Im Kino

Beinahe ein glückliches Ende

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann, Katrin Doerksen
14.05.2020. Kino zum Streamen: Tayarisha Poe strickt in ihrem Highschoolfilm "Selah and the Spades" eine Geschichte über Machtstrukturen und sozialen Druck um ihre weiblichen Figuren. Jungs sind eher nicht von Interesse. In Eric Rohmers "Meine Nacht bei Maud" übt Jean-Louis Trintignant das Sprechen über Blaise Pascal und anderes in einem Winter in Clermont-Ferrand.


Die Aula, das von Flutlicht erhellte Footballfeld, der Eingangsbereich mit der geschwungenen Treppe und das holzvertäfelte Lehrerzimmer - das Haldwell-Internat irgendwo in den Wäldern um Philadelphia ist eine einzige große Bühne und Selah Summers ist ihr Star. Von Lovie Simone majestätisch gespielt, braucht sie nur das Kinn vorzurecken und ihre Zöpfe mit Schwung nach hinten zu werfen und hat damit alle in die Tasche gesteckt. "Selah and the Spades" spielt an einer Highschool, die von fünf Schülerfraktionen kontrolliert wird: Die einen kümmern sich um die Organisation illegaler Parties, andere besorgen die Einser-Essays oder halten die ohnehin kaum präsente Lehrerschaft in Schach. Aber um die Fraktionen geht es eigentlich gar nicht, sondern nur um Selah, die Anführerin der Spades, die das Monopol auf den Verkauf von Drogen und Alkohol halten. Sie steht kurz vor ihrem Abschluss und somit unter hohem Druck, denn ihr Imperium bröckelt und eine würdige Nachfolgerin scheint nicht in Sicht.

Das Spielfilmdebüt von Tayarisha Poe feierte seine Premiere auf dem Sundance Film Festival 2019, steht aktuell auf Amazon Prime und hat Aussichten zur Serie weiterentwickelt zu werden. Der Film selbst gibt jedenfalls mit seiner Offenheit einen idealen Piloten ab. Die Handlung ist elliptisch, gelegentlich schwer nachvollziehbar, und die in den Dialogen versprochenen Exzesse - Parties, mafiöse Strukturen, dunkle Geheimnisse - bleiben düster funkelnde Versprechen. Dennoch herrscht Überfluss in "Selah and the Spades". Poe referenziert mit einer Selbstverständlichkeit die Filme von Wes Anderson und im gleichen Atemzug Rihanna, Ikonen der Bürgerrechtsbewegung und die Arbeiten der Fotografin Petra Collins. Sie komponiert sorgfältige Tableaus, deren Protagonistinnen die vierte Wand durchbrechen und lässt in Clubszenen den Beat von 60er-Jahre-Schnulzen aus dem Off übertönen. Sie strickt ihre Geschichte über Machtstrukturen und sozialen Druck um weibliche Figuren, die sich nicht stundenlang über Jungs unterhalten. Die nicht auf den nächsten Schulball hin fiebern, sondern ihn selbst auf die Beine stellen.

"Selah and the Spades" nimmt die Insignien des Coming-of-Age-Films und invertiert sie: Aus Pink wird sattes Grün, aus Kitsch wird Gothic, aus dem Zickenkrieg ein Duell der Femmes fatales. Deutlich wird das etwa in den Szenen, die in Selahs Zimmer spielen. Das Mädchenzimmer war lange Zeit ein zentraler Ort des Genres; nicht nur als wahres Augengold, als Spielplatz der Distinktion für Setdesigner und Publikum, auf dem es Referenzen zu erkennen und zu entschlüsseln galt, wo es sich in Farben und romantischem Chaos schwelgen ließ. Wo jedes noch so kleine Detail das Potential der Protagonistin verkörperte, ihre Ambitionen und ihren Intellekt, ihre Kreativität und ihren Humor, ihre Schönheit und ihren Sexappeal ebenso wie die Abgründe, die sie noch interessanter machten. Sondern auch, weil es ein eigens geschaffenes Universum war: aufregender, schöner, mitunter sicherer als die Welt außerhalb dieses Zimmers.



In Sofia Coppolas "The Virgin Suicides" versinnbildlichen herumliegende Wäschestücke in Pastellfarben, Marienfiguren und Kruzifixe, bunt verzierte Tagebücher und durchscheinende Parfümfläschen, so zierlich wie Zaubertrankphiolen, die häufig beschworene Fantasie einer Lolitamädchenhaftigkeit, die für die Eltern der Lisbon-Schwestern wahrscheinlich noch gerade eben naiv genug wirkt, um nicht gegen sie vorzugehen. In Peter Weirs "Picnic at Hanging Rock" sind nachts unter dem Moskitonetz heimlich hervorgezogene Bücher, in kleinen Holzkästchen aufbewahrte Karten, getrocknete Blüten und Tierknochen für die Internatsschülerinnen das einzige, was die tägliche Abfolge aus Restriktion und Langeweile durchbricht. In "Selah and the Spades" funktioniert das anders. Hier gibt es gar nicht lang Gelegenheit, sich in Details zu verlieren. Hält sich Selah einmal in ihrem Zimmer auf, klebt die Kamera an ihr, taucht alles andere in schattige Bewegungsunschärfe, aus der sich nur gelegentlich ein schwarzes Gitterbett abhebt, ein Spiegel, ein paar botanische Illustrationen an den Wänden, Bücherstapel vor gedeckten Farben, ein einzelner vergoldeter Apfel auf dem Fensterbrett.

Dieses ungewöhnlich erwachsen dekorierte Zimmer dürfte kein alleiniges Resultat der Digitalisierung sein (Teenager, die sich eher in ihrem TikTok-Feed verwirklichen als an ihrer alten, in einer Ecke noch mit den selbstklebenden Leuchtsternen verzierten Kinderzimmerwand). Der Film spielt losgelöst von jeder aktuellen oder historischen Einordnung. Smartphones und Social Media sind nie Thema, ebensowenig wie Nachrichten aus der Außenwelt. Eine Figur fotografiert mit einer analogen Spiegelreflexkamera, aber die könnte eine Notwendigkeit ebenso gut wie ein Retro-Statement sein. Selahs Zimmer ist für sie genauso wenig ein Rückzugsort wie "Selah and the Spades" ein gewöhnlicher Coming-of-Age-Film ist. Jedenfalls keiner, der seinen Charme aus einer nostalgisch verklärenden, letztlich auch überheblichen Lust an den vermeintlich überschaubaren Gefühlswelten junger Leute generiert. Selahs Zimmer repräsentiert nur ihr Problem. Den Status, den sie sich aufgebaut hat und den sie zu verlieren droht. Es schenkt uns genauso wenig etwas wie das Ende des Films, an dem nichts auch nur im Ansatz geklärt oder gelöst ist und das ähnlich frustriert wie wenn einem als Jugendlicher gesagt wurde, man solle die Schulzeit genießen, denn die wirklichen Probleme fingen danach erst an. Gegen den Film spricht diese Frustration nicht. Sie ist nur allzu verständlich.

Katrin Doerksen

Selah and the Spades - USA 2019 - Regie: Tayarisha Poe - Darteller: u.a. Lovie Simone, Nekhebet Kum Juch, Ana Mulvoy-Ten, Jharrel Jerome, Jesse Williams - Laufzeit: 97 Minuten. Bei Amazon Prime

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"Meine Nacht bei Maud" gehört zu den Filmen, die derzeit aus den Archiven und von den Backlists, aus dem Kanon und aus älteren Programmen ausgewählt werden, um Angebote zu bauen, die an der Hochkonjunktur des Streamings partizipieren und zugleich versuchen, innerhalb der Konjunktur eine eigene Position zu markieren. In diesem Fall: Cinephilie, die im sehr heterogenen Filmprogramm der arte-Mediathek einen gewissen Behauptungscharakter behält und eher überraschungsfrei umgesetzt wird; im Mai 2020 zum Beispiel unter dem Titel "Französische Filmklassiker" mit je zwei Filmen von Jacques Rivette und Eric Rohmer.

Die Reihe, die kaum eine ist, orientiert sich am Prinzip der sicheren Bank: gesetzte Namen, bekannte Titel; immerhin aber eine Gelegenheit, endlich zu sehen, was tatsächlich noch nicht gesehen worden ist, oder noch einmal anzusehen, was lange zurück liegt. Mit kleineren Irritationen ist dabei zu rechnen, etwa im Fall einer Wiederbegegnung mit "Meine Nacht bei Maud", der seinerseits, aber das läuft in den Filmen von Eric Rohmer selten anders, als eine Partitur der Wiederbegegnungen bezeichnet werden muss. Lex Rohmer: Die Welt ist nicht so klein, dass man sich darin nicht verpassen könnte. Sie ist aber auch nie groß genug, um sich dauerhaft aus dem Weg zu gehen.

Die Irritation: Die Nacht ist nicht der Film, genauer: Der Film, der doch eine ganze Nacht in Aussicht stellt und von nichts anderem erzählen könnte, verkürzt die nächtlichen Stunden auf ziemlich konventionelle Weise mit Schnitten und einer Ellipse, in der viel Zeit von Mitternacht bis zum Morgen verschwindet. In der Geschichte, die in einem verschneiten Winter in Clermont-Ferrand beginnt und in einem Sommer am Strand endet (Rohmer und Jahreszeiten: noch ein Kapitel für sich), wird die Nacht bei Maud nur eine Episode gewesen sein, der andere Begegnungen vorangehen und auf die weitere folgen. Françoise (Marie-Christine Barrault) in der Kirche, Vidal (Antoine Vitez) im Café sind bereits Teil des Films und seiner von Wiederholungen bestimmten Dramaturgie, bevor Maud (Françoise Fabian) zum ersten Mal durch die Tür ihres Wohnzimmers tritt.



Wenn der Film die Nacht hinter sich gelassen hat, wird der beinahe namenlose Protagonist (Jean-Louis Trintignant) das Wohnzimmer ein weiteres Mal aufsuchen. Wird ein weiteres Mal in die Kirche gehen, in die Stadt fahren, ein Café betreten, vor allem aber: ein weiteres Mal nicht zu Hause übernachten, was in "Meine Nacht bei Maud" zugleich weniger und mehr bedeutet, als die Formulierung vermuten ließe. Er wird Maud wiedersehen, Françoise ohnehin, schließlich auch Vidal; wird wieder in Büchern blättern, wieder über Blaise Pascal sprechen, über dessen Schriften in diesem Film in vielen Szenen und ohne besondere Notwendigkeit erstaunlich viel gesprochen wird. Auch sonst, bei Nacht und Tag, wird die wesentliche Handlung im Sprechen der Figuren bestehen, aber das ist viel weniger erstaunlich als die Sache mit Pascal, denn um das Sprechen sind Filmhandlungen bei Eric Rohmer nun einmal geordnet.

Sprechen: nie inhaltslos, niemals "um nichts" (im Gegenteil) ist die Form, in der Rohmers Figuren ihre Sehnsucht, ihre Begehren, ihren Unwillen in die Welt tragen. Dies allerdings selten explizit, also in Form einer Rede, die Affekte oder Unglück direkt zum Ausdruck bringen würde. Stattdessen gestaltet sich das Sprechen diskursiv, thesenhaft, als ein Sprechen über anderes, gerne recht Abstraktes oder Allgemeines, das in "Meine Nacht bei Maud" neben den Thesen Pascals unter anderen die Religion, die Wahrheit, die Liebe, die Ehe und die Verführung umfasst. (Die großen Begriffe ungefähr in dieser Reihenfolge.) Das Sprechen insistiert, es schweift ab. Es spricht, weil so vieles ungesagt bleiben muss, und weil zugleich etwas nicht zur Ruhe kommt, das sich bei jeder Gelegenheit übersetzt. Nicht in das, was ausgesprochen wird. Sondern in die Unablässigkeit einer Rede, die nicht aufhören und nicht ablassen will und vor allem anzeigt, dass die Figuren nach etwas suchen, das ihnen so bald nicht gewährt wird.

Wenn also zwei Liebende einander am Ende eines Films von Eric Rohmer versprechen, nicht sprechen zu wollen: von der Vergangenheit, von Clermont-Ferrand, dann ist das beinahe ein glückliches Ende. Aus der alten Geschichte sind sie nicht ganz entlassen. Aber es hat eine andere begonnen, vor einer Weile schon, und auf das Sprechen zu verzichten heißt vor allem, dass sie bereit sind, sich in der neuen Geschichte einzurichten und eine Wette darauf abzuschließen (Pascal; also doch), welche Haltung im Zweifelsfall das größere Glück verspricht.

Stefanie Diekmann

Meine Nacht bei Maud - Frankreich 1969 - OT: Ma nuit chez Maud - Regie: Éric Rohmer - Darsteller: u.a. Jean-Louis Trintignant, Françoise Fabian, Marie-Christine Barrault, Antoine Vitez - Laufzeit: 105 Minuten. Bei Arte