9punkt - Die Debattenrundschau

Fortschreibung der bisherigen Ordnungsmuster

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.03.2021. Hanno Loewy verteidigt in der taz die "Jerusalemer Erklärung" zum Antisemitismus, die Israelboykott nicht "per se" als antisemitisch sehen will. Die SZ fragt, wie die postkolonialen Autoren auf die Idee kommen, dass "deutsche Erinnerungspolitik heute einer Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte im Wege" stehe. In Zeit online plädiert Michael Rothberg für eine Ethik des Vergleichens. Die FAZ berichtet über Folter an Alexei Nawalny im Straflager.  Die taz liest einen offiziellen Bericht zur französischen Mitverantwortung am Genozid in Ruanda.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.03.2021 finden Sie hier

Ideen

200 Universitätsleute, darunter Aleida Assmann oder Wolfgang Benz, aber auch viele jüdische und israelische Autoren haben eine "Jerusalem Declaration" zur Definition des Antisemitismus vorgelegt, deren Zweck es ist, Israel-Boykott nicht "per se" als antisemitisch gelten zu lassen - und also zuzulassen (unser Resümee). Die Deklaration schließt an die Mbembe-Debatte in Deutschland und ein Papier von Kulturintendanten, die den Israelboykott verteidigen, an (mehr dazu hier). In der taz verteidigt Hanno Loewy, selbst Unterzeichner, das Papier: "Nein, es geht beim Streit um BDS in Wirklichkeit überhaupt nicht um BDS, es geht darum, ob man eine andere Verfasstheit Israels fordern darf und ob Juden über ihr Leben in der Diaspora selbstbestimmt entscheiden dürfen oder nicht."

In der SZ erklärt Felix Stephan, warum die Antisemitismus-Definition so umstritten ist: Rechte Revisionisten versuchten seit Jahren den Holocaust zu relativieren und "die Vorstellung durchzusetzen, dass Genozide nun einmal etwas seien, was in der Geschichte hier und da vorkomme, und es sich bei der intensiven deutschen Beschäftigung mit dem Holocaust folglich nur um einen 'Schuldkult' handeln könne, eine von den Alliierten - und damit nicht zuletzt: den Juden - installierte Ideologie zur Entmannung des deutschen Volkes. ... In diesem Sinne ist es nicht ohne Ironie, dass die deutschen Revisionisten nun einen deutungsstarken Verbündeten ausgerechnet in der internationalen, linken, postkolonialen, akademischen Klasse gefunden haben. Ihr Vorwurf lautet, dass die deutsche Erinnerungspolitik heute einer Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte im Wege steht."

Im Interview mit Zeit online hält Michael Rothberg, Autor des bei diesem Thema viel zitierten Buches "Multidirektionale Erinnerung", das nicht wirklich für ein Problem. Man müsse einfach nur genau hingucken, warum jemand vergleicht: "Das Problem mit Nolte und den anderen konservativen Intellektuellen der Achtzigerjahre bestand nicht einfach darin, dass sie den Holocaust verglichen, sondern wie und warum sie ihn verglichen. Anders gesagt: Wir brauchen eine Ethik des Vergleichens in solchen Fällen: um sehen zu können, wann ein Vergleich im Namen der Solidarität zwischen verschiedenen Opfergruppen durchgeführt wird und wann er dem ausdrücklichen Zweck der Entlastung dienen soll, wie es bei Nolte der Fall war. Wir müssen Vergleiche vergleichen!" Führt das am Ende nicht darauf hinaus, dass der ethische Vergleich des einen zum Entlastungsvorwurf bei einem anderen wird? Kurz: die Ethik hängt dann ganz davon ab, wer spricht?

Außerdem: Ebenfalls in der taz verteidigt die Linguistin Lann Hornscheidt ihre neue Vorschläge zum Gendern. Und Katja Gelinsky beleuchtet in der FAZ den Streit um Freiheit und Gleichheit in der Corona-Pandemie.
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Religion

In der FAZ fordert der Kirchenrechtler Hans Michael Heinig im Blick auf Diskussionen über das Verhältnis von Staat und Religion für Deutschland "eine Fortschreibung der bisherigen Ordnungsmuster unter veränderten Vorzeichen".
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Politik

Eine von Emmanuel Macron beauftragte Historikerkommission hat einen tausendseitigen Bericht (hier als pdf-Dokument) über Frankreichs Mitverantwortung am Völkermord gegen die Tutsi in Ruanda vorgelegt. Besonders François Mitterrand und seine Berater schneiden schlecht ab, berichten François Misser und Dominic Johnson in der taz: "Es bestehe eine 'politische' Verantwortung: 'die französischen Behörden haben eine fortdauernde Blindheit in ihrer Unterstützung eines rassistischen Regimes bewiesen'. Es gebe 'institutionelle' Verantwortungen: Missachtung von Dienstwegen, parallele Kommunikations- und Befehlsketten bei Präsident Mitterrand und seinen Konsorten, die ihre Macht missbraucht hätten. Und es gebe 'intellektuelle' Verantwortung: Mitterrands Berater hätten gegenüber der Öffentlichkeit die ruandische Realität verzerrt, indem sie von einem ethnischen Konflikt zwischen Hutu und Tutsi sprachen und von einem Bürgerkrieg, als es um einen organisierten Völkermord ging." In der FAZ berichtet Michaela Wiegel.

Donald Trump hat sich durch ein "faules Abkommen mit den Taliban" aus dem Afghanistankrieg verabschiedet. Afghanistan wird darum zum Testfall für die neue Linie der Biden-Regierung, so Richard Herzinger in seinem Blog. "Namentlich die afghanischen Frauen würden unter der Taliban-Herrschaft erneut ihrer Rechte beraubt und wären schutzlos dem Sadismus der islamistischen Fanatiker ausgeliefert. Ließe Biden das zu, würde sich sein Leitmotiv 'America is back' nicht nur aus dem Blickwinkel der Opfer in zynischen Hohn verwandeln."
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Europa

Alexej Nawalny wird in dem Straflager, in das er als Strafe für sein Kritik am Putin-Regime gesteckt wurde, gefoltert, berichtet Kerstin Holm in der FAZ. Ihm werden Medikamente und Behandlungen gegen starke Rückenschmerzen versagt. "Außerdem wird Nawalny, dem die Strafvollzugsbehörde Fluchtneigung bescheinigte, nachts jede Stunde geweckt, wobei ein Wächter mit Scheinwerfer laut verkündet, dass der Häftling Nawalnyj jetzt überprüft werde, und ihn fotografiert."

In Großbritannien hat ein Lehrer angeblich Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo gezeigt, berichtet Daniel Zylbersztajn-Lewandowski in der taz. Eltern protestierten. "Gary Kibble, der Direktor der Schule, die viele Kinder muslimischen Glaubens besuchen, hatte sich in der vergangenen Woche für den Vorfall öffentlich entschuldigt. Der betroffene Lehrer sei beurlaubt worden. 'Es war klar, dass das Material, welches in der Schulstunde benutzt wurde, völlig zweckwidrig war und das Potenzial hatte, Mitglieder unserer Schulgemeinschaft schwer zu beleidigen' sagte er. Der Fall werde nun weiter untersucht. Der Lehrer wurde zu seiner Sicherheit an einen unbekannten Ort gebracht."

Unter den Schülern gab es laut Gina Thomas in der FAZ auch Verteidiger des Lehrers, die allerdings bizarr argumentierten: "Einige Schüler hingegen lancierten eine Unterschriftensammlung, die sich mit dem Lehrer solidarisch zeigte. Sie hätten mit Islamfeindschaft nichts im Sinn, sondern glaubten, dass die Karikaturen dazu dienen sollten, zu zeigen, 'wie widerlich Rassismus tatsächlich sein kann und weil die Welt es verdient, die Wahrheit zu kennen'. Was für eine Karikatur gezeigt wurde, ist gar nicht klar. Thomas sprich von der "Charlie Hebdo-Zeichnung des Propheten mit einer Bombe im Turban". Das wäre dann allerdings die Zeichnung von Kurt Westergaard, die im Streit um die dänischen Mohammed-Karikaturen berühmt wurde.

In der Welt erklärt Margrethe Vestager, Vizepräsidentin der EU-Kommission, sie wolle Europa "grüner, digitaler und widerstandsfähiger" machen, was allerdings einen fairen Wettbewerb voraussetze: "Damit wettbewerbsfähige und offene Märkte entstehen, ist es nicht ausreichend, nur zu kontrollieren, was die Unternehmen tun. Es muss außerdem sichergestellt werden, dass der Staat den fairen Wettbewerb nicht durch die Förderung einiger Unternehmen verzerrt." Ob sie damit auf die staatliche Förderung der alten Verlage der Printpresse in Deutschland anspielt (mehr hier), von der die neuen digitalen Medien ausgeschlossen sind?
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Gesellschaft

In den USA musste die 27 Jahre alte Alexi McCammond zwei Wochen, nachdem sie ihren Job als erste afroamerikanische Chefredaktorin der Teen-Vogue angetreten hatte, wieder zurücktreten, berichtet Sarah Pines in der NZZ. Der Grund: zehn Jahre alte Tweets, in denen sie nach einer Party schrieb, "sie ergoogle gerade, wie man verhindern könne, mit 'asiatisch' geschwollenen Augen aufzuwachen. An anderer Stelle hatte sie sich über eine asiatische Lehrkraft beschwert, die ihr eine schlechte Note gegeben hatte. Außerdem war sie einmal in einem 'indianischen' Halloween-Kostüm gesichtet worden, was heute ebenfalls als Affront gegenüber indigenen Völkern gewertet werden kann. ... In den amerikanischen Medien stößt der Rausschmiss McCammonds auf viel Beifall. Dass nun unter der Ägide einer vornehmlich weißen Empörungskultur asiatische und schwarze Minderheiten gegeneinander aufgehetzt werden, entbehrt nicht einer gewissen Ironie."

Ronya Othmann hat eine neue Kolumne in der FAS. In ihrem ersten Text rät sie intersektionalen Feministinnen, sich auch um Themen wie Zwangsheirat zu kümmern, die sie bisher eher meiden: "Der Kampf gegen Gewalt an Frauen sollte das Kerngeschäft des Feminismus sein. Bei all den Grabenkämpfen und Begriffsklaubereien: Themen wie Zwangsheirat müssen wieder in den Blick aller Feminist*innen geraten. Zu schweigen, aus Angst rassistische Ressentiments zu bedienen, geht auf Kosten der Betroffenen."

In der SZ plädiert die Autorin Mithu Sanyal für mehr Experimentierfreude und Gelassenheit in der Diskussion über die Beschreibung von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen. Aber sie erkennt auch das Grundproblem daran: "Wie können wir Menschen bezeichnen, die nicht viel mehr vereint als Diskriminierungserfahrungen, ohne sie wiederum auf diese zu reduzieren?"
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Medien

Zeitungen haben es bisher nicht geschafft, einen gemeinsamen Pool für Bezahlinhalte anzulegen oder einzelne Artikel preiswert kaufbar zu machen. Lesern bleibt dann allenfalls der Gang in die Bibliothek, wenn sie einen bestimmten Artikel lesen wollen. Oder sie benutzen die Datenbank Genios über das Bibliotheksnetzwerk VÖBB. Allerdings war zuletzt auch Genios hier wegen eines neuen Tools, das die Benutzung vereinfacht, auf Druck der Zeitungen gesperrt, berichtet Arne Semsrott bei heise.de - und warnt: "Es wäre nämlich durchaus möglich, dass bald Programmierer:innen auf die Idee kommen, eine Art Sci-Hub für deutsche Nachrichtenseiten zu entwickeln - also eine Plattform, auf der auch aktueller Paywall-Content von Nachrichtenseiten frei zur Verfügung steht, mit Servern in Russland oder anderen Jurisdiktionen, die für deutsche Ermittler außer Reichweite sind. Vielleicht würden dann Bibliotheken auch wieder ein attraktiverer Partner für die Verlage werden."
Archiv: Medien
Stichwörter: Medienwandel, Zeitungskrise