Magazinrundschau

Zeit des Wilden Denkens

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
26.11.2019. Die Businessweek beschreibt die hervorragenden Geschäfte, die Facebook mit den amerikanischen Parteien macht. Im New Yorker gruselt sich der frühere Tech-Investor Robert McNamee vor den Data-Voodoo-Puppen, die das Silicon Valley aus den Menschen macht. In Eurozine verteidigt Karl Schlögel den historischen Moment und das Wilde Denken gegen die Theorie. In Elet es Irodalom bekennt sich György Dalos zur Ostalgie. Der Guardian trifft in Paris die Chinesen vom Quatre Chemins. Und Wired begibt sich auf die Spur des Mammut-Elfenbeins.

Bloomberg Businessweek (USA), 25.11.2019

Für Fake News und Hetze wird gern den großen Internetfirmen die Schuld zugeschoben. Die nehmen die Anzeigendollar gerne, klar. Sehr viel seltener spricht man über die, die diese Anzeigen schalten. Als herauskam, dass Donald Trump die Ukraine unter Druck gesetzt hatte, Korruptionsuntersuchungen gegen eine Firma einzuleiten, an der der Sohn seines politischen Konkurrenten Joe Biden Anteile hatte, schalteten Trumps Wiederwahl-Kommittee und das Republican National Committee für Millionen Dollar Anzeigen im Netz, die Trump als das eigentliche Opfer darstellen, berichtet Joshua Green. Strategin Tara McGowan hat für die Demokraten eine nicht ganz unheikle Antwort gefunden, erzählt Green weiter: "'Weil die Lokalzeitungen sterben, sehen wir, dass das bürgerschaftliche Engagement und die Beteiligung abnehmen', sagt McGowan. 'Es ist alles miteinander verbunden. Du kannst keine informierte Wählerschaft aufbauen, auf die du dich bei der Abstimmung verlassen kannst, wenn diese keine vernünftigen Informationen bekommen. Inmitten all dieser gefälschten Nachrichten erreichen wir die Menschen einfach nicht mehr mit den Fakten.' Als Reaktion darauf führt McGowan das vielleicht kühnste Projekt in diesem Wahlzyklus an: Sie sammelte 25 Millionen Dollar von einer Vielzahl wohlhabender Liberaler, um ein gewinnorientiertes Medienunternehmen, Courier Newsroom, zu gründen, das bereits damit begonnen hat, digitale Zeitungen mit lokalen Reportern und Redakteuren in sechs Schlüsselstaaten auszurollen - Arizona, Michigan, North Carolina, Pennsylvania, Virginia und Wisconsin. Sie sollen die Nachrichtenwüsten füllen, die Fakten liefern, die für Demokraten günstig sind und von denen sie denkt, dass sie fehlen, und Verdrehungen durch die Rechten entgegenwirken. Zwar basieren die Artikel, die sie veröffentlicht, auf Tatsachen, aber die Leser werden nicht darüber informiert, dass es sich bei den Publikationen nicht wirklich um traditionelle lokale Zeitungen handelt, sondern um politische Instrumente, die entworfen sind, um Stimmung für die Demokraten zu machen."

Außerdem: Joshua Brustein und Mark Bergen schicken eine Reportage über den Streit bei Google, ob man für das Militär arbeiten soll oder nicht.

New Yorker (USA), 02.12.2019

Brian Barth porträtiert den Tech-Investor Roger McNamee, der einst half, Amazon und Facebook anzuschieben und der heute einiges auszusetzen hat am Silicon Valley: "McNamee sieht sich selbst als Fallbeispiel für ein Leben ohne Google. Er benutzt DuckDuckGo, eine G-Alternative, die die Privatsphäre respektiert, und er verzichtet weitgehend auf Gmail, Maps, Docs usw. In zwei Monaten hat er nur einmal YouTube genutzt. Seiner Meinung nach sollte Facebook verwendet werden, um mit Freunden und Familie in Kontakt zu bleiben, nicht für politische Debatten, die bei FB zu Schreiwettbewerben ausateten. 'Empörung und Angst sind die Triebfedern dieser Geschäftsidee, also macht da nicht mit. Wir haben die Macht, dem unsere Aufmerksamkeit zu entziehen', meint er. Gegen Apple hat McNamee wenig einzuwenden, da das Unternehmen sich für Privatheit einsetzt, etwa indem es in Safari Cookies von Dritten blockt oder bei der Apple Card keine Daten mit Dritten teilt … Im Zentrum seiner Kritik steht, was er als 'data voodoo dolls' bezeichnet, digitale Profile, die die Firmen für jeden User anlegen. In solchen Profile sieht er so etwas wie eine 'Erweiterung des User-Selbst'. Der Handel mit Daten aus den 'data voodoo dolls' sollte nach seinem Dafürhalten 'nicht legitimer sein als Organhandel'. Besonders regt McNamee das Micro-Targeting mit politischer Werbung auf. Kritikern, die vor den Risiken von Social Media warnen, ob Wissenschaftler wie Shoshana Zuboff oder Politiker wie Adam Schiff, ist der Skandal um Cambridge Analytica das Paradebeispiel dafür, wie aus Menschen Puppen werden können."

Weitere Artikel: David Sedaris schreibt über die Hurricane Season. Amanda Petrusich begleitet den Musiker Beck auf der Suche nach dem Los Angeles seiner Jugend. James Wood überlegt anlässlich des dritten Bandes von Charles Moores voluminöser Thatcher-Biografie, wie man sich an die eiserne Lady erinnern soll. Hilton Als liest frühe Romane Joan Didions übers amerikanische Frausein. Alex Ross lauscht Beethoven-Aufnahmen mit dem Danish String Quartet, und Anthony Lane sah im Kino Rian Johnsons "Knives Out".
Archiv: New Yorker

The Verge (USA), 14.11.2019

Josh Dzieza ist nach Roundup in Montana gereist, das eigentlich ein kleines, unbedeutendes Städtchen wäre - wenn es nicht als Drehscheibe in Amazons Lieferkette Bedeutung gewonnen hätte : "Roundup sieht erst mal nicht aus, als wär es eine Drehscheibe für irgend was. Im 19. Jahrhundert von Farmern gegründet, war es Kohlerevier und Transitort an der Milwaukee Zugtrasse  … Doch Amazons Geografie ist merkwürdig: Mehr als 150 Millionen Quadratmeter Warenhaus, Auslieferungs- und Sortierlager, meist in Industrie- und städtischen Randgebieten, außer Sichtweite von den Millionen Kunden, die ihre Ware bis zur Tür gelifert bekommen. Sogar für Amazons Begriffe ist Roundup seltsam. Es gibt kein Auftragsabwicklungscenter, Amazons Wort für seine riesigen Warenhäuser, tatsächlich gibt es überhaupt keine offizielle Amazon-Präsenz irgendeiner Art. Stattdessen ist Roundup ein Zentrum der wachsenen Branche der 'Prep Center', Unternehmen, die sich auf das Verpacken von Waren nach Amazon-Richtlinien spezialisiert haben … 'Preppers' sind ein Teil der riesigen, inoffiziellen und größtenteils unsichtbaren Arbeiterschaft, die Amazons Regale befüllen. Die Mehrheit der Waren auf Amazon wird von Drittanbietern angeboten, viele von ihnen haben die Entwicklung vom Ladengeschäft zum Online-Business gemacht und suchen nach Produkten, die sie kaufen und wieder verkaufen können. Aber Amazon ist so ausgelegt, dass es Verkäufer miteinander konkurrieren lässt. Mit wachsender Verkäuferzahl (derzeit über zwei Millionen), schrumpften die Gewinnspannen. Einige Händler machten sich auf zu weit entfernten Orten, um Waren für den Verkauf zu finden, doch der Boom der E-Kommerz-Plattformen ermöglichte es bald, vom Schreibtisch aus Güter zu kaufen und sie zu Amazon zu schicken … Das fehlende Glied waren die 'Preppers', die all die Lieferungen prüfen und nach Amazon-Standards neu verpacken. So enstanden 'Prep-Center' in mehrwertsteuerfreien Staaten wie Oregon und Montana."
Archiv: The Verge
Stichwörter: Amazon, Montana, Arbeiterschaft

Elet es Irodalom (Ungarn), 25.11.2019

Natürlich gibt es Nostalgie, ruft der Historiker und Schriftsteller György Dalos, der gerade seine Erinnerungen "Für, gegen und ohne Kommunismus" veröffentlicht hat. Aber es gibt sie nicht ohne Grund, meint Dalos mit Blick auf das kostenloses Gesundheits- und Bildungswesen in den einst sozialistischen Ländern, auf Vollbeschäftigung und Garantie der Kultur: "All diese funktionierten auf einem sehr niedrigen Niveau, sehr schwach, letztere war an die Zensur gebunden, doch all dies brachte Stabilität in die Gesellschaft - verbunden mit dem Versprechen, dass dies ewig dauern würde… Ich kenne die Literatur der alten DDR ziemlich gut, bin Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, ich treffe regelmäßig Menschen aus der ehemaligen DDR und irgendwie hat jeder eine Geschichte über die eigenen Probleme mit der Zensur oder mit der Stasi. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie alle jene Situation der Ausnahme vermissen, in der die Literatur und die Künste waren, und an der nur derjenige nicht teilhatte, der vollkommen marginalisiert wurde. Heute dagegen gibt es in Gera kein eigenes Theater mehr. In der DDR hatte jede Stadt mit 60.000 Einwohnern ein Theater. Heute muss sich Gera ein Theater mit vier ähnlich großen Städte teilen. Als würde das Wandertheater auf Kutschen zurückkehren. Diese Zerstückelung der Kultur und der Raumgewinn der neuen Medien ist ein allgemeines Phänomen. Für die nicht-intellektuellen Schichten kam die Zeit der Existenzunsicherheit. Es gibt mittlerweile keine dramatische Arbeitslosigkeit, keine Inflation, doch das alte System hatte für viele das Versprechen, dass sich nichts ändern wird. Die Versorgung wird vielleicht ein bisschen besser. Diese innere Sicherheit ist instabil geworden."

Eurozine (Österreich), 25.11.2019

Eurozine bringt die Rede, die Karl Schlögel Anfang November, dreißig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hielt und in der er sich dagegen ausspricht, den historischen Moment mit Interpretationen, Theorien oder Konzepten zu überlagern. Ebensowenig glaubt er an einen einen großen Plan hiner der Transformation, weder von Milton Friedman oder Jeffrey Sachs noch von Leszek Balcerowicz oder Anatoly Chubais: "Der Prozess, der nach 1989/1991 stattfand, sprengte den herkömmlichen analytischen Rahmen des westlichen Wissenschaftsbetriebs. Die postsowjetische Ära war eine Zeit des Wilden Denkens - fazinierend, inspirierend und furchteinflößend zugleich. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, von der Ernst Bloch sprach, das Überlappen und Ineinandergreifen verschiedener historischer Prozesse schufen einen Grad an Verwirrung, die etablierte Diziplinen weder begrüßen noch integrieren konnten. Die Vorstellung, ein Konzept oder eine Gruppe von Menschen hätte die Reformen von oben oder überhaupt die Transformation leiten können, ist naiv. Es gab niemanden, der 'den Tiger hätte reiten' können. Um Marx zu zitieren: Geschichte geschah natürwüchsig, die war elementar, außer Kontrolle."
Archiv: Eurozine

Forum24 (Tschechien), 23.11.2019

Der tschechische Priester und Religionsphilosoph Tomáš Halík ist in Polen mit der St-Georgs-Medaille geehrt worden und fand in seiner Dankesrede deutliche Worte zum Zustand der katholischen Kirche. Forum24 veröffentlicht die Rede, in der Halik unter anderem fragte, ob die Christen genug täten gegen Populismus, Nationalismus und Xenophobie. Auch warnte er vor einer Strömung in der katholischen Kirche, die er "Katholizismus ohne Christentum" nennt, ein autoritatives, erstarrtes Denksystem, das selbst kirchliche Würdenträger verblende, sodass diese statt gegen populistische Demagogen zu opponieren, sich zur Kollaboration mit ihnen verleiten ließen: "Als ich auf Warschauer Straßen Menschenscharen sah, die antisemitische Slogans ausriefen und zugleich skandierten 'Wir wollen Gott', habe ich mich gefragt, was für einen Gott diese Leute wollen. Der Gott, den Jesus von Nazareth seinen Vater nannte, ist es ganz eindeutig nicht."
Archiv: Forum24

Guardian (UK), 25.11.2019

In keinem anderen Land in Europa leben so viele Chinesen wie in Frankreich, wahrscheinlich bis zu siebenhundertausend Menschen, viele davon ohne Papiere. In einem persönlich geprägten Text beschreibt Tash Aw das Leben junger Chinesen, die inzwischen nicht nur gegen staatliche Repression opponieren, sondern auch gegen die Maxime ihrer Eltern, hart zu arbeiten und nicht aufzufallen. An der Kreuzung Quatre Chemin, an der Grenze von Aubervilliers und Pantin erzählt der 32-jährige Rui, wie er 1995 mit seinen Eltern nach Paris kam: "Bevor wir Papiere bekamen, lebten wir mit der Scham meines Vaters, ein armer Illegaler zu sein. Wir lebten ausschließlich in der chinesischen Community, die eigentlich eine Wenzhou Community ist. Einige haben Papiere, viele nicht. Es gab eine klare Hierarchie zwischen Legalen und Illegalen. In jenen Tagen hatten nicht viele von uns einen Reisepass, Franzosen zu heiraten war das große Los, als hätte man sich Bill Gates oder Hillary Clinton geangelt - das Privilegierteste auf der Welt. Mein Vater war das genaue Gegenteil. Er arbeitete in den niedrigsten Scheißjobs, als Tellerwäscher in chinesischen Restaurants und so. Ich spürte seine Scham jedes Mal, wenn er mit jemanden sprach. Ich konnte es in seiner Stimme hören, er fühlte sich von der Welt niedergewalzt. Warum?, fragte ich mich. Warum müssen wir mit dieser Scham leben? Nachts weinte ich mich in den Schlaf. Als Illegale waren meine Eltern gezwungen, ihre Position auf der untersten Stufe zu akzeptieren, und ihre Minderwertigkeitsgefühl bestimmte mein Leben von klein auf. Jedes Mal wenn meine Eltern das Haus verließen, nahmen sie mich mit: 'In Frankreich verhaftet einen die Polizei nicht, wenn man ein Kind dabei hat, sagten sie immer."
Archiv: Guardian

Wired (USA), 18.11.2019

Der Klimawandel macht es möglich: In Sibiren boomt der "Abbau" von Mammut-Elfenbein, da immer mehr der geschätzt 10 Millionen im rapide abtauenden Permafrost eingelagerten Urzeitriesen zugänglich werden, berichtet Sabrina Weiss in der britischen Wired-Ausgabe. Insbesondere China, wo das Elfenbein für kunstvolle Schnitzereien verwendet wird, ist hier ein dankbarer Abnehmer, schließlich ist dort der Handel mit Elefanten-Elfenbein seit einigen Jahren verboten. Alles prima also? Nicht ganz: "Mammut-Elfenbein wurde als 'ethische' Alternative zum andauernden, illegalen Elfenbeinhandel beworben, der eine ganze Spezies der Ausrottung preiszugeben droht. Doch zu welchem Preis? Früher in diesem Jahr untersuchten Ökonomen der Texas A&M University und der University of Calgary, welche Auswirkungen die Versorgung mit ausgehobenem Mammut-Elfenbein zwischen 2010 und 2012 auf die illegale Jagd auf wilde Elefanten hat. Sie schätzten, dass die achtzig Tonnen Mammut-Elfenbein, die im Schnitt pro Jahr von Russland nach China gelangen, die Zahl gewilderter Elefanten von jährlich 55.000 auf 34.000 absenkt. Auf der anderen Seite gehen Umweltschützer und Aktivisten davon aus, dass der Mammut-Elfenbeinhandel eine kriminelle Industrie am Leben erhält. Sie befürchten, dass er ein Schlupfloch darstellt, um das Handelsmaterial bewusst falsch zu labeln und damit zu 'waschen'. Im August diskutierten Teilnehmer der CITES, der größten Konferenz über den Handel mit Wildtieren, darüber, ob man das Wollmammut, in einem Versuch, den Handel zu regulieren und den Elfenbein-Schmuggel zu zerschlagen, nicht als erste ausgestorbene Spezies auf die Liste der bedrohten Tierarten setzen sollte."
Archiv: Wired