Im Kino

Scharf gegenkalkuliert

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Ekkehard Knörer
16.03.2009. Die vielfach oscargekrönte Manier, in der sich Danny Boyle indischer Realität zu nähern behauptet, ist in "Slumdog Millionär" nun auch in deutschen Kinos zu bewundern. Und Guy Ritchie versucht sich in "RocknRolla" völlig Oscar-unverdächtig an der Neuauflage von Altbewährtem.

Vikas Swarup, der Autor der englischsprachigen indischen Romanvorlage zum Film "Slumdog Millionär" (Originaltitel: "Q & A") ist Diplomat. Ich habe den Roman nicht gelesen, aber dem Film, der auf seiner Grundlage entstand, ist die landeskundlich vermittelnde Absicht auf die Stirn geschrieben. Er nimmt sich im Grunde wie die streberhafte Antwort westlicher Filmemacher auf die schon falsch gestellte Frage aus, wie sich einem westlichen Publikum die indische Gegenwart darreichen lässt, ohne dass das Ganze zur Zumutung wird. Und zwar: ästhetisch (kein Bollywood!), sozial (Elend, aber attraktiv) und im Hinblick auf die Gesamtbotschaft (Happy End).

Ausgesprochen clever gehen Buch und Film die selbst gestellte Aufgabe an. Das gilt zuerst und zuletzt für den in seiner Cleverness allerdings schon wieder ärgerlichen zentralen Spannungs-Clou des Films: Dessen Held Jamal Malik, der buchstäblich aus der Scheiße kam, sitzt im Quiz-Stuhl und hat, das ist der Rahmen, aus dem die Erzählung nicht fällt, die entscheidende Millionenfrage vor Augen. Ganz setzt "Slumdog Millionär" auf die Verständlichkeit und Wiedererkennbarkeit der globalen Marke: Das auch in Indien höchst erfolgreiche Produkt "Wer wird Millionär?" funktioniert und jinglet, das setzt die britische Erfinderfirma Celador weltweit so durch, überall auf die identische Weise. Das nur zu bekannte Fernseh-Franchise ist und bleibt bis fast zuletzt die Halt versprechende Kontrastfolie zum Authentizitätsversprechen, das der Film innerhalb dieses Rahmens gibt. (Den eigentlichen Quizmaster, Superstar Shah Rukh Khan, hat Boyle für seinen Film naturgemäß nicht gewinnen können. An seine Stelle tritt Anil Kapoor, der als eifersüchtiger Aufsteiger-Schurke figuriert.)

Die Realismusbehauptung wird beglaubigt, wie sich das als spätes Erbe des Verite-Dokumentarismus gehört, durch die von Hand geführte Kamera, die sich durch nicht gänzlich durchinszenierte Räume bewegt. Hier: die Slums von Mumbai, in die die Geschichte ihrem Aufsteiger-Helden Jamal Malik folgt. Das Elendstouristische daran glaubt Danny Boyle in bewährter Manier durch Drastik in die Flucht schlagen zu können. Das Selbstzitat aus "Trainspotting" kommt ihm im Kulturvergleich dabei allzu recht. Jamal plumpst, um seinem Idol Amitabh Bachchan nahe sein zu können, ins Klo. Stinkend teilt sein Gestank die Massen wie Jahwe für Moses das Rote Meer (und wie die Kamera die Slumbewohnerschaft) und bekommt, wie der Film dann seine Oscars, sein Autogramm.


Dies ist eine der Episoden, aus deren in letzter Konsequenz pittoresker Reihung "Slumdog Millionär" besteht. Gereiht werden sie ganz mechanisch entlang des Quiz-Fadens. Jede der Fragen, die Jamal Malik beantworten muss - und kann - verweist auf ein Kapitel aus seinem Leben. Das beginnt mit einer Frage eben nach einem Film mit Amitabh Bachchan; des weiteren geht es zum Beispiel um den Tod seiner Mutter bei Hindu-Muslim-Auseinandersetzungen; alles ist von landeskundlicher Relevanz und eben darum vermittlungstechnischer Penetranz. Dazu kommt, als Handlungsgerüst innerhalb des Rahmens, eine Dreiecks-Liebesgeschichte, die immerzu direkt auf die "Drei Musketiere" anspielt (mit einer unerwarteten Pointe in der letzten Quiz-Frage), aber durchaus auch auf Raj Kapoors Dreiecks-Klassiker "Sangam" (1964) verweist.

Diese Dreiecksgeschichte hat nun ebenso reichlich Action- und Crime-Momente zu bieten wie der Rahmen, der auch um die Quiz-Show noch einmal gespannt wird. Weil die Macher der Show nicht glauben wollen, dass ein Slumdog wie Jamal die ihm gestellten Quiz-Fragen wirklich beantworten kann, versuchen sie, ein Betrugs-Geständnis aus ihm herauszufoltern. (Leider völlig verschenkt als Folterer: der großartige Irrfan Khan.) Vermutlich glaubt der Film, er könne auch die so ins Bild gesetzte Brutalität noch auf sein Authentizitätskonto verbuchen. Das ist ein Irrtum, der aber eine andere Wahrheit doch recht offensichtlich macht: Alles an "Slumdog Millionär" ist Berechnung. Jedes Moment echten Interesses am Gegenstand - den sozialen Verhältnissen des indischen Subkontinents - ist scharf gegenkalkuliert mit Attraktionsmomenten. In Wahrheit entwertet sich der Film moralisch wie ästhetisch immerzu selbst. Immerhin hat nun, wer sich fürs Zustandebringen eines globalen Erfolgsprodukts interessiert, das elendstouristischen Pseudo-Realismus unterhaltsam als weltpolitische Gewissensberuhigung verkauft, ein aufschlussreiches Anschauungsobjekt.

Ekkehard Knörer

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Die Zutaten: Der dicke alte Geldhai, der die Immobiliengeschäfte in London lenkt. Skrupellos, versteht sich. Auf eine Weise, dass er am Ende den Reibach macht und seine Kunden einmal, wenn nicht zweimal aufs Kreuz gelegt sind. Dann die beiden Kleinganoven, die auf ihn hereingefallen sind. Und ihm jetzt empfindlich was schulden. Und der russische Investor, der in London Großes bauen will. Der Rat und Tat sucht bei dem Geldhai und dafür immens Geld zu lassen in Aussicht stellt. Und hier dessen Steuerberaterin. Die den Deal unter der Hand in den Büchern frisieren soll. Die den Transfer den Kleinganoven steckt. Die die Kohle abgreifen. Um ihre Schulden zu begleichen mit dem Geld, das der Hai sowieso kriegen soll. Was der nicht weiß. Mit hineingemengt: Ein Gemälde aus den Kunstbeständen des Russen. Ein Glücksbringer, den er leihweise dem Hai überlässt - als Zeichen guten Willens. Wird geklaut, wird MacGuffin. Geklaut vom Sohn des Hais: Ein wirr philosophierender Rock'n'Roll-Junkie. Der Kohle auch nicht wenig nötig hat.

Guy Ritchie wurde mal als britischer Tarantino gehandelt ("Bube, Dame, König, Gras", "Snatch"). Dann kam Madonna als Ehefrau und mit ihr in der Hauptrolle ein bizarr missratener Remake-Flop von Lina Wertmüllers "Swept Away". Sein folgender Film, "Revolver", landete hierzulande kaum beachtet ohne Kinoumweg direkt in den Videotheken. Karriereknick. Ein Hit also ist dringend nötig und Ritchie geht mit "Rocknrolla" kein Risiko ein. Der ist in seiner Manier noch bis ins Detail so ist wie seine ersten beiden Hits: Coole Sprüche, alte Rockmusik, mauschelige Kneipen, schlechte Zähne, derbes Cockney - die Ästhetik des lads, einstmals new British cool, wird verkauft als noch immer new cool oder vielleicht schon wieder new cool. Ist aber vor allem alte Socke. Prätentiös in seiner Zusammensetzung, anmaßend in seiner Originalitätsbehauptung, abgestanden in seinen Zutaten und überhaupt ziemlich von gestern.

Thomas Groh

Slumdog Millionär. Großbritannien / USA 2008 - Originaltitel: Slumdog Millionaire - Regie: Danny Boyle - Darsteller: Dev Patel, Anil Kapoor, Madhur Mittal, Freida Pinto, Irrfan Khan, Saurabh Shukla, Mia Drake, Sanchita Choudhary, Ankur Vikal

RocknRolla. Großbritannien 2008 - Regie: Guy Ritchie - Darsteller: Gerard Butler, Tom Wilkinson, Thandie Newton, Mark Strong, Idris Elba, Tom Hardy, Toby Kebbell, Jeremy Piven, Chris Bridges, Jimi Mistry