Magazinrundschau

Wie eine Tulpe in der Wüste

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
01.05.2012. Fast Company begutachtet das gemeinsame gute Werk eines verteilten Spekulanten und eines Jesuitenpaters. In Al Ahram sieht Youssef Rakha, wie die ägyptische Revolution verraten wird. In Eurozine debattieren Timothy Garton Ash, Jeremy Waldron und Kenan Malik über Redefreiheit. Der New Yorker lernt, wie man ein Iphone hypnotisiert. In Vanity Fair erzählt Jeff Daniels, warum Schauspieler auf Zack sein müssen, wenn sie Sorkin spielen. New Republic beschäftigt sich mit den vier Göttinnen der Billboard Charts. Im Merkur erklärt Beate Rössler: Junge Frauen, es gibt keine Gleichberechtigung. In Elet es Irodalom debattieren Claudio Magris und Peter Esterhazy über Provinzialität und Weltbürgertum. Die NYT sucht afghanische Dichterinnen.

Fast Company (USA), 01.05.2012

Dies ist eigentlich eine Weihnachtsgeschichte, aber man kann sie gut auch am 1. Mai lesen. Um Arbeit geht's hier nämlich auch. 2010 las der stinkreiche Unternehmer Bruce Karatz in der Zeitung, dass Homeboy Industries, eine von Jesuitenpater Gregory Boyle gegründeten Hilfsorganisation für Gang-Mitglieder [homies] in Los Angeles, die Pleite drohte. Karatz hatte gerade nichts zu tun. Er war wegen der Rückdatierung von Aktienoptionen und anderen Unregelmäßigkeiten angeklagt worden und wartete jetzt auf die Entscheidung des Richters, ob und wie lange er in den Knast musste. Kurz: Homeboy Industries brauchte einen finanziellen Berater, Karatz brauchte eine Ablenkung und so kamen er und Boyle zusammen, erzählt Douglas McGray in seiner Reportage. "Karatz war vor allem fasziniert von Homeboys Geschäften. Boyle hatte nie geplant, einen kostenlosen Service zur Entfernung von Tätowierungen anzubieten. Aber als es ihm nicht gelang, einen Job für einen jungen Mann mit einer besonders unglücklichen Tätowierung ('fuck the world', stand auf seiner Stirn) zu finden, fand er einen Arzt, der das Tattoo entfernen konnte. Homeboys andere Geschäfte wurde in etwa nach der selben Methode gegründet. Boyle eröffnete die Homeboy Bäckerei, weil die Bäckerei gegenüber zumachte. 'Wenn es ein Polsterer gewesen wäre, hätten wir die Homeboy Polsterei eröffnet', sagte er. Aus Boyles Perspektive war Homeboy in erster Linie im Arbeitsbeschaffungs-Geschäft. 'Wir stellen keine Homies an, um Brot zu backen. Wir backen Brot, um Homies anstellen zu können.' Dennoch dachte Karatz, dass Boyle alles hatte, um eine echte Marke zu entwickeln. 'Homeboy hat ein starkes Logo', sagt er. 'Und ich glaube sehr stark an Authentizität.'"

Außerdem: Der Journalist Brent Schlender erinnert sich an Steve Jobs, den er sehr lange sehr gut kannte.
Archiv: Fast Company

Eurozine (Österreich), 30.04.2012

Eurozine greift eine interessante Debatte auf, die sich auf Timothy Garton Ashs Webseite Free Speech Debate entsponnen hat. Die dort aufgestellten Prinzipien stehen Einschüchterungen oder Gewaltandrohungen entgegen, aber ebenso jedweder gesetzliche Einschränkungen der Redefreiheit. "Niemand hat das Recht, nicht beleidigt zu werden", schreibt Garton Ash. Und an anderer Stelle: "Solche Gesetze haben zudem den perversen Effekt, Menschen geradezu dazu zu ermuntern sich angegriffen zu fühlen. Wollen wir wirklich diese Art Menschen sein, die ständig beleidigt sind? 'Es ist ein Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke', bemerkte der südafrikanische Autor J. M. Coetzee, 'wenn man sich bei jeder Anfechtung angegriffen fühlt.'"

Garton Ashs New Yorker Kollege, der Rechtstheoretiker Jeremy Waldron, pocht in seiner Antwort dagegen auf ein Verbot von Hate Speech: "Das Auffälligste an Timothys Kommentar ist, dass er in keinerlei substanziellen Weise den Schaden berücksichtigt, den Hate Speech bei denen anrichtet, die ihre Zielscheibe werden. Die Botschaft, die ein hasserfülltes Pamphlet oder Poster befördert, das jemanden aufgrund seiner Hautfarbe, Religion, Sexualität oder Ethnie angreift, ist ungefähr folgende: Glaub bloß nicht, dass Du hier willkommen bist. Die Gesellschaft um dich herum mag gastfreundlich und nicht diskriminierend erscheinen, doch die Wahrheit ist, dass du hier nicht erwünscht bist, du und deine Familie. Ihr werdet gemieden, ausgeschlossen, geschlagen und vertrieben werden, wann immer wir damit davon kommen. Vielleicht halten wir den Ball im Moment flach. Aber mach es dir nicht bequem. Denk dran, was mit dir und deinesgleichen früher geschehen ist. Fürchte dich."

Kenan Malik dagegen findet in einer ganz neuen Replik die Gesetze gegen Hate Speech viel zu inkonsistent. Die Briten verbieten "beleidigende und bedrohliche" Äußerungen, Dänemark und Kanada "beleidigende und herabsetzende". Israel und Indien verbieten Reden, die religiöse Gefühhle verletzen. "Nun könnte man sagen: Definieren wir also Hate Speech genauer. Aber ich glaube, das Problem sitzt tiefer. Die Gesetze gegen Hate Speech dienen weniger dazu, mit Intoleranz fertig zu werden, als vielmehr hässliche Ideen oder Argumente als unmoralisch zu brandmarken. Es ist ein Weg, bestimmte Ideen illegitim zu machen, ohne sie politisch bekämpfen zu müssen."
Archiv: Eurozine

New Yorker (USA), 07.05.2012

Sehr spannend und irgendwie auch lehrreich erzählt David Kushner die Geschichte von George Hotz, dem es 2007 als Siebzehnjähriger gelang, sein Iphone so zu programmieren, dass es in jedem beliebigen Wireless-Netzwerk funktionierte, und der damit zum berühmtesten Hacker der Welt wurde. Eingangs erklärt Kushner die Philosophie des Hackens: "Bei jedem Hack stellt sich einem die gleiche elementare Herausforderung: Wie kriegt man etwas auf eine Art und Weise zum Laufen, für die es nicht bestimmt war. In dieser Hinsicht ist Hacken ein Akt der Hypnose. Wie Hotz es beschreibt, besteht das Geheimnis darin herauszufinden, wie man mit dem Gerät spricht, und es dann davon zu überzeugen, den eigenen Wünschen zu gehorchen. Nach wochenlangen Forschungen zusammen mit anderen Hackern fand Hotz heraus, dass wenn er einen Chip in dem Gerät dazu bringen könnte zu glauben, dass er eliminiert sei, man mit dem Gerät reden konnte 'wie mit einem Baby, und es ist echt ziemlich leicht, ein Baby von etwas zu überzeugen'."

Weiteres: James Wood bespricht die historischen Romane "Bring Up the Bodies" und "Wolf Hall" von Hilary Mantel, die um Thomas Cromwell und die Tudors kreisen. Und Emily Nussbaum stellt die erfolgreiche Fantasy-Fernsehserie "Game of Thrones" vor. Aus dem letzten Heft online gestellt ist die Reportage von Ken Auletta über das nahtlose Zusammenspiel von Silicon Valley und Stanford, auch die "get rich u." genannt.
Archiv: New Yorker

Vanity Fair (USA), 01.05.2012

James Kaplan bereitet den roten Teppich für den grandiosen Autor Aaron Sorkin, der schon die Drehbücher von "West Wing" oder "The Social Network" verfasst hat, und nächsten Monat seine neue Serie "The Newsroom" bei HBO rausbringt: "'Ich bin beim Schreiben ziemlich wortlastig', sagt Sorkin, was milde ausgedrückt ist. In einer Zeit, in der die Bilder zum großen Teil die Wörter verdrängt haben, und viel Film- und Fernsehdialoge kaum mehr als eine Abfolge von Ein- oder Halbzeilern sind, lehnen sich Sorkins Drehbücher an die leidenschaftlichen, idealistischen und wortreichen Skripte an, die Robert Riskins einst für Frank Capra schrieb... 'Der Witz bei Aaron ist, dass man jede Woche ein ganzes Broadway-Stück lernen muss, sagt [Hauptdarsteller] Jeff Daniels. 'Wir kommen nicht mit einer Waffe um die Ecke und rufen vielleicht mal 'Vorsicht'. Wir kommen um die Ecke und geben Sorkin. Und zwar Sorkin mit 90 Meilen die Stunde, mit der ganzen Musikalität und dem Rhythmus. Dialoge müssen zack zack aus dem Mund kommen - das ist was anderes, als beim Schauspielern schnell zu sprechen. Die Charaktere sind alle sehr schlaue Leute, sie denken schnell, sie reden schnell - und die Zuschauer müssen mithalten."
Archiv: Vanity Fair

Al Ahram Weekly (Ägypten), 25.04.2012

Das Volk hat Mubarak gestürzt. Und jetzt verrät es die Revolution, indem es den Islamisten zur Macht verhilft, die Mubaraks Unterdrückungssystem eins zu eins übernehmen werden, so das bittere Fazit des ägyptischen Schriftstellers und Fotografen Youssef Rakha. Hat Rakha kein Vertrauen in den demokratischen Prozess? Ist er gar islamophob? Islamisten würde er darauf antworten: "Im Gegenteil, ihr seid ISLAMOPHIL, und ich habe jedes Recht mich über die Konsequenzen eurer rückständigen und rücksichtslosen kapitalistischen Politik zu sorgen, über die Art, mit der ihr euch auf Grundlage islamischer Gesetze in mein Privatleben einmischen könnt und über die grundlegende Widersprüchlichkeit in eurem Gebrauch liberal-demokratischer Mittel, die am Ende in eine totalitäre Theokratie führen werden. Meinen liberalen Freunden, den Cyberaktivisten und Revolutionären würde ich dagegen nur sagen, ihr seid PROTESTOPHIL. Ihr badet immer noch in der Euphorie über Mubaraks Rücktritt. Ihr wollt die Tatsache nicht akzeptieren, dass ihr trotz eurer besten Absichten zu Randerscheinungen in einem politischen Prozess geworden seid, den ihr nur ablehnen könnt."
Archiv: Al Ahram Weekly
Stichwörter: Rakha, Youssef, Seide, Theokratie

n+1 (USA), 01.05.2012

Sarah Resnick nimmt einen gruseligen Artikel in Wired über das neue Datenzentrum der National Security Agency in Utah zum Anlass, mit dem Hacktivisten Jacob Appelbaum über moderne Überwachungsmethoden zu sprechen. Appelbaum ist Mitbegründer von Tor, einem Netzwerk zur Anonymisierung von Verbindungsdaten (mehr hier), und das einzige namentlich bekannte amerikanische Mitglied von Wikileaks. Appelbaum erklärt Resnick, wie moderne Überwachung funktioniert, warum heute potentiell jeder überwacht wird und warum Datenanalyse, wie man sie in großem Stil in Utah betreiben kann, die Grundlage jeder Überwachung ist: "Regel Nummer 1 der Signals Intelligence ist, man sucht nach reinem Text oder nach Informationen über elektronische Signale - wer spricht mit wem." Diese Information ist noch wichtiger als zu wissen, was gesagt wird, so Appelbaum. "Sie beobachten dich, sie machen Notizen, aus den Metadaten deines Lebens schließen sie darauf, was du tust. Sie können die Daten benutzen, um eine Zelle zu identifizieren oder eine Gruppe von Menschen - wie auch immer sie das in ihrem Jargon nennen, in dem Aktivisten zu Terroristen werden. Und über diese Identifizierung können sie sich Richtung Zielgruppenüberwachung bewegen, weshalb es so wichtig ist, vor allem diese Informationen [wo man ist und mit wem man kommuniziert] geheim zu halten." Und soll keiner sagen, das interessiere ihn nicht, er habe nichts zu verbergen! "Wenn du keine Straftat begangen hat, dann gibt es überhaupt keinen Grund dafür, dass sie Informationen über dich sammeln."
Archiv: n+1

New Republic (USA), 10.05.2012

Mit dem Erfolg ihres zweiten Albums "21" ist Adele in die Top Ten der Top Money Makers im Musikgeschäft aufgestiegen und damit "eine von nur vier Frauen, die jemals 13 Wochen und länger mit einem Album auf der Nr. 1 der Charts standen. Adele ist damit neben Judy Garland, Carole King und Witney Houston eine der vier Göttinnen der Billboard Charts", schreibt David Hajdu, der auch sonst einige Gemeinsamkeiten zwischen diesen Musikerinnen sieht. Zum Beispiel waren sie alle superclean, als sie ihre größten Erfolge feierten. Das galt auch für die bei ihrem Konzert in der Carnegie Hall 1961 39-jährige Judy Garland: "Meine Mutter liebte die Garland-Platte, und sie war kein schwuler Mann. Wie Adele für eine andere Generation war Garland in ihrer Zeit ein weibliches Popidol mit einer mächtigen weiblichen Fangemeinde. Ich vermute, meine Mutter sah in Garland ein Rollenmodell für die mittleren Jahre, sie war das Symbol einer komfortabel enterotisierten mittelalten Stärke. Und ich denke für meine Nichten, deren Facebook-Playlists sich vor allem aus Songs aus Adeles Alben 19 und 21 zusammensetzen, steht Adele möglicherweise für etwas gar nicht so verschiedenes: eine Stärke, die komfortabel enterotisiert ist für Jugend in einer Zeit, in der junge Menschen bereits genug Sex in ihrem Leben haben."

Wenn man Judy Garland bei diesem Auftritt in den frühen Sechzigern sieht, versteht man, was Hajdu meint:



Außerdem: Eric Trager stellt den Muslimbruder Mohammed Morsi vor, der Ägyptens nächster Präsident werden könnte. Richard J. Evans bespricht lobend David Stahels Militärgeschichtsbuch "Kiev 1941: Hitler's Battle for Supramcy in the Middle East". Und Matthew Kaminski bespricht Lawrence Scott Sheets Reportagebuch über den Zusammenbruch der Sowjetunion, "Eight Pieces of Empire: A Twenty Year Journey Through the Soviet Collapse".
Archiv: New Republic

Merkur (Deutschland), 01.05.2012

In einem fundierten Beitrag trägt Beatle Rössler, Professorin für praktische Philosophie in Amsterdam, die moralischen, statistischen und rechtlichen Argumente für die Frauenquote zusammen. Dass trotz der aus ihrer Sicht eindeutigen Benachteiligung von Frauen viele jüngere Frauen (wie Familienministerin Kristina Schröder) die Quote ablehnen, führt Rössler auf "das Selbstmissverständnis" einer Generation von Frauen zurück, die in der Illusion von Gleichberechtigung aufgewachsen sei. Tatsächlich ist die Diskriminierung allgegenwärtig, wie auch Rössler erst kürzlich wieder feststellen musste: "Während ich Material sammle, Aufsätze und Statistiken lese, im Internet nach neueren europäischen Rechtsentwicklungen zum Thema Quotierung suche, fällt mir der neue Merkur in die Hände, vom Februar 2012. Die Autoren: nur Männer. Das ist natürlich nicht sonderlich komisch. Ist es Zufall, wenn in Zeitschriften mit sehr allgemeiner Thematik ('Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken') nur männliche Autoren schreiben?"

Der Soziologe Stefan Schulz überlegt, ob die Piratenpartei ihre politischen Ziele nicht eher erreichen könnte, wenn sie hierarchisch wie eine klassische Partei aufgebaut wäre: "Für Mitglieder der Piratenpartei liest sich das wie ein Kulturverrat. Ist es doch gerade Offenheit und Zugänglichkeit für jedermann, was die Partei ausmacht und von allen anderen Parteien unterscheidet. Doch müssen sich die Mitglieder der Partei entscheiden, ob sie ihre Themen basisdemokratisch innerhalb der Parteiorganisation oder machtpolitisch in der Gesellschaft diskutieren wollen. Das Letztere erfordert Strategie und Planung, also die bewusste Limitierung, den Verzicht auf Potentiale und die arbeitsteilige Bündelung von Engagement zugunsten weniger, aber zielsicherer Aktionen. Die Piratenpartei müsste ihre rationalen und technologiegestützten Prinzipien der Wissensakkumulation und Mehrheitenmathematik aufweichen und dafür das Spiel der Massenmediendemokratie mitspielen."

In der Internetkolumne kritisiert Kathrin Passig die Berichterstattung über die Selftracking-Plattform quantifiedself.org, bietet einen kurzen Abriss der empirischen Selbstbeobachtung und stellt fest, dass es die verschiedensten Gründe gibt, sein Freizeitverhalten statistisch auszuwerten: "Letztlich ist es ein aufklärerischer Gedanke: Habe Mut, dich deiner eigenen Daten zu bedienen."
Archiv: Merkur

Rolling Stone (USA), 01.05.2012

Michael Hastings schreibt eine spannende Reportage über Geschichte und Auswirkungen von Dronen, die es mehr denn je gestatten, punktuelle und als kriegerische Auseinandersetzungen klassischen Zuschnitts kaum mehr bezeichenbare Militäreinsätze durchzuführen: "Für eine neue Generation junger Draufgänger unterscheidet sich die Erfahrung, eine Drone zu steuern, kaum mehr von den Videospielen, mit denen sie aufgewachsen sind. Anders als traditionelle Piloten, die ihre Sprengladung physisch zum Ziel transportieren, töten die Dronenoperatoren ohne je ihre Basis zu verlassen mit einem bloßen Knopfdruck - ein Rückzug, der allein dem Zweck dient, die Sensibilität dafür, was es heißt, ein Menschenleben zu nehmen, herabzusenken (der Slangausdruck im Militärjargon für einen Mensch, der von einem Droneneinsatz getötet wurde, lautet "Insektenspritzer", da dessen Leiche im grünlich-verrauschten Videobild an ein totgeschlagenes Insekt erinnert)."

Außerdem in der aktuellen Ausgabe: Jann S. Wenner unterhält sich ausführlich mit Barack Obama über vier Jahre Präsidentschaft im Rückblick und die kommende Wahlkampfkampagne.
Archiv: Rolling Stone

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.04.2012

Der italienische Schriftsteller Claudio Magris war im April Ehrengast des Budapester Buchfestivals. Am Rande des Festivals sprach er auf einer vom Kunsthistoriker József Mélyi moderierten Podiumsdiskussion mit seinem ungarischen Kollegen Péter Esterházy über Mitteleuropa, Nostalgie und Provinzialität. Dass nun Magris einst von einem Journalisten als "kosmopolitischer Provinzialist" beschrieben wurde, findet Esterházy ziemlich zutreffend, denn diese Formulierung beschreibe einerseits Offenheit und andererseits das Gefühl, Zuhause zu sein an dem Ort, an dem man lebt. Magris zufolge müsste dies aber für jeden freien Menschen gelten: "Wie jene Kinder zum Beispiel, die in einem kleinen Hinterhof spielen; sie lieben den Hof und reden im örtlichen Dialekt, aber sie suchen dort nicht das Lokale und Provinzielle, sondern das Spiel und das Abenteuer. Zum Weltbürger wird man durch die Art, wie man mit seinen Freunden in einem Hinterhof spielt - ganz gleich, ob dies in einer Großstadt oder in einer kleinen Ortschaft in der Provinz geschieht." Esterházy ergänzt dies mit den Worten: "Provinzialität entsteht allerdings nicht aus einer freien Entscheidung, sondern aus Angst. Wenn du im Hof spielst und dich vor der Welt außerhalb des Hofes fürchtest, bleibst du im Hof. ... Heute schließen wir alle Fenster, vor allem aus Angst. Diese Angst ist nicht ganz unbegründet, weil sich der Mensch in der Welt, die außerhalb des Hofes existiert, nicht zurechtfindet."

In einem anderen Teil des Gesprächs erwähnt Magris den Protest gegen sein erstes Buch ("Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur") in Österreich, weil er sich darin gegen die Nostalgie gewandt habe, und er erinnert an Joseph Roth, der seine Liebe zum Habsburger Reich und zu Österreich mit seiner früheren Rebellion gegen Franz Joseph I. rechtfertigte: "Dies ist die Treue, die aus der Rebellion entsteht. Ohne Revolte ist jede Treue falsch, und die Nostalgie ist überhaupt und in jeder Hinsicht immer das Falscheste. Mein Freund, der Dichter Biagio Marin hat einmal gesagt, dass die Vergangenheit nicht existiere. Es gibt entweder nur Fakten, die einst eine Funktion hatten, nun aber nicht mehr - mein vor zehn Jahren gültiger Reisepass beispielsweise hat keinen Sinn mehr. Oder es gibt Werte, Gefühle, Menschen, die schlichtweg existieren. Sie sind nicht Objekte der Nostalgie, man kann sie lieben oder hassen, sie sind aber nicht Teil der Nostalgie, des Zurücksehnens. Jeder Mensch, den wir einst geliebt hatten, ist präsent. Shakespeare ist ein Dichter, sagen wir, und nicht, dass er ein Dichter war. Nostalgie ist Fälschung, falsch gegenüber Gefühlen und Menschen. Und auch gegenüber der Geschichte, die sie beschönigt."

Wired (USA), 24.04.2012

Steven Levy nutzt seine letzte Chance - bevor er endgültig durch einen Computer ersetzt wird - für eine Reportage über Narrative Science, eine News-Software, die aus Datenakkumulationen Nachrichten generiert und deren geistiger Vater nicht eben unbescheiden ist: Binnen fünf Jahren rechnet er mit dem ersten Pulitzer für einen Computer, in 15 Jahren sieht er 90 Prozent aller Nachrichten automatisiert erstellt: "Der Schreibautomatismus von Narrative Science benötigt mehrere Schritte. Zunächst müssen qualitativ hochwertige Daten angesammelt werden. Aus diesem Grund sind Finanz- und Sportnachrichten die naheliegendsten Themen: Beide beinhalten die Flut von Zahlen - Umsatz pro Verkauf, Aktienspekulationen, Baseball-Statistiken. Und Statistikgeeks erstellen ständig neue Daten, die eine Story anreichern können. ... Dann müssen die Algorithmen diese Daten einem breiteren Verständnis der Sache angepasst werden (sie müssen zum Beispiel wissen, dass immer das Team mit der höchsten Anzahl von 'runs' zum Sieger eines Baseballspiels erklärt wird). Deshalb erstellen die Programmierer von Narrative Science ein Regelwerk, das jeden Sachverhalt erläutert, ob es sich dabei nun um Geschäftsumsätze oder um ein Sportereignis handelt. Doch wie wandelt sich diese Analyse in Fließtext? Zu diesem Zweck hat die Firma ein Team von 'Meta-Schreibern' eingestellt, ausgebildete Journalisten, die ein Set von Mustervorlagen erstellen."

Weiteres: Den Start der neuen Interviewreihe "Wired Icons" macht ein ausführliches Gespräch mit Marc Andreessen, der vor knapp 20 Jahren mit Mosaic den ersten grafikfähigen Browser programmiert hat, eine "Innovation, die vielleicht mehr als alles andere dafür verantwortlich ist, dass sich das Internet popularisierte". Seth Stevenson berichtet, welche Konsequenzen die Klout-Angaben haben, die anhand von Social-Media-Profilen den Einfluss von Menschen quantifizieren. Thomas Goetz gibt Tipps, wie sich zukünftige Entwicklungen frühzeitig abschätzen lassen. Dazu befragt Joana Pearlstein Leute aus der IT-Branche nach deren Methoden, darunter sehr sympathisch WWW-Pionier Tim O'Reilly: "Der Mythos der Innovation lautet, dass an ihrem Anfang immer ein Unternehmer steht, tatsächlich ist es aber so, dass am Anfang immer Leute stehen, die Spaß haben."
Archiv: Wired

Polityka (Polen), 30.04.2012

Deutschland ist in den letzten Jahren regelmäßig von Polen überrascht worden, notiert nicht unzufrieden Wawrzyniec Smoczy?ski: erst mit der Wahl des pro-europäischen Donald Tusk 2007, dann im besonnenen Umgang mit der Finanzkrise 2008 und schließlich mit dem Eintreten für Merkels Weg in der Griechenlandkrise. Tatsächlich verbindet die beiden Länder jedoch längst schon viel mehr als sie trennt, meint Smoczy?ski: "Wer zu Beginn der Neunzigerjahre nicht auf den Kopf gefallen war, nahm die einmalige Chance wahr: ein hoch entwickeltes Land mit riesigem Kapital gleich neben dem zurückgebliebenen Land mit billigen Arbeitskräften - jede Seite hatte das, was die andere dringend brauchte, und getrennt waren sie nur durch die Oder. Deshalb schloss sich Polen wirtschaftlich Deutschland an, lange bevor es der EU beigetreten ist. Deutschland ist in dieser Verbindung die stärkere Seite, aber man kann kaum von Dominanz sprechen - es hat uns einen gewaltigen Teil an Industrie aufgebaut, wir haben von Deutschland Produktionstechnologien und Verwaltungsmethoden bekommen. Niemand hat uns dazu gezwungen, und wenn dieser Transfer gelungen ist, dann aus einem einfachen Grund: Wir haben eine ähnliche Wirtschaftsmetalität wie die Deutschen."
Archiv: Polityka

New York Times (USA), 29.04.2012

Die amerikanische Journalistin und Dichterin Eliza Griswold lernt in Afghanistan über Mirman Baheer, eine Frauenorganisation für Schriftstellerinnen, Meena Muska kennen, eine junge Witwe, die wahrscheinlich bald einen der Brüder ihres verstorbenen Mannes heiraten muss. Sie lebt in der Provinz und ruft heimlich bei Mirman Baheer an, um einer Frau dort ihre Gedichte zu diktieren. "Als ich frage, wie alt sie ist, antwortet Meena mit einem Sprichwort: 'Ich bin wie eine Tulpe in der Wüste. Ich sterbe, bevor ich mich geöffnet habe und der Wüstenwind bläst meine Blütenblätter fort.' Sie wusste nicht, wie alt sie war, vielleicht 17. 'Weil ich ein Mädchen bin, kennt niemand meinen Geburtstag', sagt sie." Meena hat nur wenige Jahre die Schule besucht. "Gedichte sind die einzige Form von Erziehung, zu der sie Zugang hat. Sie trifft keine Fremden. 'Ich kann vor meinen Brüdern keine Gedichte aufsagen', sagt sie. Liebesgedichte werden als Beweis für eine verbotene Beziehung angesehen, für die die Meena geschlagen oder getötet werden kann. … Ich bin die neue Rahila', sagt sie. 'Nimm meine Stimme auf, damit etwas von mir übrig bleibt, wenn ich getötet werde.'"

Außerdem im NYT Magazine: In den USA werden immer mehr Gesetze erlassen, die schwangere Frauen kriminalisieren, die durch ihre Lebensgewohnheiten ihren Fötus gefährden, berichtet Ada Calhoun. Pat Jordan porträtiert den Schauspieler Samuel L. Jackson. Zachary Woolfe stellt den Komponisten Gabriel Kahane vor, der klassische Musik, aber auch Pop komponiert (und das bitte nicht durcheinandergebracht haben möchte.)

Auf den Technologie-Seiten berichten Charles Duhigg und David Kocieniewski über die miese Steuermoral amerikanischer Internetgiganten wie Google, Apple, Microsoft, Yahoo oder Dell. Besonders hervorgetan hat sich auf diesem Gebiet Apple, das eine Technik erfunden hat, die als "Double Irish With a Dutch Sandwich" berühmt wurde und mit der man Steuern reduzieren kann, indem man Profite über Irland, die Niederlande und dann in die Karibik verschiebt. "Im letzten Jahr hat Apple auf der ganzen Welt insgesamt 3,3 Milliarden Dollar Steuern auf Profite von 34,2 Milliarden Dollar bezahlt. Das ist eine Steuerquote von 9,8 Prozent ... Zum Vergleich: Wal Mart zahlte letztes Jahr weltweit 5,9 Milliarden Steuern auf Profite von 24,4 Milliarden Dollar. Das ist eine Steuerquote von 24 Prozent, ungefähr der Durchschnitt für eine Nicht-Technologie-Firma."
Archiv: New York Times