Efeu - Die Kulturrundschau

Wir lesen Stroh, wir lesen Holz

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13.02.2020. Karl Ove Knausgard lernt, was Ikonoklasmus bedeutet, im Atelier von Anselm Kiefer (NYT). Die FR bewundert Fantastische Frauen. Die nachtkritik staunt über Lars Eidinger als Formenwandler Peer Gynt. Im Standard fragt Sasha Marianna Salzman: Was ist kulturelle Identität? Die taz hört Kraut-Punkrock von Hendrik Otrembas Band Messer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.02.2020 finden Sie hier

Kunst

Karl Ove Knausgard verbringt ein paar sehr seltsame, aber auch interessante Stunden mit Anselm Kiefer, dessen Werk er bewundert. Kiefer ist erratisch, sehr persönlich, dann scheint er gar nicht zu wissen, wer Knausgard ist (ein Finne namens Klaus?) Und dann steht Knausgard im Atelier - bevor er ihn nach Donaueschingen begleitet - und beobachtet, wie Kiefer einige wunderbare Bilder mit Blei zerstört. So sah es zumindest erst aus, erzählt er in der New York Times. "Kiefer goss an diesem Tag Blei über drei Gemälde, und jedes von ihnen war völlig unterschiedlich, obwohl der Ausgangspunkt für alle ähnlich gewesen war. Das dritte Bild, von Wellen im Meer, hat er am stärksten bearbeitet. Nachdem er Bleisplitter so aufgefächert hatte, dass es fast so aussah, als ob das Meer aus dem Bild herauskam, stieg Kiefer auf eine Scherenhebebühne. Er stieg hoch in die Luft, etwa 20 Fuß über dem Boden, und lenkte von dort aus die Arbeiter unter ihm, die das Bild auf den Boden senkten und begannen, es nach seinen Anweisungen, die er auf Deutsch rief, zu modifizieren. Das Gießen von Blei über ein Bild führte eindeutig ein Element des Zufalls ein. Kiefer hatte seine eigenen Ideen, aber die den Materialien innewohnenden Eigenschaften bildeten den Ausgangspunkt; er musste gegen das Material kämpfen, und der Kampf - Idee gegen Materie - wurde zur Kunst. Viele der entstandenen Werke machen einen wilden und aufgewühlten Eindruck; sie haben etwas Gewalttätiges, etwas Chaotisches an sich. Aber ihre Gewalt liegt außerhalb der menschlichen Domäne, sogar außerhalb der Biologie; sie gehört zur Welt der Mineralien. Es ist die Gewalt von Steinschutt und Metallhaufen. Er drängt die Darstellung der Materialität weiter in Richtung des Materials selbst, bis die Darstellung ganz aufgehoben ist und er nicht mehr Asche, Stroh oder Holz malt, sondern Asche, Stroh und Holz direkt in das Bild einarbeitet. An diesem Punkt ist es, als ob die Welt selbst zu einer Sprache geworden wäre. Wir lesen Asche, wir lesen Stroh, wir lesen Holz, und sie sind mit Bedeutung aufgeladen."

Bridget Tichenor, "Die Surrealisten/Die Spezialisten". © Bridget Tichenor


Lauter Entdeckungen macht Sandra Danicke in der Ausstellung "Fantastische Frauen", die surrealistische Künstlerinnen in der Frankfurter Schirn versammelt. 36 Künstlerinnen aus elf Ländern werden gezeigt, viele bekannte Namen wie Meret Oppenheim oder Dorothea Tanning sind dabei. "Vor allem jedoch sind es Künstlerinnen, von denen man aus unerfindlichen Gründen noch nie gehört hat", freut sich Danicke in der FR. "Emila Medková (1928-85) etwa, eine tschechische Fotografin, deren Bilder vor Erfindungsreichtum nur so sprühen und die gleichzeitig eine hohe formale Eleganz ausstrahlen. Sie ließ Beine in den Himmel wachsen, Haare aus einem Wasserhahn fließen und Frühstückseier an den unmöglichsten Orten auftauchen. Oder die belgische Künstlerin Jane Graverol (1905-84), die in den 60er und frühen 70er Jahren betörende Collagen von technoiden Wesen geklebt hat, die uns heute noch gespenstisch aktuell vorkommen. Das Werk von Toyen immerhin wird derzeit auch an anderen Orten wiederentdeckt: Die Hamburger Kunsthalle plant für 2021 eine opulente Einzelausstellung." (Weitere Besprechungen bei BR 24, in der Westdeutschen Zeitung und in der FAZ)

Weiteres: Künstlerpartnerschaften zwischen Männer und Frauen - man denke nur Camille Claudel und Auguste Rodin, Frida Kahlo und Diego Rivera, Jackson Pollock und Lee Krasner - haben einen Haken: Sie sind fast immer vorteilhafter für die Männer, meint Christian Saehrendt in der NZZ. Besprochen wird außerdem eine Ausstellung mit Arbeiten aus der Sammlung Donata Pizzi im Fotografie Forum Frankfurt (FR)
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Bühne

Szene aus "Peer Gynt" mit Lars Eidinger. Foto: Benjakon


Einen entspannten Abend, amüsant, aber mit "viel Leerlauf", verbringt nachtkritiker Janis El Bira mit Lars Eidinger als Peer Gynt an der Berliner Schaubühne. Natürlich wurde nicht das Originaldrama von Ibsen aufgeführt, sondern eine Bearbeitung des Aktionskünstlers John Bock. Was vor allem heißt: Tolle Kostüme! "Eidingers Peer ist ein Formwandler, durch den auch die Hochstapler-Figuren der Gegenwart namenlos hindurchflackern wie einst die alten Videobilder auf einer zu oft überspielten VHS-Kassette. Donald Trump kann man herausfischen ('I would give myself an A+'), häufig auch Kanye West ('I am Shakespeare in the flesh') ... Zwischendurch poppen dann aber auch tatsächlich immer mal wieder Ibsen-Motive auf: Die Ausschweifungen der Troll-Welt als sehr expliziter Lesben-Porno auf der Leinwand, bei dem Eidinger per Greenscreen-Interpolation ein bisschen mitschwingen darf; Ingrid (sonst-Kamerafrau Hannah Rumstedt) als allverfügbares Digitalwesen mit Siri-Stimme; der Zwiebel-Monolog als Gelegenheit für Eidinger, sich selbst als Rollenspieler zu verorten. Gelegentlich betreibt auch der Theologe Eugen Drewermann per Video-Einspieler gelehrte Werkexegese. Identität, das lässt dieser Abend dennoch eher fühlen, als dass er es begründen würde, ist gar keine haltbare Kategorie mehr."

Um Identität geht's auch in einem Text von Sasha Marianna Salzman, den sie für die Diskussionsreihe "Gretchenfrage" am Burgtheater verfasst und den der Standard veröffentlicht hat: "Unlängst entdeckte ich auf dem Umschlag eines Briefes, der aus Österreich an meine Frau geschickt worden war, das in Sepia gehaltene Lächeln von Turhan Bey. Mit türkischem Vater und jüdisch-tschechischer Mutter gilt Turhan Gilbert Selahettin Şahultavi als österreichischer Schauspieler. Bevor er bei Warner Brothers Karriere machte, arbeitete er als Mathematiker für Albert Einstein, einen anderen Juden, der so wie Turhan Bey und dessen Mutter vor den Nazis in die USA geflohen war. Die österreichische Post druckte anlässlich Turhan Beys 90. Geburtstag eine Sonderbriefmarke. Ob sich Sebastian Kurz auf Bey als Teil des kulturellen Erbes bezog, als er im letzten Wahlkampf ausrief 'Unser Ziel ist es, die kulturelle Identität aufrechtzuerhalten!'?"

Besprochen werden Dea Lohers "Das letzte Feuer" in der Inszenierung von Anna-Elisabeth Fricke an Les Théâtres de la Ville de Luxembourg ("klassisches Metatheater", nur leider ohne Gesamtkonzept, seufzt Jeff Thoss in der nachtkritik), Goethes "Werther" am Staatstheater Mainz (FR), Annabelle Lopez Ochoas Revue "Frida" mit dem Het Nationale Ballet in Amsterdam sowie Gil Harushs Choreografie "Yours, Virginia" in Mulhouse (SZ) und die Uraufführung von Tom Stoppards neuem Stück "Leopoldstadt" am Londoner Wyndham's Theatre (FAZ)
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Literatur

Gerrit Bartels zeigt im Tagesspiegel kein Verständnis für (von einigen Verlagen ohnehin nicht erfüllte) Forderungen, Romane mit historischem Bezug auch zu entsprechend runden Stichtagen wie 30 Jahre Mauerfall zu veröffentlichen: "Die Fixiertheit auf Jubiläen, auf Jahrestage ist bisweilen von Übel", denn der Nutzen ist überschaubar. Doch im schlechtesten Fall "befördern Jubiläen das Vergessen, dann nämlich, wenn sie wieder vorbei sind. Nur sind Wenderomane nicht deshalb schlechter oder gar überflüssig, weil sie 24, 28 oder 32 Jahre nach der Wende veröffentlicht werden. Erinnerung kennt keine festen Termine."

Weiteres: Für die taz war Jan Jekal in der Berliner Kulturbrauerei, wo Bov Bjerg seinen neuen Roman "Serpentinen" vorstellte. Magda Birkmann liest für 54books.de in den Tagebüchern von Marie Bashkirtseff. Für die SZ wirft Carolin Gasteiger anlässlich von Greta Gerwigs aktueller Kinoverfilmung von Louisa May Alcotts "Little Women" (mehr dazu hier und dort) nochmal einen Blick in die literarische Vorlage.

Besprochen werden unter anderem Mircea Cărtărescus "Solenoid" (Tell-Review), Aris Fioretos' "Nelly B.s Herz" (Dlfkultur), David Albaharis "Heute ist Mittwoch" (SZ) und Alban Nikolai Herbsts Erzählband "Wölfinnen" (FAZ).
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Film

Bitterer Seelenstriptease: Willem Dafoe in Abel Ferraras "Tommaso und der Tanz der Geister"

Selten, dass mal ein Film von Abel Ferrara in die hiesigen Kinos kommt. Mit "Tommaso und der Tanz der Geister" wirft der mittlerweile nach Italien ausgewanderte US-Regisseur wieder einmal einen Blick in die eigene Biografie: Willem Dafoe spielt hier einen Regisseur, der nach Italien ausgewandert ist, derzeit an einem Film arbeitet und auf eine von Drogen gesäumte Biografie zurückblickt. Einen fast traumwandlerischen Film mit surrealen Einsprengseln hat Robert Wagner von critic.de gesehen: "Tommaso läuft von Ort zu Ort, von Person zu Person und erlebt mal diese, mal jene Kleinigkeit, die alle erst in Summe ein Bild ergeben. ... Die größte Änderung Ferraras in den letzten 25 Jahren ist dabei nicht etwa die Erkenntnis, dass er bzw. sein Protagonist ein Problem mit Nähe hat. Sondern dass es dafür nicht mehr wie früher explosive Momente braucht", denn heute reicht schon "ein Wutanfall, um Tommaso zur (selbst-)zerstörerischen Figur zu machen. Die Ruhe des Films gibt Kleinigkeiten große Wirkung. In den luftigen Momentaufnahmen wirken die kleinsten Anzeichen von Niedertracht giftig. Der filmische Seelenstriptease ist dabei nicht weniger bitter."

Einen der schönsten Filme der letzten Zeit hat Perlentaucher-Kritiker Jochen Werner gesehen, "einen Film über Angst", der in seinen beeindruckendsten Momenten dennoch "von einem in Ferraras Werk ohne Vergleich bleibenden inneren Frieden geprägt ist." Doch beobachtet er auch einen "nagenden Zweifel an der eigenen Fähigkeit, dieses Leben, diesen Frieden auf Dauer zu leben. Immer wieder verschiebt sich die Wirklichkeit der Filmerzählung, oft übergangslos, ins Halluzinatorische, und die Dämonen, die in Tommasos Innerstem unaufhörlich weiterfressen, suchen nach Ausdruck." Werner weist auch darauf hin, dass dieser Film bereits "Siberia" vordenkt, Ferraras Ende des Monats im Wettbewerb der Berlinale gezeigten neuesten Film.

Wenn der Reichtum prekär wird: Corneliu Porumboius "La Gomera"

Mit "La Gomera" von Corneliu Porumboiu findet auch wieder ein Vertreter des jüngeren rumänischen Autorenfilms seinen Weg in die hiesigen Kinos. Einen Krimi und Spionagefilm gibt es hier zu sehen, dessen "alltägliche Surrealität" direkt "der modernen Überwachungstechnologie entspringt", erklärt Daniel Kothenschulte in der FR. "Die Subjekte in den Räumen wissen, dass sie beobachtet werden und richten ihre Leben sorgfältig nach den Überwachern hinter den Kameras aus", erzählt auch Katrin Doerksen im Perlentaucher - und betont die Relevanz der Farben für die Ästhetik dieses Films. Zu sehen gibt es hier "eine Gesellschaft, in der niemand glaubt, mit der Arbeit, die er verrichtet, auf Dauer über die Runden zu kommen", erfahren wir von Fabian Tietke in der taz. "Die Einzigen, die mit ihrer Erwerbsarbeit im Reinen sind, sind die Drogenhändler." Alles in allem ist der Film demnach "eine kluge Komödie über europäische Gesellschaften, nachdem diese vor allem an den Rändern Europas in der Finanzkrise gelernt haben, wie prekär ihr Reichtum geworden ist." Nicht zuletzt ist der Film auch eine Hommage an die Filmgeschichte, schreibt Philipp Stadelmaier in der SZ: "Einerseits laufen die Figuren dem Versprechen von Glück und Reichtum hinterher, wie es einst von den großen Hollywoodfilmen inszeniert wurde. Und gleichzeitig sind die Zeiten von Rita Hayworth und John Wayne vorüber - die Studios stehen leer, das Kino ist nur noch reine Fassade, unbenutzte Kulisse."

Weitere Artikel: In der NZZ sprechen Philippe Graber und Willy Schaffner an der Arbeit zu ihrem Schweizer Film "Moskau einfach". Außerdem empfiehlt Peter Nau den Berliner taz-Lesern die Aufführung von Jean Grémillons "Die Liebe einer Frau", den das Kino Arsenal heute abend zeigt. Nachrufe auf Joseph Vilsmaier schreiben Rudolf Neumaier (SZ), Harry Nutt (FR), Gunda Bartels (Tagesspiegel) und Andreas Kilb (FAZ).

Der Tagesspiegel wirft bereits einen ersten Blick ins Programm der Berlinale: Christiane Peitz schreibt über die Filme des Berlinale-Special. Christian Schröder empfiehlt Filme aus der King Vidor gewidmeten Retrospektive. Kirsten Taylor hat sich in der Jugendfilmsektion umgesehen. Nadine Lange pickt Entdeckungen aus dem Panorama heraus.

Besprochen werden Aysun Bademsoys Dokumentarfilm "Spuren - Die Opfer des NSU" (taz, Dlf Kultur hat mit der Filmemacherin gesprochen), Pella Kagermans und Hugo Liljas Science-Fiction-Film "Aniara", der SF-Experte Dietmar Dath völlig von den Socken haut (FAZ), Jay Roachs "Bombshell" (taz, Jungle World, FR, Tagesspiegel, mehr dazu bereits gestern), Johannes Holzhausens Dokumentarfilm "The Royal Train" (taz), Oliver Kienles deutscher Netflix-Film "Isi & Ossi" (SZ) und eine Ausstellung in der Deutschen Kinemathek in Berlin anlässlich des 100. Geburtstags von Robert Wienes Stummfilmklassiker "Das Cabinet des Dr. Caligari" (taz). Den Film selbst kann man derzeit in der Arte-Mediathek sehen.
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Musik

Aus "No Future" (Sex Pistols) und "Future Days" (Can) mach "No Future Days", so der Titel des neuen Albums der rund um den Schriftsteller Hendrik Otremba gruppierten Post-Punk-Band Messer, die somit schon im Plattentitel die Richtung weist: Krautrock-Punk. Aber jener Sorte, bei der es einem in die Beine fährt, meint Tazler Lars Fleischmann hat mit dem neuen Release der Band  jedenfalls viel Freude: "Frei jeglicher Zwänge grooven Messer hier im unbekannten Maße, womöglich kann man erstmals die Tanzschuhe schnüren; immerhin erklingt in der Bridge gar eine Cowbell. Wer die Gruppe kennt, weiß, dass all diese Verbindungen und Verweise mit sicherer Hand angelegt sind und nicht etwa per Zufall ihren Weg in die neun Songs von 'No Future Days' gefunden haben. So oder so: Messer bleiben das Abrissprojekt des (deutschen) Punks." Die aktuelle Single:



Reinhard J. Brembeck schwärmt in der SZ vom Spiel des erst 20-jährigen Cellisten Sheku Kanneh-Mason: "Er spielt, ohne vor Anstrengung zu keuchen und ohne sein Spiel zu einem titanischen Kampf gegen die Tücken des Cellos zu inszenieren. ... Im Elgar-Konzert gibt es vor allem Kantilenen, aber gelegentlich auch rasante Läufe, die sich bei Sheku genauso wenig in den Vordergrund drängen wie rasante Akkordzerlegungen. Solche Stellen begreift er einfach als Zierrat, als Girlanden, als Hauch."

Außerdem: Nach dem Ankauf eines von Zoten durchzogenen Mozart-Briefs durch das Mozarteum Salzburg stellt der Musikwissenschaftler Ulrich Leisinger im ZeitOnline-Gespräch klar: "Das Tourettesyndrom hatte er ganz bestimmt nicht." Ueli Bernays (NZZ) und Gerrit Bartels (Tagesspiegel) gratulieren Peter Gabriel zum 70. Geburtstag. Bevor er in den 80ern mit Videos wie "Sledgehammer" den Musikclip revolutionierte, legte er in den 70ern hübsch schräge Liveauftritte mit Genesis hin:

Archiv: Musik