Im Kino

Die Jugend der Eltern

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk, Nicolai Bühnemann
30.12.2021. Andrea Segre spürt in seiner Venedig-Doku "Moleküle der Erinnerung" den Erinnerungen an seinen Vater nach und findet ein menschenleeres Venedig. Yamina Benguigui erzählt in "Schwestern" von drei algerischen Schwestern, die jede auf ihre Weise dem gewalttätigen Partriarchen in in ihrer Familie zu entkommen suchen und dabei kleine Momente des Glücks finden.


Die Leere wächst. Als der Dokumentarfilmer Andrea Segre am 22. Februar 2020 nach Venedig kommt, ist die Welt aber noch in Ordnung. Die Kanäle, Brücken und Piazze sind gut gefüllt. Venedig, wie es jeder kennt, die Touristenstadt. Doch schon wenige Tage später macht sich der neue Weltzustand bemerkbar - der Karneval wird abgesagt. Wie "einsame Elektronen, die nach anderen Elektronen suchen" irren die vereinzelten Besucher*innen durch die Lagunenstadt. Auf der Piazza San Marco bleiben die gedeckten Bistrotische frei. Die schicken Kellner harren in den Eingängen aus, frierend, fragend. Die teuren Boutiquen hell erleuchtet, come fire or high water. Die Leere wächst, aber noch will sie niemand wahr haben.

Anfang März halten sich mit wenigen Ausnahmen nur Venezianer in der Stadt auf - ein Ausnahmezustand. Andrea Segre bleibt auch, trifft die Einheimischen, spricht mit ihnen über ihr gespaltenes Verhältnis zu ihrer Heimat, filmt, macht Fotos. Jetzt sagen Sie vielleicht: Na und? Auch in Berlin, New York, Peking und sonst wo auf der Welt erlebte man die pure Gegenwart des ersten Lockdowns. Das alles kenne man schon. Mag sein, aber "Moleküle der Erinnerung" ist dennoch kein überflüssiger Film. Die neue Leere dieses filmischen Venedigs ist intensiver als in der Realität - mystischer, gespenstischer, spiritueller. Nicht von dieser Welt, dazu trägt die wunderschöne Filmmusik von Teho Teardo sicher auch viel bei. Im Giudecca und auf dem Canal Grande sieht man selten ein Boot. Und das Wasser ist ruhig. In diesen Tagen entdecken die Menschen, die vor Segres Kamera treten, ihre Stadt ganz neu. Der Filmemacher stellt fest: Die Angst hat nicht erst mit dem Virus hergefunden. Die Angst - vor dem Hochwasser, der Verdrängung, dem Verschwinden - war schon immer da. Sie steckt in jedem Stein, in jedem Holzpfahl, auf dem diese Stadt errichtet wurde, ist ein Teil des fragilen venezianischen Gleichgewichts.



Als Andrea Segre am 22. Februar 2020 nach Venedig kommt, ahnt er natürlich nicht, dass er diesen prachtvollen Ort bald für sich alleine haben wird. Es sind nicht die Eindrücke des verlassenen Venedigs, hinter denen er her ist. Sein Vater Ulderico ist hier geboren: Der Film soll Lücken füllen, Bilder liefern, die nie gemacht worden sind, Worte suchen, die unausgesprochen blieben. Ulderico war ein schweigsamer Mann. Physiker von Beruf, erforschte er die Bewegungen von Molekülen, die unsichtbare Zusammensetzung der Materie. Die immer wieder abgespielten Archivaufnahmen zeigen einen delikaten Jugendlichen, der lustig-leger in einem Sessel Platz nimmt, er performt für die Kamera, geht auf sie zu. Dann der bärtige Erwachsene, der wegschaut. Der Venezianer Ulderico ist seinem Sohn für immer ein Rätsel geblieben. Andrea Segre fragt, ob das Schweigen zum Vater-Sein dazugehört.

Ein Vater, seine Stadt - "Moleküle der Erinnerung" ist eine Annäherung an beides, die Verbindung ergibt Sinn. Frei von Metaphern, ein angenehm simpler, aufrichtiger und emphatischer Film über unser aller Sterblichkeit und Zerbrechlichkeit, über das fragile Gleichgewicht des Mensch-Seins. "Moleküle" ist voller Sehnsucht nach dem, was einem verwehrt wird zu kennen - die Jugend der Eltern. Sehnsucht nach der Zeit, aus der die alten Fotos und Super-8-Homemovies stammen, die immer auf etwas hinweisen, was mal gewesen ist. "Moleküle der Erinnerung" ist hinreißend schön, ruhig, melancholisch, zuversichtlich. Es tut gut, so einen Film zu sehen.

Olga Baruk

Moleküle der Erinnerung - Italien 2020 - OT: Molecole - Regie: Andrea Segre - Laufzeit: 68 Minuten.

-



Das Bild einer Familie: Vater, Mutter, drei Schwestern und ihr kleinerer Bruder, die durch eine sonnendurchflutete algerische Straße laufen, Arm in Arm und Hand in Hand, gemeinsam redend und lachend, in Zeitlupe. Unmittelbar vor dem Vorspann bietet dieses Bild einer glücklichen Familie für "Schwestern", den neuen Film von Regisseurin und Drehbuchautorin Yamina Benguigui, beides: ein Urbild der Geborgenheit in der Vergangenheit, das die Protagonistinnen des Films als Fluchtpunkt ihrer Sehnsüchte brauchen, um in der Gegenwart irgendwie weitermachen zu können - und eine Projektion, die es zu durchschauen, zu entlarven, zu widerlegen gilt. Denn, was auch immer es sonst noch auf sich haben mag mit diesem Bild, eins steht fest: das Glück, das es zeigt, war nicht von langer Dauer.

Die Eltern von Zorah (Isabel Adjani), Norah (Maiwënn) und Djamilla (Rachida Brakni) waren Widerstandskämpfer*innen im algerischen Unabhängigkeitskrieg. Die Mutter, Leïla (Fattouma Ousliha Bouamari) wurde von französischen Soldaten sexuell missbraucht, ihr Mann Ahmed (Rachid Djaidani) rettete sie, kehrte seine Aggression gegen das Kolonialregime aber schnell gegen die eigene Familie, gegen seine Frau und seine Töchter, die bald lernen mussten, sich gegen die väterlichen Gewaltausbrüche zur Wehr zu setzen, zunächst mit ihren Fäusten gegen die seinen, dann mit einem Küchenmesser gegen seinen alten, verrosteten, aber doch unendlich bedrohlichen Revolver. Schließlich ließ sich Leïla von ihrem Mann scheiden, der sich aber eine Ungerechtigkeit im algerischen Familienrecht zu nutzen machte, um seinen Sohn zu entführen und sich mit ihm aus dem Staub zu machen.

Im Paris der Gegenwart führen Leïla, Zorah, Djamilla und Norah ein geschäftiges, saturiertes Dasein. Dabei werden sie immer wieder von ihrer algerische Vergangenheit heimgesucht, die finster und bedrohlich in ihr gegenwärtiges Leben hineinragt, ihr Handeln bestimmt, und es ihnen verwehrt, das Glück zu finden, das ihre gegenwärtige Situation ihnen eigentlich ermöglichen würde. Diese destruktive Vergangenheit nimmt mal die Form von Bildern der Bürgerkriegsgräuel an, dann wieder ist es der Duft eines Lippenstifts, der, wie der Geschmack der Madeleine bei Proust, die Tür zu einer verborgenen Erinnerung öffnet, das Glück wieder aufleben lässt, das das heimliche gemeinsame Schminken einst für die drei Mädchen bedeutete - und das Grauen über den Gewaltausbruch des Vaters in der Küche, als er die geschminkten Lippen seiner Töchter sah.



Darum, wie man in einer Gegenwart leben kann, die zerstörerisch von der Vergangenheit durchwirkt wird, in der jede Erinnerung an kleine weibliche Widerständigkeiten ins große Drama der brutalen väterlichen Sanktionen mündet, ist das zentrale Thema von "Schwestern". Dass die drei Schwestern jeweils sehr unterschiedliche Wege gehen, um mit mit ihrer Vergangenheit umzugehen, sorgt für schwelende Konflikte. Zorah arbeitet an einem Theaterstück über ihre Familiengeschichte, dessen Titel es gleichermaßen zu einem Gegen- und Komplementärtext zu Benguiguis Film macht: "Brüder".

Dass die Darsteller*innen der Schwestern und ihres Vaters auf der Bühne in der Gegenwart dieselben sind, die wir auch in den Kindheitsrückblenden sehen, scheint die Grenze zwischen Realität und Fiktion aufzuweichen. Dass sie letztlich aber doch intakt bleibt, liegt daran, dass das Stück nur Zorahs Perspektive auf die Vergangenheit darstellt, während es Benguigui stets darum geht, die verschiedenen Blickwinkel der Schwestern und ihrer Mutter gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen.

Sowohl Leïla als auch Djamilla sind von Zorahs Stück absolut nicht begeistert, wehren sich gegen das, was für sie die Instrumentalisierung ihrer Geschichte zum Wohle der Autorin darstellt, dagegen, dass Zorah versucht, im familiären Urschleim zu rühren und so schlafende Hunde zu wecken. Das geht so weit, dass sich die Gewalt aus der Küche der Kindheit zwischen den erwachsenen Schwestern, die mittlerweile zurückgekehrt sind nach Algier, weil ihr Vater einen Schlaganfall erlitten hat, im Krankenhausfahrstuhl fortsetzt.

Der Wunsch nach Versöhnung mit dem Vater bleibt unerfüllt. Die Schwestern kommen zu spät, finden erst auf seiner Beerdigung zu ihm, und können das, was sie ihm, dem Patriarchen zu sagen hatten, der wie ein Gespenst in ihrem Leben immer präsent blieb, ihr Schicksal nachhaltig formte und prägte, nur noch dem Wind erzählen. Ist das auch nicht wirklich ein Happy End, so ist es doch immerhin nicht das genaue Gegenteil davon. Die Vergangenheit ist irreparabel vorbei, die Schwestern kommen in der bewegenden, mitreißenden letzten Szene als politische Akteurinnen zu sich, und also in der Gegenwart an. Aber das bedeutet eben auch, dass nach 100 aufreibenden Minuten voller persönlicher Niederlagen, Tiefschläge und kleiner Momente des Glücks der gemeinsam mit anderen organisierte Kampf für eine bessere Zukunft gerade erst beginnt.

Nicolai Bühnemann

Schwestern - Frankreich, Algerien 2020 - Regie: Yamina Benguigui - OT: Soeurs - Darsteller: Isabelle Adjani, Rachida Brakni, Maïwenn, Hafsia Herzi, Rachid Djaidani - Laufzeit: 99 Minuten.