9punkt - Die Debattenrundschau

Dann packte er seine Tasche und wartete

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.11.2020. In der taz berichtet Karim El-Gawahry von der Verhaftung seines guten Freundes, des Menschenrechtsaktivisten Gasser Abdel Razek. ZeitOnline berichtet vom zunehmenden Protest gegen eine einseitige Presseförderung der Bundesregierung. Der Guardian blickt neidvoll in die USA, die ihre Verirrung des Jahres 2016 hinter sich lassen. In der NZZ kann sich der Anglist Hans-Dieter Gelfert den Brexit nur mit John Lockes Empirismus erklären. Zum zweihundertsten Geburtstag von Friedrich Engels ermuntert die SZ dazu, revolutionäre Energien ruhig mal mit einem Glas Champagner zu befeuern: Warum denn nicht?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.11.2020 finden Sie hier

Ideen

Zeit seines Lebens habe sich Friedrich Engels damit begnügt, im Gespann mit Karl Marx die zweite Geige zu spielen. Diese Bescheidenheit legt SZ-Autor Jens Bisky dem Fabrikantensohn und Begründer des "wissenschaftlichen Sozialismus" zum zweihundertsten Geburtstag ebenso positiv aus wie seine Lebensnähe: "Wer revolutionäre Energien in sich fühlt oder die Welt verändern will, findet viele Vorbilder in der Boheme oder unter Asketen. Engels aber bot eines der wenigen Beispiele für eine bürgerlich erfolgreiche, den Genüssen zugetane, nicht nur von Brotberufsfron, sondern von Lektüre, Schreiben, wissenschaftlicher Neugier ausgefüllte Existenz. Er war auch ein Château-Margaux-und-Champagner-Revolutionär. Warum denn nicht? Liest man Erinnerungen an ihn, stößt man immer wieder auf mal begeisterte, mal ungläubige Schilderungen seiner Wirklichkeitszugewandtheit, seiner Lebens- und Arbeitsenergie, seines völlig unverbitterten Temperaments, seiner Lust am Leben."

Ob sich der Philosoph Marx auch ohne den Reporter Engels mit der Ökonomie beschäftigt hätte? In der taz würdigt Ulrike Herrmann Engels als großen Rechercheur, dem die Welt nicht zuletzt "eine der besten soziologischen Studien" des 19. Jahrhunderts zu verdanken habe: "Die Lage der arbeitenden Klasse in England". "Engels wandte darin erstmals einen Trick an, den Marx später im 'Kapital' übernehmen sollte: Er zitierte vor allem den ideologischen Gegner, also die Liberalen. Wenn selbst die Bourgeoisie zugeben musste, dass die Arbeiter in entwürdigenden Umständen lebten, dann war dies wirkungsvoller als jede Anklage aus der Feder eines Sozialisten. Oft reichte es schon, die amtlichen Gesundheitsstatistiken heranzuziehen, um die Verelendung zu dokumentieren: 'In Liverpool war 1840 die durchschnittliche Lebensdauer der höheren Klassen (gentry, professional men etc.) 35, der Geschäftsleute und bessergestellten Handwerker 22 Jahre, der Arbeiter, Tagelöhner und der dienenden Klasse überhaupt nur 15 Jahre.'"
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Politik

Sehr bewegend berichtet der Kairo-Korrespondent Karim El-Gawhary in der taz von der Verhaftung seines Freundes, des ägyptischen Menschenrechtsaktivisten Gasser Abdel Razek: "Er wusste, Berichte über willkürliche Verhaftungen, Folter, unfaire Gerichtsprozesse, Todesstrafen und die Beschneidung von Versammlungsrecht und Pressefreiheit zu veröffentlichen, barg immer die Gefahr, eines Tages selbst an der Reihe zu sein. Muhammad Bascheer und Karim Ennarah, zwei Mitarbeiter der von ihm geleiteten Egyptian Initiative for Personal Rights (EIPR), waren in diesem Monat schon verhaftet worden. Die Festnahmen folgten auf ein Treffen im Büro der Organisation mit 13 Botschaftern und Botschaftsvertretern, die meisten aus der EU, auch der deutsche Botschafter war dabei. Die Diplomaten waren über die Menschenrechtslage im Land unterrichtet worden. Das, davon war Gasser überzeugt, war der Auslöser, warum seine Kollegen festgenommen wurden. Er ahnte, was als Nächstes passieren würde. Er schickte seine Frau und seine beiden Söhne in die Oase Fayoum, eineinhalb Stunden von Kairo entfernt. Dann packte er seine Tasche und wartete zu Hause darauf, selbst abgeholt zu werden. Am 19. November war es so weit."

In einem Debattenbeitrag im Standard wenden sich die Politologen Sieglinde Rosenberger und Rainer Bauböck gegen den Begriff des politischen Islams, den Bundeskanzler Sebastian Kurz zu einem Straftatsbestand in Österreich machen möchte: "Politischer Islam kann neutral als die Weltsicht von Bewegungen bezeichnet werden, die mit politischen Mitteln religiös begründete Werte durchsetzen wollen. Faktisch ist er jedoch zum flexibel einsetzbaren Kampfbegriff verkommen und somit ungeeignet, Realitäten abzubilden oder gar politische Maßnahmen gegen Radikalisierung zu begründen. Politischer Islam wird von der Regierung mit grundsätzlicher Ablehnung von Demokratie und Rechtsstaat und Unterstützung von Gewalt assoziiert. Dafür gibt es aber einen besser geeigneten Begriff: Strömungen und Netzwerke, die die liberale Demokratie und ihre rechtsstaatlichen Kontrollen nicht akzeptieren und Religion bedingungslos über demokratische Politik stellen, sind nicht 'politisch islamisch', sondern islamistisch.
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Europa

Neidvoll blickt Jonathan Freedland vom Guardian aus in die USA, wo sich die Amerikaner daran machen, ihre Verirrungen des Jahres 2016 hinter sich zu lassen: "Natürlich wird es den Trumpismus auch weiterhin geben, aber im Januar 2021 werden die Amerikaner der Form nach das Kapitel abeschließen, das Trumps Wahlsieg vier Jahre zuvor eröffnete. Im selben Monat wird der Brexit Ernst werden, dann werden wir die EU nicht nur nominell, sondern reell verlassen. Während die Amerikaner ihre Begegnung mit der Realität des populistischen Nationalismus in der Vintage-Version von 2016 beenden, wird unsere beginnen."

Die politische Unreife, die sich im Brexit zeigt, hätte der Anglist Hans-Dieter Gelfert den Briten nicht zugetraut, bekennt er in der NZZ, denn eigentlich verehrt er ihren Common Sense, ihre Kompromissbereitschaft und ihre Aversion gegen die Autorität. Der horizontale Empirismus des John Locke unterscheidet sie einfach vom vertikalen Rationalismus des René Descartes, der die Kontinentaleuropäer prägte: "Für den kontinentalen Rationalismus und den späteren deutschen Idealismus galt immer der Primat des Ganzen. Totalität ist ein Zentralbegriff der deutschen Philosophie. Im Denken der Briten spielt er kaum eine Rolle. Ihr Empirismus geht grundsätzlich vom individuellen Einzelfall aus. Das zeigt sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen wie des privaten Lebens. So besteht der größte Teil des britischen Rechts aus Präzedenzfällen, die die Rechtskraft von Gesetzen haben; noch heute ist das britische Recht ein case law, das von Fall zu Fall im Lichte früherer Entscheidungen urteilt, statt sich an systematischen Rechtsnormen zu orientieren."

Mit dem Brexit und dem Veto von Polen und Ungarn gegen den Haushalt drohen die beiden großen Krisen Europas im Kern zu verschmelzen, fürchtet Stefan Kornelius in der SZ: "Geld und Souveränität bilden die Herzkammern der EU. Ohne Strukturfonds, ohne Binnenmarkt, ohne Landwirtschaftshilfe, ohne Corona-Wiederaufbaugeld: keine EU. Der Haushalt ist das einzig relevante Machtinstrument der Union. Eine Veränderung des Einstimmigkeitsprinzips in dieser Königsdisziplin bringt die gesamte Statik ins Wanken. Ohne das Budget und vor allem ohne die daran gekoppelten Corona-Hilfen korrodiert die EU an allen Enden."

In der taz sieht die deutsch-französische Autorin Géraldine Schwarz die europäischen Demokratie eher von unten als von oben in Gefahr geraten: "Die Demokratie hängt von der Fähigkeit ihrer Bürger:innen ab, die Spielregeln zu verstehen. Sie zu respektieren. Den Dialog, den Konsens, die Kompromisse."
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Medien

Auf ZeitOnline greift Daniel Bouhs den Appell digitaler Verleger auf (unser Resümee), mit dem mehrere Online-Medien, darunter Krautreporter, Correctiv und der Perlentaucher, gegen die Pläne des Bundeswirtschaftsministeriums protestieren, Verlage beim Aufbau von Apps und Werbeformaten finanziell zu unterstützen: "Das entscheidende Kriterium ist demnach die Auflage der gedruckten Zeitungen oder Zeitschriften. Das stört nicht nur die verlagsunabhängigen Medienmacher, sondern auch Teile der Opposition. Am Donnerstag haben Grüne und Linke im Haushaltsausschuss des Bundestags beantragt, es mögen 'nicht die Verlage mit der höchsten Auflage die höchste Förderung erhalten'. Die Millionen sollten gesperrt werden, bis die Regierung ein Konzept vorlege, 'das die Förderhöhe nicht an der Auflagenhöhe der Verlage bemisst, das Prinzip der Staatsferne wahrt sowie die lokale und regionale Medienvielfalt in den Mittelpunkt stellt'." Interessant ist, dass sich der Zeitungsverlegerverband nicht äußern will. Zwar sei man überrascht von dem Geldsegen, aber nun wolle man "den 11. Dezember abwarten. Erst dann, wenn der Bundestag abschließend über den Haushalt abstimme, sei klar, ob es überhaupt eine Presseförderung geben werde." In der Medienkolumne "Altpapier" des MDR fasst Ralf Heimann den Streit zusammen und setzt einige interessante Links.
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Religion

Vehement wehrt sich der katholische Theologe Helmut Hoping in der FAZ gegen einen innerkirchlichen Genderdiskurs, demzufolge es erlösungstechnisch nachrangig sei, ob Jesus als Junge oder Mädchen zur Welt gekommen sei, schließlich sei Gott Mensch geworden und nicht "Mann". Seltsamerweise lesen sich die Argumente, gegen die Hoping anschreibt, viel überzeugender als seine Verteidigung des Dogmas: "Hätte Gott nicht auch als Frau Mensch werden können? So spekuliert Dorothea Sattler auf der Linie nominalistischer Possibilientheologie. Was Gott von dieser Möglichkeit abgehalten habe, sei seine Klugheit gewesen, denn ein weiblicher Messias sei der patriarchalen Gesellschaft der Zeitenwende nicht zuzumuten gewesen. Die Gedanken Gottes sind frei. Wer kann sie wissen? Doch an der bezeugten Heilsgeschichte vorbei kann man schlecht Theologie treiben. Dafür steht das jüdische Kind in der Krippe und seine Beschneidung."

Im Interview mit Friederike Gräff berichtet der in Flensburg lebende Aktivist Amed Sherwan in der taz, wie er sich in Irakisch-Kurdistan vom Glauben abwandte. "Ich habe damals zwar damit gerechnet, dass Leute sich provoziert fühlen und dass ich Nachrichten mit Morddrohungen bekomme, so wie alle anderen. Ich bin aber nicht davon ausgegangen, dass mein eigener Vater mich der Polizei ausliefert."
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Geschichte

Lucien Scherrer erinnert in der NZZ, mit leicht polemischen Unterton, an die Schweizerin Elinor Lipper, die 1937 in die Sowjetunion ging und dort die Säuberungen, Denunziationen und Selbstanklagen erlebte, mit denen Stalin Moskau terrorisierte. In Gerichtsprozessen und ihren Erinnerungen "Elf Jahre meines Lebens" hat Lipper über ihre Erfahrungen berichtet: "Elinor Lipper verbringt vierzehn Monate in Untersuchungshaft; nach drei Verhören droht ihr der Untersuchungsrichter mit Kriegsgericht und dem Urteil 'Tod durch Erschießen'. Schliesslich reduziert die Geheimdienstjustiz das Verdikt am 8. September 1938 auf fünf Jahre Lagerhaft, wegen 'konterrevolutionärer Tätigkeit'. Und so wird die 26-jährige Frau zusammen mit anderen Verurteilten in Viehwagen und per Schiff nach Ostsibirien deportiert. Dort, in den Weiten des Kolyma-Gebietes, hungern Hunderttausende in 'Besserungsarbeitslagern', wie die von Lenin initiierten Gulags offiziell heißen. 'In aller Augen stand die Frage: Warum? Und keiner wusste die Antwort. Wenn im Gefängnis noch ein erschrockenes Staunen über den Gesichtern gelegen hatte, die ungläubige Verwunderung des Menschen über den ihn peinigenden Menschen, über schuldlos erduldete Schmach und Grausamkeit, so konnte man jetzt etwas anderes lesen: Furcht und Verbitterung.'"
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Stichwörter: Lipper, Elinor, Gulag