Vom Nachttisch geräumt

Beispielsweise der Türke

Von Arno Widmann
10.02.2020. Niccolò Machiavelli erkundet mit seinem "Il Principe" die  Physik der Macht und mit den "Discorsi" den Nutzen der Religion. Lucio Biasiori führt diese Reflexionen auf Machiavellis Lektüre des Kitab Sirr al-asrar zurück. Mit Volker Reinhardt und Herfried Münkler sehen wir Machiavelli beim Denken zu.
Eines der Hauptwerke der politischen Weltliteratur, "Il Principe" von Niccolò Machiavelli (1469-1527), erschien erstmals 1532. Erst fünfundzwanzig Jahre später wurde der Text endgültig verdammt und auf den "Index der verbotenen Bücher" gesetzt. Dort blieb er bis zum Ende des Index, der durch den Erlass vom 14. Juni 1966 mit Wirkung vom 29. März 1967 außer Kraft gesetzt wurde. Wir sind also seit einem halben Jahrhundert alle frei, uns ein eigenes Urteil über einen fast ein halbes Jahrtausend alten Text zu bilden. Erleichtert wird das durch die zweisprachige Ausgabe, die gerade im Verlag Felix Meiner erschienen ist. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Enno Rudolph, geboren 1945 in Oldenburg, von 1990-2011 außerplanmäßiger Professor für Religionsphilosophie an der Heidelberger Universität. Ich werde hier nur ein paar mir gerade wichtige Stellen im Werk Machiavellis zitieren. Darum doch wenigstens ein Hinweis darauf, dass Herfried Münklers 1982 erstmals erschienener Klassiker "Machiavelli: Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz" noch immer eines der inspiriertesten und inspirierendsten Bücher über den Florentiner Meisterdenker ist.

Im vierten Buch des "Fürsten" schreibt Machiavelli: "Die Fürstentümer werden, soweit uns bekannt ist, auf zwei verschiedene Weisen regiert: entweder von einem Fürsten und all seinen Bediensteten - das sind diejenigen, die von seinen Gnaden und seiner Gunst der Regierung als Amtsträger dienten - oder von einem Fürsten beziehungsweise von irgendwelchen Feudalherren, die diesen Rang nicht der Gnade des Herrschers, sondern der Altehrwürdigkeit ihres Geschlechts verdanken. Diese Feudalherren herrschen über eigene Länder und Untertanen, von denen sie als Herren anerkannt werden und die von alters her an ihnen hängen. In den Staaten, die von einem Fürsten und seinen Bediensteten regiert werden, genießt der Fürst größere Autorität, weil in seinem ganzen Land keiner irgendjemanden anerkennt, der ihm übergeordnet wäre; anderen gehorchen sie allein in deren Funktion als Minister oder Beamte, ohne für sie je eine besondere Ergebenheit zu empfinden. Derzeit dienen beispielsweise der Türke und der französische König als exemplarische Fälle für diese beiden unterschiedlichen Regierungsformen. Die gesamte türkische Monarchie wird von einem einzigen Herrscher regiert, alle anderen sind seine Bediensteten… Der König von Frankreich hingegen befindet sich in diesem Staat inmitten einer Vielzahl von alters her etablierter Feudalherren… Wer diese beiden Staaten miteinander vergleicht, wird die Schwierigkeiten entdecken, die jemand hätte, den türkischen Staat zu erobern, aber ist er einmal besiegt, dann ist er auch sehr leicht zu halten. Hingegen wird man es in mancherlei Hinsicht als einfacher erachten, das französische Königreich besetzen zu können, allerdings für viel schwieriger es zu halten. Die Gründe für die Schwierigkeiten, das türkische Reich erobern zu können, liegen darin, dass man nicht von den Mächtigen dieses Reiches gerufen werden kann, noch kann man darauf setzen, dass ein Aufstand aus der Umgebung des Machthabers ein solches Unternehmen erleichtern würde… Da sie ihm allesamt verpflichtet und von ihm versklavt sind, ist es schwerer, sie zu bestechen, und selbst wenn man sie bestechen könnte, dürfte man sich wenig davon versprechen, da sie aus den genannten Gründen nicht in der Lage sind, Völker mit sich zu reißen. Wer also die Türkei angreift, hat damit zu rechnen, dieses Reich kompakt anzutreffen, und es empfiehlt sich für ihn, sich eher auf die eigene Kraft zu verlassen als auf die Uneinigkeit seiner Gegner. Ist der Türke hingegen einmal besiegt, d.h. in offener Feldschlacht so hart geschlagen, dass er kein neues Heer mehr zusammenstellen kann, dann hätte man höchstens noch mit der Dynastie des Herrschers zu rechnen."

Santi di Tito, Porträt von Niccolò Machiavelli, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Palazzo Vecchio, Florenz


Ein deutlich zu langes Zitat. (Es wird nicht das letzte dieser Unart sein.) Aber es macht Machiavellis Vorgehen deutlich. Er will sich über einen Sachverhalt Klarheit verschaffen. Das tut er, indem er ihn durchspielt an extremen Modellen. Es ist ihm in diesem Augenblick nicht wichtig, dass viele der französischen Feudalherren dazu geworden waren, weil ihre Ahnen extrem loyale Vasallen ihres Fürsten gewesen waren. Der Prozess ihrer Verselbständigung interessiert Machiavelli im Augenblick nicht. Ebenso wenig wie der, in dem die Osmanen, "der Türke", ihre Position erreichten. Machiavelli analysiert den Status quo. Das heißt nicht, dass er sich nicht an anderen Stellen, angesichts anderer Fragestellungen, nicht auch für die Entstehung eines Modells interessieren könnte. Das ist das Eine. Noch interessanter aber scheint mir die Selbstverständlichkeit, mit der er im frühen 16. Jahrhundert einen christlichen Staat mit einem islamischen vergleicht. Es geht ihm darum, wie Staaten regiert werden. Wie sie auf den einen und wie sie auf den anderen Druck reagieren. Es ist eine Physik der Macht. In den von mir zitierten Absätzen geht es um ein konkretes Problem und die dafür zentralen Gesichtspunkte werden genannt. Religion spielt dabei keine Rolle und schon gar nicht die Idee von der Überlegenheit der eigenen.

An anderer Stelle aber wird die Religion wichtig. In seinen "Erörterungen über die erste Dekade des Titus Livius", in der hier zitierten deutschen Ausgabe "Discorsi: Staat und Politik",  schreibt Machiavelli im zwölften Kapitel des ersten Buches: "Die Fürsten einer Republik oder eines Königreichs müssen die Grundpfeiler der Religion, die sie haben, aufrechterhalten; wenn dies geschieht, wird es ihnen ein Leichtes sein, ihren Staat religiös und folglich gut und einig zu erhalten. Und Alles, was zu deren Gunsten sich ereignet, wenn sie es auch für falsch halten, müssen sie begünstigen und fördern, und müssen dies umso mehr tun, je klüger und je bessere Kenner der Dinge in der Welt sie sind." Diese Einsicht, dieser Ratschlag schließt freilich an die Beobachtung an, dass, als das römische Volk dahinter kam, dass die Orakel weissagten, was den Mächtigen diente, es den Glauben verlor und so fähig wurde, "jede gute Einrichtung über den Haufen zu werfen". Karl Marx schrieb dreihundert Jahre später: "Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik".

Im zweiten Kapitel des zweiten Buches der "Discorsi" erörtert Machiavelli die Frage, warum die Völker in der alten Welt so schwierig zu unterwerfen waren. Er macht ihre Freiheitsliebe dafür verantwortlich, verbunden mit einer Religion, die auf Geistesgröße und Körperstärke und alles andere setzt, "was geeignet ist, die Menschen recht tapfer zu machen". Während wenn das Christentum von uns verlangt, "dass du Stärke in dir habest, so will es mehr, dass du geschickt seist zu leiden, als eine tapfere Tat zu verrichten. Diese Art zu leben scheint also die Welt schwach gemacht und sich als Beute den Bösewichtern anheimgegeben zu haben, welche mit Sicherheit über sie schalten können, da sie sehen, wie die große Masse der Menschheit, um ins Paradies zu kommen, mehr darauf bedacht ist, ihre Misshandlungen zu dulden als zu rächen."

Noch mehr als die alten Römer schien Machiavelli und vielen seiner Zeitgenossen der Islam eine heldische Gesinnung zu fördern. Als Heilmittel empfiehlt der florentinische Republikaner Niccoló Machiavelli die "Erhöhung und Verteidigung des Vaterlandes". Das ist nicht der Weg, den die Welt im Anschluss an Machiavelli ging. Da war erst einmal "Absolutismus" angesagt. Als Machiavelli über den Verfall der Freiheit in seiner Zeit nachdachte, da erschien ihm Deutschland mit seinen freien Reichsstädten noch als deren letzter Hort. Die Reformation aber, die als Freiheitsbewegung begonnen hatte, brach ihr mit "cuius regio, eius religio", dieser Verbindung von Thron und Altar, das Genick.

Wer sich für Machiavellis Quellen interessiert, den schickt der an der Scuola Normale Superiore in Pisa forschende Lucio Biasiori in eine ganz unvermutete Richtung: in den Orient. Machiavellis die europäische Reflexion über Politik radikal entmoralisierende Abhandlung "Der Fürst", so Biasiori, verdanke sehr viel dem meist verbreiteten Pseudo-aristotelischen Text des spätmittelalterlichen Europa, dem "Kitab Sirr al-asrar". Das Buch wurde wohl im 10. Jahrhundert in Syrien aus verschiedensten Texten zusammengestellt. Der vollständige arabische Titel lautet übersetzt: "Das Buch der Politik zum Regieren, bekannt unter dem Namen 'Geheimnis der Geheimnisse'". Biasiori gelingt nicht der Nachweis, dass Machiavelli das Buch, dessen lateinische Übersetzung in vielen Exemplaren in Florenz zirkulierte, wirklich gelesen und adaptiert hat. Aber er macht deutlich, wie stark das Denken der Florentiner Renaissance, wie sehr sich unterschiedlichste Autoren mit diesem und anderen Traktaten der islamischen Überlieferung beschäftigten. Und wie häufig militärische und politische Vergleiche angestellt wurden. Angesichts der Türkenkriege scheint einem das auch das nächstliegende.

Volker Reinhardt zitiert den berühmten Brief Machiavellis vom 10. Dezember 1513 an den Freund Francesco Vettori (1474-1539), der damals der offizielle Gesandte der Republik Florenz in Rom war. Machiavelli schildert darin mit einem dicken Schuss Ironie, sein Leben im ländlichen Exil, als schriebe er einen Blog: "Ich stehe am Morgen mit der Sonne auf und gehe in meinen Wald, in dem ich Bäume fällen lasse. Dort kontrolliere ich zwei Stunden lang die Arbeiten vom Vortag und verbringe meine Zeit mit den Holzfällern, die fast immer Streit haben, sei es untereinander, sei es mit den Nachbarn. Wenn ich den Wald verlassen habe, gehe ich zu einer Quelle und danach auf Vogeljagd. Ich habe ein Buch dabei, Dante oder Petrarca, oder einen der kleineren Dichter wie Tibull, Ovid oder ähnliche. Ich lese von ihren amourösen Leidenschaften und ihrer Liebe, erinnere mich an meine und genieße eine Zeitlang diese Gedanken. Dann gehe ich über die Straße ins Wirtshaus, spreche mit den Gästen, frage nach Neuigkeiten in ihrem Dorf, höre von verschiedenen Dingen und stelle unterschiedliche Vorlieben und Vorstellungen fest. Danach kommt die Stunde des Mittagsmahls, das ich mit der Schar der Meinen einnehme, und zwar von dem, was diese ärmliche Villa und dieser winzige Besitz abwerfen. Nach dem Essen, kehre ich ins Wirtshaus zurück; dort treffe ich gewöhnlich den Wirt, den Totengräber, den Müller und zwei Kalkbrenner. Mit diesen vertreibe ich mir den ganzen Tag die Zeit beim Cricca- und Trick-Track-Spiel. Dabei kommt es tausendfach zu Streit und Beschimpfungen. Meistens geht es dabei nur um ein paar Pfennige, doch ist unser Geschrei bis San Casciano (Dort ist heute das Haus zu besichtigen, in dem er 'Der Fürst' schrieb, sagt das Fremdenverkehrsamt. A.W.) zu hören. In Gesellschaft dieser groben Klötze erfrische ich mir das Gehirn und tobe meine Wut über die Ungunst des Schicksals aus, dem es gefällt, mich auf diese Weise mit Füßen zu treten, und warte ab, ob es sich darüber schämt. Bricht der Abend herein, kehre ich nach Hause zurück und begebe mich in mein Arbeitszimmer… So empfinde ich volle vier Stunden lang keine Langeweile, vergesse alle Sorgen, fürchte die Armut nicht und lasse mich vom Tod nicht schrecken… Und wie Dante sagt, dass er nie etwas liest, ohne das Gelernte aufzuschreiben, habe ich den Gewinn, den ich aus den Gesprächen (mit den alten Texten in seinem Arbeitszimmer) gezogen habe, niedergeschrieben und ein Büchlein namens 'De Principatibus' verfasst."

- Lucio Biasiori and Giuseppe Marcocci, Machiavelli, Islam and the East - Reorienting the Foundations of Modern Political Thought, Palgrave MacMillan 2018, 275 Seiten, 77,70 Euro.
- Niccolò Machiavelli, Der Fürst, Italienisch-Deutsch, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Enno Rudolph unter Mitarbeit von - Marzia Ponso, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2019, 236 Seiten, 26,90 Euro.
- Niccolò Machiavelli, Discorsi: Staat und Politik, Insel Taschenbuch, Frankfurt/Main 2000, hrsg. von Horst Günther, Übersetzung Friedrich von Oppeln-Bronikowski, 513 Seiten, 14 Euro.
- Herfried Münkler, Machiavelli: Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2004, 506 Seiten, 25 Euro.
- Volker Reinhardt, Machiavelli oder die Kunst der Macht - Eine Biografie, C.H. Beck, München 2012, 400 Seiten, 24,95 Euro.
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