Außer Atem: Das Berlinale Blog

Einzeln und kühn: "Music" von Angela Schanelec (Wettbewerb)

Von Patrick Holzapfel
21.02.2023.


Irgendwann, wenn man schon lang begriffen hat, dass die zeitlichen Abläufe von Angela Schanelecs "Music" anderen, organischeren Gesichtspunkten folgen als in den anderen Filmen des Festivals, erscheint eines der größten Bilder auf der Leinwand, die man seit langem gesehen hat. Eine Frau steht am Rand einer Klippe. Sie möchte sich in den Tod stürzen. Die Kamera filmt ihre nackten Füße auf der staubigen Erde. Kurz bevor sie springt, kriecht eine Eidechse aus ihrem Loch und klettert auf die Wade der Frau. Sie springt trotzdem. Mit großer Klarheit und einer Sensibilität, die rar geworden ist im Kino, interessiert sich Schanelec in ihrem neuen Film für just diese Sekunden, in denen sich alles verändert, diese Momente, die Leben und Tod trennen, in denen sich das Leben an den Tod klemmt und andersherum. Dort wird jede noch so kleine Vibration spürbar, alles wird ganz klein und groß zugleich. Dass man diese Sekunden kaum festhalten, geschweige denn begreifen kann, erhebt sie zum idealen Zeitfenster einer Kunst der Schwellen und Übergänge, der Montage und Dauer. Um es wie Helmut Färber zu sagen: Dass dieser Film hier so einzeln bleibt und kühn erscheint, spricht gegen das zeitgenössische Kino.

Aber mehr noch als bloßer formaler Reiz hängt an diesem dünnen Faden zwischen Licht und Dunkelheit auch eine unermeßliche Tragik, die bereits im Mythos von Ödipus verhandelt wurde, an dem sich Schanelec hier orientiert. Der Schmerz, das zu verlieren, was einem am nächsten ist, während man dachte, dass zu retten, was zählte, überdeckt alles. Jede Geburt hängt an einem Tod. In gegenläufigen Bewegungen zwischen Verlust und Nähe erzählt der Film das Leben von Jon, der eines Tages aus einer verlassenen Steinhütte am griechischen Mittelmeer geborgen wird. Als junger Mann wird er nicht unweit eines Strandes überfallen und tötet in Selbstwehr. Im Gefängnis lernt er die dort arbeitende Iro kennen. Was er und sie dann nicht wissen: Es ist schon alles zu spät, die Tragödie hat sich bereits unwiederbringlich in ihr Leben eingeschrieben.

Zusammen mit Kameramann Ivan Markovic hat Schanelec erneut ein Gespür für Orte entwickelt, die diese ganz gegenwärtig erscheinen lassen. Mit nur wenigen Bildern gelingt es, die Schroffheit von Felsen oder die Wärme eines Raums spürbar zu machen. Die Liebe zu Licht und Schatten übernimmt aber nie die Überhand hier, sie entspricht vielmehr exakt dieser dünnen Schicht, durch die ein Verlust wirklich wird. Das ist abstrakt und ganz konkret zugleich. Wer schon einmal erfahren hat, dass die gleiche Welt jederzeit eine andere werden kann, wird verstehen, dass diese Abstraktion menschlich ist.       

Wer kennt nicht die Geschichten der großen missverstanden Künstlerinnen und Künstler, jene, die zu Lebzeiten auf wenig Gegenliebe stoßen, obwohl sie heute zum Establishment ihrer jeweiligen Sparte gehören. Obwohl Schanelec sich nicht selten auch kritischer Anerkennung erfreut, hängt ihr doch ein solches Image nach. Das liegt allerdings nur daran, dass ihre Filme anders sind als viele anderen Filme. Sie sind persönlicher. Sie sind gleichzeitig offener und geschlossener, nackter und verwinkelter. Sie sprechen eher wie ein Mensch als wie ein Medium. Das gilt auch für "Music", der sich nahtlos anschließt an ihre letzten beiden Spielfilme "Der traumhafte Weg" und "Ich war zuhause, aber…". Diese drei Filme verhandeln eine schmerzvolle Abwesenheit, die im Zentrum aller Handlungen oder Nicht-Handlungen schlägt wie ein verlorenes Herz. Ein wenig erforscht Schanelec das filmische Medium so wie einst Maurice Blanchot die Sprache.

Mehr als lediglich eine Geschichte rund um einen Unfall, eine Liebe, eine Geburt zu erzählen, kreist die Filmemacherin gewohnt elliptisch um diese Themen, die ganz dem Titel entsprechend wie musikalische Motive arbeiten. Ein solches wiederkehrendes Motiv sind beispielsweise Wunden, die verbunden werden. Also wieder ein offenliegendes Übergangsstadium, die Haut und das, was darunter fließt. Die Heilung und der Schmerz. Aber Musik spielt auch darüber hinaus eine Rolle, "Music" ist eine mal geflüsterte, mal herzzerbrechend gesungene Oper, denn Jon widmet sich der Musik, die ihn schließlich auch nach Berlin und in einer weiteren tragischen Wendung an den Potsdamer Platz führt.

Dabei schwingt stets auch eine Verzweiflung darüber mit, nicht ausdrücken zu können, was man empfindet. Die Musik mit ihren bereits existierenden Tonfolgen hilft dabei, die auf ihnen liegenden Worte verwandeln sich in eben jenes Darunterliegende, Schwer-zu-Greifende, was diesen Film und jedes Leben nährt. Gegen Ende des Films nimmt die Musik Überhand, ersetzt das, was ohnehin nicht gesagt oder gezeigt werden könnte, endgültig. Selten haben Worte in der klassischen Musik so nachhallend gewirkt in einem Film. Dass der Film selbst zur Musik wird, sollen andere schreiben. Seine Rhythmen sind zu eigen, besser wäre womöglich zu schreiben, dass Musik und Film jeweils auf ihre eigene Art zu Körpern werden, die sprechen, die fühlen.

Patrick Holzapfel

Music. Regie: Angela Schanelec. Mit Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer, Marisha Triantafyllidou, Argyris Xafis, Frida Tarana u.a., Deutschland / Frankreich / Serbien 2023, 108 Minuten. Alle Vorführtermine.