Mord und Ratschlag

Bei der Spitze dieses blutigen Dolches

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
16.07.2018. Lisa McInerney erzählt in ihrem rabenschwarzen Debüt "Glorreiche Ketzereien" aus einem postkatholischen Irland, in dem die Heilige Dreifaltigkeit höchstens noch dem heillos unorganisierten Verbrechen dient. Gianrico Carofiglio ergründet in "Kalter Sommer" die Entstehung der Mafia in Apulien.

Cover: Glorreiche KetzereienVon all den jungen Autorinnen, die gerade Irlands Literatur aufmischen, ist Lisa McInerney die populärste. Als Sweary Lady errang sie Kultstatus mit ihrem inzwischen abgeschalteten Blog "Arse End if Ireland", auf dem sie von ihrem Leben als alleinerziehende Mutter in einer Sozialsiedlung am Rande von Cork erzählte. McInerney ist echte Workingclass. Für ihren ersten Roman "Glorreiche Ketzereien" wurde sie mit Preisen überschüttet, unter anderem bekam sie den hochdotierten Baileys Women's Prize.

Auch "Glorreiche Ketzereien" spielt sozusagen am Arsch von Cork. Hier lebt der junge Kleindealer Ryan Cusack mit seinem Vater und seinen fünf Geschwistern in einem dieser armseligen Reihenhäuser, in deren Gärten ständig etwas brennt. "Sein Vater mochte vieles sein, aber bestimmt nicht verantwortungsvoll. Oder mutig. Oder rechtschaffen." Nein, Tony Cusack ist ein Säufer und ein ausgeprägtes Exemplar jener Gattung, die sich und andere immer wieder in die Grütze reiten. Der fünfzehnjährige Ryan ist zwar voller Liebe zu seiner superklugen und wunderschönen Freundin Karine D'Arcy (!), doch er schlägt nach seinem Vater ebenso wie nach seiner toten sizilianischen Mutter: Immer wenn es drauf ankommt, entscheidet er sich für die dümmste und verhängnisvollste Option.

Die Dinge geraten aus ihrem prekären Gleichgewicht, als die leicht verrückte Maureen einen Einbrecher erschlägt. Maureen ist die Mutter des Gangsterbosses Jimmy Phelan und nach vierzig Jahren aus London zurückgekehrt, wohin sie als Mutter eines unehelichen Kindes verbannt worden war. Immerhin nicht in die Wäscherei eines Magdalenenhauses. "Ich hab ihm eins drauf gegeben", bekennt sie offenherzig. "Mit dem Heiligen Stein. Ich wollte nicht die Oberhand verlieren, nur für den Fall, dass er der Nikolaus gewesen wäre." Der heilige Stein ist eine besonders scheußliche Devotionalie, und so verbucht der modern-pragmatische Jimmy Phelan den Toten auf das Konto von "Irlands künstlerischer Ignoranz". Aber auch Jimmy hat seine sentimentale Seite. Er spannt ausgerechnet seinen alten Freund ein, den Unglücksraben Tony Cusack, um die Bescherung in der Küche seiner Mutter zu beseitigen.

"Glorreiche Ketzereien" ist eigentlich kein Krimi, auch kein Thriller. Der Roman ist eine pechschwarze Komödie, die immer wieder ins Tragische kippt. Auf dieses Genre scheinen sich die Iren besonders gut zu verstehen. Lisa McInerney zumindest feuert ihren Witz aus allen Kanonenrohren, manchmal zielt sie etwas ungenau, bisweilen schießt sie auch übers Ziel hinaus. Aber einige Salven sind ziemlich gut platziert, etwa gegen die irische Version der Heiligen Dreifaltigkeit, "Priester, Nonnen und Nachbarn", oder gegen die moderne Variante des alten Alkoholismus, "Gras, Koks und Ecstasy". Im Original noch schöner: "Smoke, coke and yoke."

Dass ausgerechnet die Stadt Cork in diesem Roman unscharf bleibt, ist etwas schade. Über sie heißt es in dem Roman nur, dass sie keine Notiz nehme und stets mit Höherem beschäftigt sei: "Die Wirtschaft, das Parlament und was immer von Irlands Eigenheiten sie diese Woche wieder an Europa verhökern." McInerney fokussiert sich ganz auf ihr verzweifeltes Personal, das einfach nicht auf den grünen Zweig kommt, ob es sich nun bemüht oder nicht.

Todtraurig sind etwa die Passagen, in denen die völlig verlorene Kinderhure Georgie ihren toten Junkie-Freund sucht oder einfach einen Ausweg aus ihrem beklagenswerten Leben. Hier zeigt McInerney, wie kraftvoll und einfühlsam sie schreiben kann, ohne sich in Pointen zu retten. Man muss heulen, wenn sich Georgie ihr Zimmer in Jimmys Bordell mit katholischen Glücksbringern verschönert. Ob es die Kirche freut, dass sich in manchen Vierteln von Cork das postkatholische Irland noch nicht durchgesetzt hat?

Lisa McInerney: Glorreiche Ketzereien. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Liebeskind Verlag, München 2018, 446 Seiten, 24 Euro.

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CoverBisher zeichnete sich Gianrico Carofiglio, der Staatsanwalt aus Bari, vor allem dadurch aus, dass er nicht über die Mafia schrieb. Die Verbrechen in seinen Romanen waren stets denkbar unspektakulär, und seine feinsinnigen Ermittler verbrachten mehr Zeit damit, über den Sinn des Lebens zu grübeln oder der verlorenen Liebe nachzutrauern, als mit handfesten Ermittlungen. Italiens größtes Problem sei nicht das organisierte Verbrechen, betonte Carofiglio immer wieder, sondern die Unfähigkeit, sich selbstkritisch infrage zu stellen.

Das ändert sich in seinem neuen Roman "Kalter Sommer". Der aus Turin stammende Maresciallo Pietro Fenoglio befasst sich zwar immer noch lieber mit Bertrand Russell oder Carlo Emilio Gadda, aber jetzt droht in Bari ein echter Mafiakrieg. Etliche Mitglieder des Clans von Nicola Grimaldi wurden bereits ermordet: Gaetano D'Argostino genannt der Kurze, Capocchiani Michele, genannt das Schwein, und Gennaro Carbone, genannt der Queue. Vermisst werden Simone Losurdo, genannt die Mücke, und Vito Lopez, genannt der Metzger. Und schließlich sickert auch noch die Nachricht durch, dass Grimaldis kleiner Sohn entführt wurde. Mit der Polizei will die Familie selbstverständlich nichts zu tun haben, Hilfe holt sie sich höchstens von einer Wahrsagerin. Die Ermittlungen schleppen sich zunächst ergebnislos dahin, bis vor der Carabinieri-Kaserne Vito Lopez erscheint. Er ist Grimaldis Stellvertreter, der Cleverste der ganzen Truppe und bereit auszusagen. Da er verdächtigt wird, hinter der Entführung des Jungen zu stecken, muss er um sein Leben fürchten.

Der Roman spielt im Sommer des Jahres 1992, der nicht wegen seines schlechten Wetters in die Annalen Italiens eingegangen ist, sondern wegen der Ermordung der beiden Anti-Mafia-Staatsanwälte Giovannni Falcone und Paolo Borsellino durch den sizilianischen Mafia-Clan der Corleonesi. Getötet wurden bei den Anschlägen übrigens auch Falcones Frau, die Staatsanwältin Morvillo und acht Polizeibeamte. Und auch die Abrechnungen in der apulischen Mafia, von denen Carofiglio hier erzählt, haben sich so oder ähnlich in jenem Jahr in Bari zugetragen. Es ist allerdings frappierend, wie undramatisch Carofiglio diese Ereignisse in Szene setzt, die Italien so nachhaltig erschütterten und ihn selbst als jungen Staatsanwalt und späteren Anti-Mafia-Ermittler prägten. Er schildert sie nicht unbedingt beiläufig, eher ein wenig skrupulös, fast unbeholfen. Doch man liest den Roman dadurch nicht weniger gefesselt.

Herzstück des Buchs ist jedoch die Vernehmung des aussagewilligen Kronzeugen. Carofiglio gibt dieses Verhör als protokollarische Abschrift wider, Frage und Antwort im stetigen Wechsel, auf fast über hundert Seiten. Er benutzt dafür jene distanziert-offiziöse Antisprache, über die Italo Calvino einst schrieb, dass sie nichts mit den Bedeutungen der Lebens gemein habe: "Das Hauptmerkmal der Anti-Sprache ist, was ich als 'semantischen Terror' definieren würde, das heißt die Flucht vor jedem Wort, das in sich eine Bedeutung hat."

In dieses Protokoll lässt Carofiglio in einer kunstvoll modifizierten Antisprache ebenso viel Fiktion einfließen wie persönliche Erinnerungen, die Geschichte der apulischen Mafia, die Feinheiten des italienischen Strafgesetzbuchs und die Vernehmungsprozedur und Praxis italienischer Ermittlungsbehörden. Erst müssen die drängenden Fragen geklärt werden, lernen wir, ob Straftaten unmittelbar bevorstehen und wo die Waffen gebunkert sind. Dann kann Vito Lopez auspacken, und zwar schön chronologisch, angefangen bei seinem ersten Mord, für den er natürlich nicht bezahlt wurde, er ist ja kein Killer: "In meinen Kreisen ist die Beteiligung an einem Mord eine ehrenvolle Auszeichnung."

Ihre seltsamen Ränge - Picciotteria, Camorra, Sgarro, Santa, Vangelo, Trequartino, Diritto di medaglione hat Apuliens Mafia von der 'Ndrangheta übernommen, als sie sich in den achtziger Jahren gründete. Die Häftlinge in den apulischen Gefängnissen wollten sich nicht mehr von den anderen süditalienischen Kriminellen unterbuttern lassen: "In apulischen Gefängnissen sollten gefälligst Apulier das Sagen haben und nicht die Drecksäcke von der neapolitanischen Camorra." Wir erfahren auch, wie sich die Clans mit ihrer Mischung aus geheimbündlerischen Ritualen, militärischer Rangordnung und krypto-katholischem Hokuspokus organisieren: "Ich schwöre bei der Spitze dieses blutigen Dolches, dem versammelten Leib dieser Gesellschaft treu zu sein und Mutter, Vater, Brüder und Schwestern bis zur siebten Generation zu verleugnen." Gegenüber diesem komprimierten Verhör fallen die etwas schleppend erzählten Passagen des Romans deutlich ab. Doch man nimmt es Carofiglio nicht übel. Man erkennt das Gemachte und das Konstruierte, aber eben auch das gewissenhaft Überlegte und mit Bedacht Gewählte. Das ist sehr einnehmend.

Gianrico Carofiglio: Kalter Sommer. Ein Fall für Maresciallo Fenoglio. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Goldmann Verlag, München 2018, 352 Seiten, 20 Euro.