Magazinrundschau

Ein antisentimentales Lachen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
08.08.2017. Die Amerikaner haben viel zu oft freudlosen Sex, schuld daran sind die religiösen Prinzipien der Verfassungsrichter, glaubt die New York Review of Books. In Eurozine will Slavenka Drakulic ein österreichisches Fischstäbchen. In der London Review nimmt John Lanchester Facebook aufs Korn. Slate erteilt eine Lektion über den Rassismus der Antirassisten. Und in Film Comment erweckt Mario Adorf seinen inneren Jackie Chan.

New York Review of Books (USA), 17.08.2017

Im aktuellen Heft der New York Review of Books erfährt Annette Gordon-Reed, woher die Amerikaner ihr verkrampftes Verhältnis zum Sex haben, vom Christentum nämlich. Geoffrey R. Stones Buch 'Sex and the Constitution' klärt sie auf: "Das amerikanische Verständnis von Sex ist über Jahrhunderte von religiösen, namentlich christlichen Überzeugungen von Sex, Sünde und Scham geprägt worden. Diese Geschichte, so Stone, wirft eine irritierende Frage für die Praxis des Verfassungsrechts auf. Jahrelang haben sich Gerichte in Sachen Sex an christlichen Traditionen orientiert, obwohl die Trennung von Kirche und Staat gilt. Bei den Themen sexuelle Orientierung, Abtreibung, Verhütung, Pornografie haben Richter immer wieder religiöse Prinzipien in ein säkulares Gewand gekleidet, und zwar, indem sie zwischen ihren moralischen und den religiösen Ansichten unterschieden. Kenntnisreich über mehrere Jahrhunderte amerikanischer Rechtssprechung in Sachen Sex schreibend, zeigt Stone, dass die Linie zwischen moralischer und religiöser Argumentation eigentlich immer illusorisch war, da Gesetzgebung und Richter sich auf religiöse Überzeugungen beriefen, um zu entscheiden, was moralisch und richtig für alle Bürger und was legal, was illegal war. Das Christentum als dominante Religion war der Quell für moralische Doktrin. Diese Vorstellungen, glaubt Stone, sind so tief in der US-amerikanischen Kultur verankert, dass man zum Beginn des Christentums zurückgehen muss, um amerikanische Haltungen zum Thema Sex verstehen zu können … In einem Überblick über das Verständnis von Sex in der Antike macht Stone die frühen Christen dafür verantwortlich, dem Sex jeden Spaß genommen zu haben."

Aktualne (Tschechien), 04.08.2017

Jaromír Nohavica, einer der größten tschechischen Liedermacher, ist einer, der in schwierigen Zeiten mit seinen menschlich klugen und ironischen Liedern Mut machte und auch in den letzten Jahrzehnten populär blieb. Umso ernüchternder für seine Fans sind neuere Berichte der Lidové noviny, dass Nohavica in den Achtzigern wiederholt der tschechischen Stasi Informationen aus Dissidentenkreisen übermittelt habe. Luděk Navara meint dazu: "Vielleicht ist das der Irrtum: Wir erwarten, dass der, der uns aus der Seele spricht, der mit Worten zu verzaubern vermag, auch all unsere Gefühle teilen wird. Aber was ist, wenn er uns nur scheinbar aus der Seele spricht? Wenn er die Worte und die Musik nur für sich selbst komponieren kann? Und überhaupt - erwarten wir womöglich von unseren Liedermachern, Schriftstellern und anderen Künstlern so viel mehr, als möglich ist? War es bei den Tschechen nicht immer so? Dass sie ihren Künstlern auch in dem vertrauten, was gar keine Kunst war, und deshalb zwangsläufig enttäuscht werden mussten?" Und Navara nennt die Beispiele von Karel Sabina, Milan Kundera, Pavel Kohout. "Jaromír Nohavicas Geschichte ist ein erstaunliches, nicht leicht zu verstehendes Lied, das sein bisheriges Schaffen nur ergänzt. Vielleicht sagen aber auch all diese Lieder (einschließlich seiner eigenen Biografie) etwas über uns selbst aus. Darüber, wie wir gelebt haben, wie wir leben und was wir für richtig halten. Und mit seinem Leben und Werk zwingt Nohavica uns, darüber nachzudenken, das ist alles."


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Paris Review (USA), 07.08.2017

Billy Bragg, der Veteran unter Englands Protestbarden, hat ein Buch über Skiffle geschrieben. Im Interview plaudert er über die Gitarre im britischen Nachkriegspop, den Einfluss von Lonnie Donegan, und den Wandel von Jugendkultur: "In England markiert Skiffle den Beginn von Musik als kulturelle Avantgarde der Jugend. Das gibt es ja heute so nicht mehr. Diese Rolle hat Musik verloren. Heute macht man das anders. Wenn man wütend ist oder sich mit einem Menschen oder einer Sache identifizieren will, dann braucht man nicht mehr das Album zu kaufen oder sich wie sein Held kleiden, man ist kein Mod oder Ted mehr, kein Rocker oder Punk. Heute macht man das mit seinem Profil in den sozialen Medien. Natürlich gibt es aber immer noch Leute da draußen, die mit ihrer Musik eine Kante zeigen, für die Musik noch der wichtigste Weg ist, etwas mitzuteilen. Aber sie sind so marginalisiert wie es Leadbelly war. Bei uns sind das die Grime-Musiker -  junge, urbane Schwarze - , die HipHop und jamaikanischen Dancehall mixen. Das waren übrigens die einzigen, die sich bei den Wahlen für Jeremy Corbyn ausgesprochen haben. Mit vielleicht zwei oder drei Ausnahmen wie mich und die anderen üblichen Verdächtigen, die das sowieso immer tun."
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Eurozine (Österreich), 04.08.2017

Etwas traurig lesen sich Slavenka Drakulics Meditationen über den Mauerfall und was danach kam (geschrieben für eine Jubiläumsnummer von Transit, auf Deutsch noch gar nicht erschienen, auf Englisch bei Eurozine). Als Osteuropäer "in der Peripherie zu leben und aus einer anderen Zeit zu kommen, macht einen einfach zu einem Europäer zweiter Klasse. So wie die Weichspüler oder die Dosennahrung im Supermarkt. Oder die Fischstäbchen. Sie sehen genau so aus und heißen auch genau so, aber für die Österreicher enthalten sie 65 Prozent Fischfleisch, für die Slowaken nur 58 Prozent. Man nennt es Anpassung an den Markt. Internationale Marken, die nun auch in unseren Ländern verfügbar sind, benutzen entweder andere Zutaten oder weniger von den selben Zutaten: Die Produkte haben geringere Qualität. Slowakische Forscher haben vor kurzem herausgefunden, dass das im Vergleich mit Österreich für etwa die Hälfte der Produkte gilt. Es fühlt sich wie eine Ohrfeige an, aber es ist auch eine gute Metapher."

Hannah Arendt war für die EU - und das trotz ihrer Überempfindlichkeit für utopische Diskurse, schreibt Peter Verovšek für Razpotja (englisch in Eurozine): "Schon die Montanunion stellte die für den modernen Krieg notwendigen Ressourcen unter die Aufsicht geteilter Institutionen außerhalb der politischen Architektur der Mitgliedsstaaten. Für Arendt war dies eine Überwindung der 'gefährlichen Verstecke' des Nationalismus. Wie sie schon 1945 schloss, 'ist ein guter Friede nicht denkbar, wenn die Staaten nicht Teile ihrer ökonomischen und politischen Souveränität einer höheren europäischen Autorität unterstellen'."
Archiv: Eurozine

London Review of Books (UK), 07.08.2017

John Lanchester nimmt für die London Review of Books in einem sehr langen Text Facebook aufs Korn, das immer größer wird - 18 Prozent Wachstum jedes Jahr. Derzeit hat es zwei Milliarden aktive Mitglieder, von denen 66 Prozent es täglich benutzen. Lanchester erinnert daran, dass Zuckerberg nicht nur Computerwissenschaften studiert hat, sondern auch Psychologie. Und er hat ein Netzwerk geschaffen, das für Lanchester (und für Peter Thiel) perfekt eine Grundüberzeugung des französischen Philosophen Rene Girard verkörpert, wonach alle Menschen, sind erst einmal ihre Grundbedürfnisse erfüllt, gerne andere beobachten und kopieren. "Diese Auffassung von der menschlichen Natur ist ziemlich düster. Wenn alle Menschen nur andere betrachten wollen, damit sie sich mit ihnen vergleichen und kopieren können, was ihnen gefällt - wenn das die endgültige und tiefste Wahrheit über die Natur des Menschen und seine Motive ist - dann muss sich Facebook wirklich nicht allzusehr um das menschliche Wohlergehen kümmern, denn alle schlimmen Dinge, die uns geschehen, tun wir uns selbst an. Dem ganz Firmengeschwätz über 'Communities bauen' und 'Menschen verbinden' zum Trotz ist Facebook eine Firma, deren Grundhaltung misanthropisch ist." Dazu passt für Lanchester auch eine Universitätsstudie von 2017, die herausfand, dass es "den Leuten schlechter geht, je mehr sie Facebook nutzen".

Außerdem: Joanna Biggs erinnert an die schwieirige Lage von Frauen in Nordirland, wo Abtreibungen noch immer verboten sind. Marina Warner liest Thomas Laqueurs große Kulturgeschichte des Todes "The Work of the Dead". Und T.J. Clark bewundert noch einmal Picassos "Guernica".

Slate.fr (Frankreich), 01.08.2017

Cleuci de Oliveira erzählt in aller Ausführlichkeit die Geschichte der Maíra Mutti Araújo, einer begabten jungen Anwältin, die sich in Brasilien auf einen Posten im öffentlichen Dienst bewarb und über die Quoten der brasilianischen "Affirmative Action" eingestellt wurde. Doch dann wurden Zweifel laut, dass sie überhaupt "schwarz" sei. In Brasilien, so de Oliveira, wird nach drei Hautfarben unterschieden, weiß, schwarz und gemischt - aber auch Mischlinge dürfen sich laut Quote bewerben. Und in diesem Moment zeigt sich, das auch der wohmeinendste Antrassismus ein Rassismus ist, weil er sich notgedrungen auf dessen Kategorien einlassen muss. Araújo musste vor einer "Verifizierungskommission" erscheinen, wo man sie fragte, ob sie "schwarze Idole" habe und ob sie mit einem Schwarzen zusammen sei. Diese Kommissionen sind in Brasilien allgemein anerkannt: "Im August schickte das brasilianische Ministerium des öffentlichen Dienstes zur Bekämpfung des 'Rassenbetrugs' Direktiven an alle Regierungsstellen und wie sie sie an 'Verifizierungskommissionen zu schaffen, die gleichmäßig nach Geschlecht, Herkunft und Rasse besetzt sein sollen'.  Allerdings ist die Anwendung der Direktiven nicht einheitlich, und die Verifizierungsmethoden können von Region zu Region erheblich variieren."
Archiv: Slate.fr

Film Comment (USA), 04.08.2017

Erst wenn man eine Außenperspektive einnimmt, zeigt sich einem die wahnwitzige Karriere von Mario Adorf in ihrem tatsächlichen Ausmaß. Diesen Job übernimmt dankenswerterweise Nick Pinkerton von Film Comment, der sich für ein episches Interview mit dem Schauspieler zusammen gesetzt hat - ein reicher Schatz von Anekdoten, in dem sich auch nochmal die Dynamiken des europäischen Nachkriegskinos abzeichnen. Auch um Adorfs italienische Filmkarriere geht es dabei, zum Beispiel seine Rolle in Fernando Di Leos Gangsterthriller "Der Mafiaboss - Sie töten wie Schakale" aus dem Jahr 1972 und eine atemberaubend waghalsige Szene darin: Adorf drehte sie selbst - weil die italienischen Stuntmen, die ihn doublen sollten, allesamt zu schmächtig waren. "Di Leo ließ mich also auf diesen Minibus aufspringen, die ganze Szene über. Das war sehr, sehr, sehr schwierig. Er wollte, dass ich mit meiner Stirn die Windschutzscheibe zerschlage. ... Und er hatte die Idee, dass ich während der Fahrt die Tür dieses Minibusses öffnen sollte, doch die Tür ging nicht auf. Drei Rippen brach ich mir dabei, drei Rippen. Dann sollte ich nach vorne springen und es hieß, da wären dann Griffe, damit ich mich festhalten kann. Da waren aber keine, ich konnte mich also nicht gut festhalten. Dann ging es durch den Verkehr von Mailand. Auf den Straßen befanden sich keine Autos von uns - das war alles echter Straßenverkehr. Und da sausten wir dann mit 80 Sachen durch und ich vorne dran an dem Bus. Also dachten wir nach: Wie kriege ich während der Fahrt die Windschutzscheibe zu Bruch? Mir kam da eine Idee, ich sagte: 'Setze einen Techniker mit einem Hammer rein - sobald ich meine Kopfbewegung ausführe, schlägt er von innen an die Scheibe.' Das hat wunderbar geklappt. ... Dann waren wir endlich am Ende angekommen. Doch als wir auf die Straße fielen, sollte ich noch diesem Kerl hinterher wetzen. Eine lange, sehr lange Verfolgungsszene - und ich mit meinen gebrochenen Rippen. Das Rennen fiel mir sehr schwer. Das war hart, sehr hart. Aber wissen Sie, diese Arbeit gefiel mir. Ich war immer sehr glücklich, wenn ich keinen Stuntman nehmen musste."

Hier die angesprochene Szene in voller Länge - Chapeau, Herr Adorf!


Archiv: Film Comment

Vogue Italia (Italien), 08.08.2017

Hedi Slimane, der 1996 mit seiner Arbeit für Saint Laurent Homme die superschmale Knabensilhouette in die Männermode einführte, hat für die Vogue Italia eine Fotostrecke aus Kalifornien geliefert (neben Musikern und Surfern blicken einem Ed Ruscha und Alessandro Baldessari entgegen) und er erzählt im Interview (hier auf Englisch), was ihn in seinem Leben als Designer und Fotograf inspiriert hat: "Androgynität ist irgendwie persönliche Geschichte. Ich bin mit einer schrägen Vorstellung davon aufgewachsen, wie die Geschlechter sich darstellen können, ich hatte immer das Gefühl, dabei auf einem alternativen Weg zu sein, und das sah ich auch politisch. Ich habe mit 17 angefangen, auf der Straße zu casten und dabei einen persönlichen Stil entwickelt, für Jungs wie für Mädchen, der eine Projektion meiner Person war, wie ich damals aussah, aber auch eine Projektion meines Musikgeschmacks. Als ich in den späten Neunzigern begann, Mode zu entwerfen, war mein Casting wahrscheinlich verstörend für das Publikum. Die Industrie damals war geprägt von einer sehr konservativen Idee von Männlichkeit, ein Echo der Supermodels aus den Neunzigern. ... Meine Straßen-, Indie- und schmalen 'androgynen' Models sahen für viele aus, als kämen sie von einem anderen Planeten. Doch ich habe mich seit meinen ersten Schritten in den späten Achtzigern nie verändert. Der junge Skater, der die Bilderstrecke eröffnet, ist beispielhaft für meinen Stil."
Archiv: Vogue Italia

Tablet (USA), 07.08.2017

Paul Berman spricht sich in einer Reminiszenz an den "Summer of Love" zwar gegen LSD aus, aber sein kleiner Text klingt, als hätte er in Hommage auf sein früheres Ich doch nochmal eine Pille geschluckt. Außerdem liest er ein Buch von Danny Goldberg zum Thema. Berman ist tatsächlich um die Ecke von Haight und Ashbury aufgewachsen und war damals alt genug, um sich zu fragen, was für seltsame Wesen diese Hippies waren: "Hippie-Fahrer nahmen Hippie-Tramper mit. Den Joint zu teilen, war heilig. Aber wo lag die Quelle dieser Solidarität? Ich glaube, es war ein antisentimentales Lachen, ein bitteres, scharf feindseliges. Goldberg erinnert daran, dass Ronald Reagan 1967 zum Gouverneur von Kalifornien gewählt wurde und sagte: 'Ein Hippie ist einer, der aussieht wie Tarzan, geht wie Jane und riecht wie Cheetah.' Hippietum war die massenhafte Erkenntnis, dass selbst der Rhythmus von Reagans Witz abstoßend war. Hippietum war ein Schauder des Ekels vor der Falschheit dieser Sorte von Witz. Ein Ekel vor sentimentalen Ahnungen, vor Selbstzufriedenheit, ein weiser und wissender Ekel vor dieser abschreckenden Geruchlosigkeit. Hippietum war der Zorn Cheetahs."
Archiv: Tablet

Merkur (Deutschland), 01.08.2017

Im Merkur erklärt uns Felix Philipp Ingold das Geschichtsbild der Neuen Chronologie - eine Bewegung des russischen Mathematikers Anatoli Fomenko, der davon ausgeht, dass unsere Zeitrechnung wissentlich um tausend Jahre fehldatiert wurde: Die griechische Antike wird damit in den in den Zeitraum vom 11. bis zum 16. Jahrhundert verschoben, Jesus wurde auf der Krim geboren und zwar als byzantinischer Kaiser Andronikos I. Komnenos, und das Russentum war die eigentliche Gründungsmacht des Westens. Man kann darüber lachen - viele russische Universitäten nehmen Fomenko laut Ingold ernst - oder man kann dagegen argumentieren, der wachsenden Popularität dieser Thesen tut das keinen Abbruch, so Ingold. "Obwohl viele - die meisten - Thesen der Neuen Chronologie auf wissenschaftlichen Kongressen und in wissenschaftlichen Publikationen falsifiziert worden sind, nimmt Fomenkos Anhängerschaft unentwegt zu und wird zu einer esoterischen Massenbewegung, die auch außerhalb Russlands mehr und mehr Beachtung findet. Im Internet, in Workshops, in staatlichen und privaten Medien genießt er längst Kultstatus und gewinnt zusehends den Rang eines prophetischen Meinungsführers, der dem Russentum durch die Erhellung und Neuauslegung der 'vaterländischen' Geschichte gleich auch eine lichte Zukunft zu garantieren scheint: In dürftiger Zeit evoziert schönfärberische Geschichtsfälschung verpasste Möglichkeiten und regt gleichzeitig zu ihrer künftigen Verwirklichung an."

Außerdem: Heiko Christians denkt über Wege aus der pädagogischen Provinz nach.
Archiv: Merkur

Gentlemen's Quarterly (USA), 01.08.2017

Erinnen Sie sich noch daran, wie der Filmemacher Steven Soderbergh vor einigen Jahren vollmundig und unter großem Aufsehen seinen Rückzug aus dem Geschäft ankündigte, weil sich in Hollywood nicht mehr kreativ arbeiten lasse? Nun, nennenswerte Konsequenz hat er in den vier Jahren seitdem nicht gerade an den Tag gelegt: In der Zwischenzeit entstanden ein Fernsehfilm und zwei TV-Staffeln und jetzt legt er mit "Logan Lucky" tatsächlich auch wieder ein mit Adam Driver und Daniel Craig prominent besetztes Kino-Comeback vor (drei weitere Filmprojekte sind derzeit laut imdb in Planung). Einen neuen Weg geht er mit "Logan Lucky" aber doch, wie Zach Baron im Interview erklärt: Den Film habe er nämlich an gängigen Finanzierungskonventionen vorbei produziert. "Die Majorstudios verpulvern zu viel Geld für ineffektives Marketing, sagt er: Millionen Dollars, die sie zurück haben wollen, bevor irgendein anderer Beteiligter, inklusive die Künstler selbst, ihren Anteil ausbezahlt bekommen. ... Dabei ist es simpel, sagt er. Man verkauft die Auslandsrechte im Vorfeld, um die Kosten für die Produktion zu finanzieren. Dann verkauft man 'alles, außer die Kinoauswertung' - also HBO, Netflix, Video on Demand, Fernsehen, Abspielrechte in Flugzeugen undsoweiter. Voilà: Unabhängigkeit. Auf diese Weise behalten Soderbergh und seine Partner fast die Hälfte des direkt in den Kinos erwirtschafteten Umsatzes für sich selbst. ... 'Das Geld läuft durch keine weiteren Hände. Alle, die am Film mitgearbeitet haben und am Umsatz beteiligt sind, können sich mit einem Passwort online einloggen und auf einem Konto mitverfolgen, wie das Geld aus den Kinos eintrudelt. Das ist komplette Transparenz. Die Frage ist also: Können wir einen Film in 3000 Kinos bringen und nur die Hälfte dessen, was ein Studio ausgeben würde, dafür aufwenden und dennoch erfolgreich sein?"

Ohnehin befasst sich GQ gerade mit Hollywood im Umbruch: Hier geht es darum, welche Herausforderungen sich dem Schauspiel-Nachwuchs heute auf dem Weg nach oben stellen - Kurzversion: Kümmert Euch um die Menge Eurer Social-Media-Follower. Und hier haben sich diverse Regisseure eingefunden, die über ihre Erfahrungen mit Hollywood im Zeichen von Mega-Franchises, Indie-Kassenknappheit und dem wachsenden Einfluss demografischer Erhebungen austauschen.

The Atlantic (USA), 06.08.2017

Ian Bogost, der am Georgia Institut of Technology lehrt, schreibt über das kürzlich geleakte Pamphlet eines Google-Mitarbeiters gegen Frauen in technischen Berufen (mehr bei 9punkt). Der anonyme Autor macht darin die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern dafür verantwortlich, dass Frauen in der Technologiebranche weniger stark vertreten sind. Nach Bogost entlarvt sich hier das große Machismo-Problem der Branche. In einem kürzlich von Google veröffentlichten "diversity report", so Bogost, habe sich herausgestellt, dass der Anteil weiblicher Angestellter momentan nur bei 31 Prozent liegt, von denen wiederum nur 20 Prozent im technischen Bereich arbeiten. Noch schlimmer steht es nach Bogost um die ethnische Vielfalt der Branche: Nur zwei Prozent der Angestellten sind schwarz und nur vier Prozent kommen aus latein- oder mittelamerikanischen Ländern. Für Bogost gibt es allerdings frühestens eine Lösung für das Problem, wenn der weiße Mann aus seinen Machtpositionen gedrängt ist: "Das Computerbusiness hängt an den Machthabern. Wer diese Wahrheit nicht anerkannt, behindert ernstliche Anstrengungen, diese Macht durch Diversifizierung zu überwinden. Für mehr weibliche Unternehmer (17 Prozent der Start-ups haben Gründerinnen) oder Venture-Kapitalgeber einzutreten, erscheint als ein toller Weg in Richtung Diversität und Gleichheit. Aber auch das risikokapitalfinanzierte Start-up ist ein Sklave eines Markts, der fast nur von männlichen Vorgängern gestaltet und geprägt wurde."

Das Manifest hat in der ganzen amerikanischen  Blogosphäre große Aufregung ausgelöst: Bei Medium schreibt die Programmiererin Erica Joy über das Pamphlet des Google-Mitarbeiters, sie sei "enttäuscht, aber nicht überrascht". Die Washington Post meldete gestern, dass Google den Autor des Manifests mittlerweile gefeuert hat und sich von dessen Aussagen distanziert.
Archiv: The Atlantic

Magyar Narancs (Ungarn), 20.07.2017

Im Interview erklärt der Schriftsteller György Konrád, warum Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu die ungarische Regierung nicht wegen ihrer umstrittenen, antisemitischen Kampagne gegen George Soros kritisiert. Das hat damit zu tun, meint er, dass Netanjahu - wie Orban - einer rechten Partei angehört, aber auch mit der Israelkritik von Soros: "In den USA und in West-Europa grenzen sich viele linke und liberale jüdische Intellektuelle gerne vom Staate Israel, vom Zionismus und von der israelischen Regierung ab. Dies ist kein neues Phänomen, bereits Hannah Arendt tat so. Ich halte dies nicht für sympathisch, denn oft waren diese Menschen nie in Israel und ihre Informationen aus der Region sind oberflächlich. Ich habe auch persönliche Gründe, dass ich mich dem Staat Israel gegenüber empathisch verhalte. (...) Ich verherrliche Netanjahu nicht, aber ich halte ihn für einen Realisten. Und ich bedauere, wenn Soros einseitig israelfeindliche Gesten macht."
Archiv: Magyar Narancs

New York Times (USA), 31.07.2017

In der New York Times gefällt uns eine Reportage von Michael Kimmelman, der sich der neuen Londoner U-Bahn namens Crossrail annimmt, Europas größtes Infrastruktur-Projekt und ein echtes Zukunftsversprechen, doch das war vor Brexit: "Megaprojekte wie die Erneuerung von King's Cross, die Erweiterung von Heathrow oder eben Crossrail, sollen London zur großen europäischen Metropole machen, einem melting pot des 21. Jahrhunderts einem Sybaris der Kulturen und des freien Marktes, zugleich verschärfen sie die unterschwelligen urbanen Schwächen und befeuern Ressentiments gegen die Stadt. Crossrail war gedacht als eine Art demokratisierendes Korrektiv, das die Stadt zugleich schrumpfen und als Vision Londons als große, inkludierende Metropole auch expandieren sollte. Während es Banker in hoher Geschwindigkeit zwischen ihren Büros, ihren Multimillion-Dollar-Apartments und Heathrow hin- und herkatapultiert hätte, hätte es auch Millionen bisher marginalisierten Geringverdienern ohne Chance auf eine Bleibe im Zentrum ermöglichen sollen, in billigeren Gegenden weit weg von ihrer Arbeitsstelle zu wohnen. Doch was, wenn der Strom zuziehender Banker abreißt und Zuwanderer sich woanders umschauen? Was wenn die Exzesse aus Euro-Geld und Euro-Arbeitskraft, die das Wachstum anfeuerten, plötzlich aufhören?"
Archiv: New York Times
Stichwörter: Crossrail, Brexit, London, Exzess