9punkt - Die Debattenrundschau

Die Freigeister zu Hause

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2015. In Libération beschreibt David Grossman die zerstörische Macht des Terrorismus. In der Welt pocht Gila Lustiger auf das Recht, nicht wie jedermann zu sein und trotzdem dazuzugehören. Die FR sieht in den französischen Gefängnissen ein besseres Rekrutierungsgebiet als in Syrien. Der NZZ ist die Macht lokaler Imame nicht geheuer. Außerdem verzeichnet die SZ Katerstimmung in Berlin.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.01.2015 finden Sie hier

Europa

Sehr eindrücklich beschreibt der israelische Schriftsteller David Grossman in Libération, die Angst, die der Terrorismus verbreitet, die Angst vor dem Bekannten und dem Unbekannten. Und er warnt: "Die wahre zerstörische Macht des Terrorismus besteht am Ende in der Tatsache, dass er den Menschen mit dem Bösen konfrontiert, das sich in ihm selbst verkrochen hatte, mit dem, was tief unten steckt, das Bestialische, das Chaotische. Das gilt sowohl für das Individuum wie für die Gesellschaft. Der Terrorimus im Allgemeinen - und ganz bestimmt derjenige der Attentäter in Paris- sucht nicht den Dialog. Letzten Ende reckt er sein Haupt, um die Gesellschaft niederzuringen." Die FAZ bringt eine Übersetzung.

In der Welt schreibt die Autorin Gila Lustiger über ihre Gefühle als Jüdin in Frankreich nach den Attentaten. Auch wenn sie sich an dem Streit über die Heimstatt der Juden stört, den Manuel Vall und Benjamin Netanhjahu über ihren Kopf hinweg angefangen haben, pocht sie auf ihre verschiedenen Identitäten: "Manche Leute können und wollen eben nicht sein wie jedermann. Sie tragen Kopftücher und leben ein friedliches Leben in Kreuzberg. Sie lassen ihre Familien in Jerusalem begraben und sagen: "Baruch Haschem." Sie beten auf einem Teppich und ziehen ihre Schuhe aus. Aber sie gehören dennoch dazu. Nur an unserer Fähigkeit, sie trotz ihrer Eigenheiten in unserer Mitte aufzunehmen, wird sich zeigen, ob der Gedanke der Aufklärung, für den wir in diesen schwierigen Zeiten auf die Straße gehen, in Europa noch eine Zukunft hat." Auf Slate.fr befasst sich Jacques Bennilouche mit dem Dilemma der französischen Juden.

Ziemlich scharf wendet sich Wolfram Schütte, einst FR, und ein säkularer Linker im Culturmag gegen Lothar Müller und Sonja Zekri in der SZ, die (vielleicht im Perlentaucher) den Satz eines jungen Muslims aufgenommen haben: "Ihr seid einen Tag lang Charlie, wie sind alle Tage lang Gaza". Schüttes Kommentar: "Das ist, mit Verlaub, ein starkes Stück! Denn mit "Gaza" soll selbstverständlich die "Opferrolle" der Palästinenser im Bombenhagel der israelischen Luftwaffe gemeint sein und keineswegs das drakonische Regiment der Hamas... Wobei quasi naturbedingt die fast gleichzeitige Ermordung der vier französischen Juden in der Pariser Banlieu gar nicht erst von dem über Gaza dauertrauernden französischen Muslim erwähnt wird."

Nicht erst im syrischen Terrorcamp wandeln sich Delinquenten zu Extremisten, sondern in den Gefängnissen, schreibt Axel Veiel in der FR, vor allem in Frankreich: "Wieder einmal erweisen sich die mit 66.530 Insassen katastrophal überbelegten Gefängnisse des Landes als Brutstätten des Terrors. Zwei der drei Attentäter Chérif Kouchi und Amedy Coulibaly, waren in der Vollzugsanstalt von Fleury-Merogis 2005 dem selbst ernannten Emir und Bin-Laden-Getreuen Djamel Beghal begegnet und über ihn in den Bann al Qaidas geraten."

Weiteres: In einem großen Report zeichnet die SZ außerdem die Lebenswege der Attentäter von Paris nach, von Chérif und Saïd Kouachi, von Amédy Coulibaly und Hayat Boumeddiene (hier ein Anreißer). In Zeit Online berichtet Canan Topcu von Streit innerhalb der muslimischen Verbände um die Obervertretung. Offenbar nehmen es viele dem KRM-Chef Aiman Mazyek dem ersten Platz bei der großen Kundgebung am Brandenburger Tor übel.
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Religion

In der NZZ sieht Martin Meyer wieder die Zeichen auf Kulturkampf gestellt und fürchtet vor allem den Islam als ausgrenzende Bastion und modernisierungsfeindliche Doktrin: "Da er kein "Rom" vergleichbares Zentrum hat, sondern sich in eine Vielfalt von Autoritäten, Sprechern und Chören verteilt, befördert er auch Unsicherheiten unter den Glaubenden, was rechtens und was Unrecht sei. Die Macht lokaler Imame ist beträchtlich und kann sich nach gegebenen Mustern hinaufschwingen bis ins Geheul der Prediger von Rache und Hass."
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Stichwörter: Imam, Islam, Kulturkampf

Medien

Dass die amerikanischen Zeitungen die Karikaturen von Charlie Hebdo nicht abdruckten, liegt in den Augen von Andrea Köhler in der NZZ nicht nur an political correctness und doppelten Standards, sondern auch am Käuferschwund: ""Das Letzte, was eine Zeitung heutzutage möchte, ist provozieren. Man könnte ja einen Leser verlieren", erklärte Art Spiegelman in der Fernsehsendung Democracy Now. Das Resultat davon sei, dass der politische Cartoon, sofern er überhaupt noch existiere, eine Variante jener Gag-Cartoons geworden sei, die, wie etwa die Karikaturen des New Yorker, politische Topoi in eher harmlosen Witzen verarbeiten, die amüsieren, aber um Gottes willen niemanden ärgern sollen."

In der taz fragt Doris Akrap, wie es zusammengeht, mit Paris Charlie zu sein, aber die Freigeister zu Hause mundtot zu machen: "Wie ist es bestellt um die Radikalität der Kritik in den europäischen Demokratien? Werden provokante Gedanken zu schnell als zynisch abgestempelt? Man muss die Provokation von ihrem schlechten Ruf befreien. Freiheit ist doch auf dieser Welt für viele immer noch eine Provokation."

Die FAZ meldet, dass die wenigen Charlie-Hebdo-Exemplare, die nach Deutschland kommen sollten, schon ausverkauft sind, zumindest am Berliner Hauptbahnhof. In der Welt sieht Alan Posener Ähnlichkeiten zwischen Pediga und den 68ern: "Was für die radikalen Studenten die Springer-Presse war, das sind für die Wutbürger von Dresden und anderswo die Mainstream-Medien."
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Gesellschaft

Die SZ hat Berlin ja schon immer misstraut, jetzt beobachten Jens Bisky und Renate Meinhof über die Katerstimmung, die in der Stadt und bei der "Generation Berlin" seit Abgang von Klaus Wowereit herrscht: "Heinz Bude vermisst Disziplin, existenziellen Einsatz, Treue zum eigenen Werk. Stark dagegen sei eine "soßige Nostalgie" geworden, die auch die Schärfe der Neunzigerjahre verdeckt. Geschrieben hat er damals über die "Generation Berlin" aus Ärger über Bequemlichkeit, geistloses Gerede und in dem Bewusstsein, die Stadt besser zu kennen, zu wissen, was hier vonnöten wäre. Immerhin weiß nun jeder, wie wichtig Kultur, Wissenschaft, das ganze Drumherum, die sogenannte kreative Klasse für Berlin ist. Kreativität? "Ach, Kreativität ist was für Vollidioten", sagt Bude."

Melanie Mühl betrachtet die neurotischen Selbstinszenierungen von Jugendlichen auf Instagram.
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