Ich will es gerne glauben und räume freimütig ein, in dieser traurigen Katastrophe, d.h. Zerstörung, mag es geben, was man physische Gründe oder natürliche Ursachen nennt, zumal diese Provinz eine jener ist, die man als meridional bezeichnet, was bedeutet, der größten Hitze der Sonne in ihrem Zenith ausgesetzt, und deren Boden oder Erde viele Anteile an Schwefel, Teer und anderen brennbaren oder leicht entzündlichen Stoffen besitzt, die derlei Unfälle auslösen können. Doch ich glaube darum nicht weniger und wage zu behaupten, dass Gott, der stets alles in seinen Händen hält, der nach seiner Willkür über Ursachen wie Wirkungen verfügt, und der, wie der Pfarrer kategorisch äußert, mit allen Dingen dieser Welt sein Spiel treibt (ludens in orbe terrarum), dieses schreckliche Ereignis erlauben konnte, das so ganz aus der Art fällt, ich meine aus dem Lauf und Rang aller anderen, damit wir ihn fürchten und anbeten. So mochte er einige Schuldige treffen, um die anderen zu belehren und seiner Gerechtigkeit manch Opfer darbringen, damit wir seine Barmherzigkeit anrufen."(54)
     Abbe Nicolas-Sylvestre Bergier, ein berühmter Apologet, der seinen Ruf in Philosophie von den 1760er Jahren an gefestigt hat, ist Verfasser eines Dictionnaire de theologie, eines Kompilationswerks, das Charles-Joseph Panckoucke für die Encyclopedie methodique in Auftrag gegeben hat und das seit seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1788 mehrmals aufgelegt worden ist. Es stellt eine Quelle dar, die insbesondere die "fortschrittlichen" Positionen der katholischen Kirche zu zahlreichen Fragen wiedergibt. Seine acht Bände enthalten zu calamite, catastrophe, fleau oder tremblement de terre keinen Eintrag. Im Artikel amulette greift der Abbe die protestantische Lehre an, die die Praxis, gesegnete Gegenstände am Körper zu tragen (Reliquien, Kreuze, Bilder), als Aberglauben abstempelt. Er räumt ein, dass es schwierig ist, dem Volk den wahrhaften Geist dieser Zeichen zu vermitteln, die gleichsam stumme Gebete darstellten. Nicht das Kreuz als solches verleihe Schutz - Kruzifixe an Wegkreuzungen oder auf Berggipfeln seien in erster Linie Wegmarkierungen -, aber ein Kruzifix sei allenfalls besser als ein Sternbild, denn die Astrologie sei eine "falsche und absurde Wissenschaft".(55) "Sollten die Irrtümer des Volkes schon unvermeidlich sein, so ist es besser, wenn sie sich an achtbaren Dingen vergreifen als an absurden und hassenswerten [?]."(56) An späterer Stelle erinnert er daran, dass die Kirche auf Zettel geschriebene oder in Medaillons eingravierte Worte, die vor Krankheiten schützen sollen, geächtet hat.(57) Im Artikel demon wird die Größe der Macht Gottes aufschlussreich erläutert: "Es ist Gottes nicht weniger würdig, die Sünder zu bestrafen oder die Gerechten durch Teufelswerk auf die Probe zu stellen, als dies durch die Geißeln der Natur zu tun. Im allgemeinen reicht das Licht der Philosophie nicht aus, um zu erkennen, was Gott erlauben kann und was nicht; es ist an ihm, uns wissen zu lassen, was er tut und was wir zu glauben haben."(58) Im Artikel prodige ("Wunder") nutzt der Autor die Gelegenheit, deutlich zu machen, dass die angeblich außergewöhnlichen Ereignisse in Wirklichkeit auf "natürliche Tatsachen" zurückführbar seien. Sie hätten "heute nichts Erschreckendes mehr an sich, seit eine gelehrte Theorie ihre Ursache aufgedeckt hat; früher aber hat man sie immer als Zeichen des himmlischen Zorns angesehen, die ein außergewöhnliches Unglück ankündigten", und Abbe Bergier muss eingestehen: "Das glaubt das Volk bis heute."(59) Deshalb "haben sich die Völker, immer wenn ihnen große Missgeschicke widerfuhren, eingebildet, diese kündigten das Weltende an".(60) Die Lektüre mehrerer Artikel dieses Apologeten vermittelt dem Leser eine kohärente Theorie der göttlichen Vorsehung. Das Leiden sei eine von Gott auferlegte Züchtigung, dazu bestimmt, den Menschen zu bessern, doch nicht immer würden Verbrechen bestraft und die Tugend belohnt: "Der Gerechtigkeit Gottes tut es keinen Abbruch, wenn er bei einer allgemeinen Plage gleichermaßen Unschuldige wie Schuldige trifft, Kinder und Erwachsene, denn er kann seine Geschöpfe für die zeitlichen Leiden in diesem Leben immer im anderen Leben entschädigen."(61) Der Abbe warnt allerdings vor übertriebenem Naturalismus, der Notwendigkeit und Zufall als Gegensätze begreife, anstatt die Ereignisse der Vorsehung zuzuschreiben: "Wenn der Wind einen Ton- oder Schieferziegel auf mich herabfallen lässt, so ist das ein Zufall, obwohl ich den Grund sehr wohl kenne, aber diese Ursache hat nicht überlegt gehandelt, und ich habe in diesem Augenblick selbst nicht vorausgesehen, dass sie so handeln würde. Wenn es keinen Gott gibt, der das Universum regiert, ist alles nur Wirkung des Zufalls."(62) Und er fügt hinzu: "Es ist für den Menschen sicher tröstlicher, das ihm widerfahrende Gute und Böse Gott zuzuschreiben, als einem launischen oder gar blinden Schicksal diese Ehre zu erweisen."(63) Der Glaube an die Vorsehung führt seiner Meinung nach dazu, Voraussicht, Vorsorge und Klugheit walten zu lassen.
     In Frankreich ist auf dem Lande die Praxis ritueller Kämpfe gegen den Teufel, der in den Lüften wohne und sich gerne durch Meteore bemerkbar mache, im 19. Jahrhundert überall belegt. Dämonen verbreiteten Pestilenz und Tierseuchen, bewirkten Ungezieferbefall und riefen Überschwemmungen hervor. Wie Alain Corbin nachgewiesen hat, bleibt der Einsatz von Glockengeläut zur Vertreibung von Unwettern und zur Zerstreuung schädlicher Wolken in dörflichen Gemeinden ungebrochen erhalten. Die Läuteordnung weist den Glockenspieler an, bei Gewitter alle Glocken ertönen zu lassen, wobei sich die Bewohner bei Bedarf abwechseln sollen, um diesen Dienst abzusichern. Sie fürchten nicht, damit den Anweisungen der Bischöfe zuwiderzuhandeln, die sich als aufgeklärt verstehen und bereits im 18. Jahrhundert vergeblich versuchten, abergläubischen Praktiken Einhalt zu gebieten. Noch Ende des 19. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Zeugnisse, die vom Glauben an die schützende Wirkung der Glocken berichten. Beim Gießen einer neuen großen Glocke, versäumt man es selten, gebräuchliche Formeln wie "fugo fulmina" (ich vertreibe die Gewitter) oder "daemones fugo" (ich vertreibe die Dämonen) einzugravieren.(64)
     Indem sie sich bemühen, das, was sie als volkstümliche Abweichungen betrachten, zurückzudrängen, dadurch dass sie manchmal andere Glaubensvorstellungen für sich vereinnahmen, wie z.B. die, dass Gott sich mittels Donner offenbare, um die Dämonen zu bekämpfen, tragen kirchliche Obrigkeiten zur Geringschätzung des Heiligen bei. Im allgemeinen suchen die Unterrichtswerke katholischer oder protestantischer Provenienz um die Wende zum 19. Jahrhundert jedoch wissenschaftliche Erklärungen zu verbreiten, um volkstümliche Glaubensvorstellungen zurückzudrängen.(65) Bei den in naturwissenschaftlichen Schulbüchern gegebenen Erklärungen greifen allerdings Theologie und Wissenschaft weiterhin ineinander, um Aberglauben und Heidentum zu bekämpfen. So heißt es 1827 in einer pädagogischen Zeitschrift, dass "nie etwas unordentliches, die gesetzliche Ordnung Gottes aufhebendes, und daher seine Macht beschränkendes in der ganzen Natur erfolgen könne".(66) Mit anderen Worten, man müsse auf die göttliche Weisheit vertrauen, Zauberkräfte, wie sie Hexen auf Besen, Menschen mit dem bösen Blick, Überträgern von Menschen- und Tierkrankheiten kraft gesprochener oder geschriebener Worte zugeschrieben würden, seien samt und sonders nichts als Täuschung. Vom Ende des 18. Jahrhunderts an erinnert der Diskurs zur Erklärung von Phänomenen wie Blitz und Donner daran, dass Gott seinen Zorn und seine Macht keineswegs mittels Gewittern offenbare; man müsse vielmehr deren wohltuende Eigenschaften (Regen, Reinigung des Himmels usw.) erkennen, um die Ängste zu vertreiben. Eine Kodierung der Gewitter als Ausdruck der göttlichen Liebe ist notwendig, um sie anschließend "mittels Naturwissenschaft und praktikabler Schutzvorrichtungen" zu dekodieren und sich so zu verhalten, dass man sich vor Blitz wirksam schützt. Fortan haben Hexen im spektakulären Walten der Naturkräfte nichts mehr zu suchen, doch es empfiehlt sich, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, beispielsweise sich nicht unter einem Baum unterzustellen. Schenkt man den genannten Schriften Glauben, beeinflusst das Werk des Teufels, wenn er sich schon an den Naturgewalten nicht gütlich tun kann, jedoch durchaus das menschliche Verhalten.

Teil 3