Vorgeblättert

Lorenz Jäger: Adorno, Teil 2

04.08.2003.
Knapp eine Woche später kam er mit Auflagen auf freien Fuß. Beim Prozeß im Juli 1969 bezichtigten sich Krahl und von Friedeburg gegenseitig der Hysterie. "Mit seinem Doktorvater Adorno ging er allerdings behutsamer um", berichtete die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 19. Juli: "Als schließlich die Fehde zwischen der Linken und ihrem Vordenker vor Gericht ausgetragen zu werden schien, der Streit zwischen dem Theoretiker und denen, die aus seinen Denkmodellen ?aktionistische Konsequenzen? ziehen, meinte der Philosoph, es gehe hier doch nur um den Tatbestand, daß Krahl trotz dreimaliger Aufforderung das Institut nicht verlassen habe."(31) Krahl nahm seinen Lehrer ins Kreuzverhör und fragte Adorno, woran er die Absicht der Institutsbesetzung erkannt habe. Darauf, so die Zeitung weiter, "entspann sich eine längere Erörterung der ?Phänomenologie der Okkupation?. Im Geschwindmarsch, so Adorno, nicht formiert, aber kohärent, seien die Studenten um die Ecke Dantestraße gebogen. Da habe er auf Grund der jüngsten Vorgänge gewußt, daß sie eine Besetzung im Sinn gehabt hätten."
      Schließlich erklärte Adorno nach dem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" vom 23. Juli, er könne wegen seines Urlaubs in den kommenden Wochen vor Gericht keinerlei Aussage mehr machen. "Verfolgt von wütenden Blicken und einigen kräftigen Verbalinjurien im Ohr verläßt der Philosoph (?) am Arm einer ihm ergebenen Schülerin das Justizgebäude." Auch von einem verlegenen Lächeln Adornos in Krahls Richtung wußte die "Süddeutsche Zeitung" zu berichten. Das Urteil lautete auf drei Monate Gefängnis auf Bewährung und dreihundert Mark Geldstrafe, das Gericht billigte Krahl "idealistische Gesinnung" zu. Nur mündlich überliefert - oder gut erfunden - ist eine Traumerscheinung, die Adorno damals von Krahl gehabt haben soll: Der militante Student saß wie ein Incubus auf seiner Brust und schwang ein Messer. "Ist das nicht Terror, Herr Krahl?" fragte der Lehrer, und darauf gab der Schüler eine Antwort, die geradewegs aus Adornos eigener Theorie zu stammen scheint: "Sie personalisieren."

Künstlerische Unmittelbarkeit oder einen höheren Grad der Vermittlung setzte der Aktionist Hans Imhoff an die Stelle, wo bei Adorno das "Werk" gestanden hatte. Auch er hatte, wie Krahl, bei Adorno einen Dissertationsentwurf geschrieben: "Der Hegelsche Erfahrungsbegriff". Darin plädierte er für eine Überhöhung von Hegels "absolutem Wissen" in der dichterischen Erkenntnis. Etwa 1967 erklärte er in einem Seminar Adornos, in einer freien Gesellschaft werde die Kunst "positiv" sein. Das traf die "negative", utopische Philosophie der Kunst, die Adorno entwickelt hatte, schon auf der Ebene der Kategorien ins Herz und war doch erkennbar eine Weiterführung von Adornos eigener Dialektik. "Positiv" - das war nicht in der banalen Lesart zu verstehen, daß hier Propaganda für das Bestehende gemacht werden sollte. Positiv - das bedeutete die Aufwertung des empirischen Subjekts, das sich nun selbst, in seiner schieren Präsenz, zur höchsten künstlerischen Manifestation erklärte: Kein Einzelfall in der Mitte der sechziger Jahre, als auch Timm Ulrichs sich selbst in einem Glaskasten ausstellte. Imhoff entwarf eine Ästhetik der Aktionskunst, die in der Fluxus-Bewegung, in den Happenings, in dem, was vom Situationismus und den holländischen Provos bekannt wurde, vorbereitet worden war, aber nun in Frankfurt den gedanklichen Schliff erhielt. Der Philosoph Werner Becker, auch er ein Schüler Adornos, sprach von Imhoff als dem leibhaft erschienenen "Nicht- Identischen", das Adornos Theorie anvisiert hatte. "Monatelang", so schrieb damals ein marxistischer Kritiker der strengen Observanz, "hatten sich bürgerliche Feuilleton- Schreiber an ihm ergötzt". So war es in der Tat. Der Saarländische Rundfunk glaubte im November 1968, Imhoff sei es mit seinen Aktionen gelungen, "so populär zu werden wie die meisten Dichter hierzulande es zeitlebens nur erträumen". Selbst als sich der Aktionist im Herbst 1968 entschloß, die Verleihung des Büchner-Preises nicht zu stören, war dies der Presse eine Meldung wert. Und man kann nicht sagen, daß die Ideen der Aktionskunst Adorno völlig fremd gewesen wären. Gerade in der späten "Ästhetischen Theorie" versuchte er, einen Zugang zu dieser aktuellsten Gestalt der Moderne zu finden: "Kunst möchte, durch sichtbare, von ihr vollzogene Zession an krude Stoffe, etwas von dem wiedergutmachen, was Geist: Gedanke wie Kunst, dem Anderen antut, worauf er sich bezieht und was er sprechen lassen möchte. Das ist der bestimmte Sinn des sinnlosen, intentionsfeindlichen Moments der modernen Kunst, bis zur Verfransung der Künste und zu den happenings. Damit wird nicht sowohl über die traditionelle Kunst pharisäisch-arriviertes Gericht gehalten als ver- sucht, noch die Negation der Kunst mit deren eigener Kraft zu absorbieren."(32)

Im Februar 1939 geboren, war Imhoff 1968 nicht mehr naiv genug, um an die politischen Ziele der Bewegung schlicht zu glauben. Er nahm an dem allgemeinen Aufbruch teil, aber als Individuum, gleichsam auf eigene Rechnung, mit eigenen, signierten Publikationen, die die Theoriesprache der Achtundsechziger und der Kritischen Theorie imitierten, karikierten und überboten, um sie für eigene, damals schwer durchschaubare Zwecke umzufunktionieren. Seine Flugblätter, die in Serien erschienen, waren mit gelehrten, anspielungsreichen Motti versehen und machten aus der literarischen Unform, die nur den nächsten praktischen Zwecken gehorchte, hochesoterische ästhetische Gebilde, die der Verfasser später in dem Prachtband "Asozialistik" gesammelt herausgab. Eines dieser Flugblätter war Adorno gewidmet. "DICHTUNG ALS ELEMENT IST DAS TOTALE DER SPRACHBILDENDEN ORGANE IN IHRER REALISATION DER REPRODUKTION IHRER SELBST ALS DES SCHICKSALS" konnte man da etwa lesen, manifestartig in Großbuchstaben gesetzt.(33) Die Dichtung wurde unmittelbar an die Artikulation, andererseits an das Schicksal geknüpft. Während der gleichzeitige Wiener Aktionismus in seiner Praxis blutig, in seiner Tendenz katholisch-dionysisch war, ging es hier um das Erbe des deutschen Idealismus, um Philosophie und Gesellschaft, vor allem aber um Dichtung. Zeitweise arbeitete Imhoff mit Silbenfolgen, den Urszenen der Artikulation: "lamt kalet rent zwed pin ser lers por are twet egw rers" - dieser pure Klang, über sechs Seiten ausgebreitet, bildet den Gehalt des "Erlösten Prometheus". Das ging auf die Lautgedichte Marinettis und der europäischen Avantgarde zurück, unbewußt vielleicht schon auf Jacob Böhme, der Sprache und Kosmos zu einer Einheit des Klangs und der Bedeutung zusammenschweißen wollte. "Die Main-Stadt hat nun ihre Form des Nicht-Theaters, die über das Anti-Theater weit hinaus geht", berichtete die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 12. Februar 1968, als der "Erlöste Prometheus" aufgeführt wurde. Der Kritiker einer anderen Zeitung bemerkte "Sprache, gleichsam zu Kleinholz zerhackt": "Der Vortrag ließ in seinem Ernst jedoch nicht nach, ganz als gelte es, wichtige Mitteilungen aus einem Dialektgebiet vom Nordhang des Himalaya pädagogische einzuhämmern." Tatsächlich hat sich Imhoff Jahre später dem Studium der altindischen Sakralsprache gewidmet und Gebete aus dem Vedischen übersetzt. Sein Werk - eine vollständige Zerstörung der Sprache und ihre ebenso vollständige Rekonstruktion, jeweils in eigens dafür gefundener, strenger Form - übernahm eine Aufgabe seiner Generation. Die ihre ersten Lebensjahre ohne ihre Väter verbrachten, die sie später wie Fremde begrüßen mußten, hatten eine ganze Dimension der Sprache und der Auseinandersetzung entbehrt; 1945 waren sie alt genug, um zu ahnen, daß nun ein neuer Diskurs gelernt werden mußte. In dieser Situation wurde Imhoff zum Dichter. Wenn er Prozesse an der Grenze zum Sprach-Chaos darzustellen vermochte, dann deshalb, weil er seinen Formbegriff geschärft hatte.
      Bei seinen Aktionen pflegte er sich besonders gern dort einzufinden, wo der progressive Zeitgeist sich selbst feierte. Berühmt geworden ist sein Auftritt bei einer Veranstaltung des Suhrkamp-Verlags. Als der brave Günther Eich einen "vornehm linken Text" (so der "Spiegel") zum Vortrag brachte - "Ich wache auf und bin gleich im Notstand" -, hörte man von Imhoff den Zwischenruf: "Also, das geht doch schon formal nicht ... merkt ihr das nicht?"(34) Imhoff brachte mit seinen wohldurchdachten Störungen die Lacher auf seine Seite. Als er am 14. November 1968 die Vorlesung von Habermas unterbrach - er zog es allerdings vor, von der "Antrittsvorlesung Hans Imhoffs" zu sprechen -, war die Szene eines höheren Lustspiels bereitet. "Heute fange ich ganz sokratisch an: Wen beschwörst du da eigentlich, o Wunderlicher? Bei Platon: o daimonie?" Habermas blieb in dem Sprachspiel, das ihm von den SDS-Studenten vertraut war: "Was wollen Sie denn nun. Diskutieren wir doch." Imhoff: "O je, dann hören wir lieber die Vorlesung weiter." Nach kurzem Hin und Her ergab sich der folgende, denkwürdige Dialog: "Habermas: ?Da sich Herr Imhoff einem Mehrheitsbeschluß nicht beugen wird.? Imhoff (Habermas unterbrechend): ?Das ist aus der Zeitung, ich sehe, Sie haben sich vorbereitet. Vielleicht beuge ich mich doch.?" Habermas lächelt für einen Moment, faßt sich wieder, vertagt seine Vorlesung und verläßt den Hörsaal. "Stimme eines höheren Studenten (der sich von seinem Platz erhoben hat, stark erregt): ?Aber Herr Professor, ich möchte sie doch bitten zu bleiben.? (Im Saal Gelächter.) Imhoff (betroffen hinter Habermas herrufend): ?Bleiben Sie doch hier.?" Das Schlußbild: "Imhoff packt den Zettel wieder weg und tritt ab, während die Studenten sich unschlüssig zu verlaufen beginnen. Es bilden sich diskutierende Gruppen."(35) Jede seiner Aktionen hat Imhoff später in Publikationen dokumentiert, die "Mitscherlich-Aktion" auch von Mitgliedern des Sigmund-Freud-Instituts kommentieren lassen. Zusammengenommen ergeben diese Schriften ein Sittenbild der späten sechziger Jahre, das an Intelligenz und schierer Komik seinesgleichen sucht. 
Am 13. Juni 1969 schrieb Adorno an den Dekan der philosophischen Fakultät: "Spectabilis, ordnungsgemäß mache ich Ihnen davon Mitteilung, daß gestern wieder meine Vorlesung gesprengt worden ist. Die Sprengungsaktion wurde geleitet von Herrn Imhoff und einem Herrn Widmann. Herr Imhoff führte zunächst einen seiner bekannten Clownsakte auf, und Herr Widmann übernahm dann, gegen meinen Einspruch und ohne daß ich auch nur die Möglichkeit gehabt hätte, etwas zu sagen, den Vorsitz einer angeblichen Diskussion über das Ordnungsrecht."(36) Der Schriftsteller und Kritiker Arno Widmann, heute Leitender Redakteur der "Berliner Zeitung", erinnert sich allerdings, daß die Aktion, die er gemeinsam mit Imhoff unternahm, keinen clownesken Charakter hatte - Adornos Erklärung sei offenbar aus der Kenntnis anderer Aktionen Imhoffs entstanden -, sondern als Protest gegen das neue universitäre Ordnungsrecht gedacht war. Man habe in der Veranstaltung für eine Diskussion über die Disziplierungsmaßnahmen plädiert und eine Abstimmung über den wei- teren Verlauf der Vorlesung vorgeschlagen - im übrigen aber seien gerade er und Imhoff "absolute Fans" von Adorno gewesen. Dieser jedenfalls interpretierte die Situation in seinem Brief an den Dekan anders: "Nicht unwichtig ist, daß eine Art Solidarisierung der Studenten gegen mich offenbar in dem Augenblick erfolgte, in dem ich meine Absicht erklärte, die Hausverwaltung von den Vorgängen in Kenntnis zu setzen. Wie man die beiden Störenfriede sonst hätte entfernen können, war niemand in der Lage mir zu erklären. Während es um einen durchaus gewaltsamen Versuch sich handelte, wäre sofort bei jeder Gegenmaßnahme über Gewalt gezetert worden."(37) Widmann erinnert sich, daß man nach dem Zwischenfall durch die Vermittlung Rudolf zur Lippes mit Adorno ein Seminar über die "Dialektik der Aufklärung" verabredet habe, auf das Adorno sich gefreut haben soll.
     Aber insgesamt war die Lage in Frankfurt nun vergiftet. Im Sommersemester war es noch zu einer anderen, geschmacklosen Aktion gekommen. Am 22. April waren es mehrere Frauen, die in seine Vorlesung eindrangen - eine höhnische Wiederkehr der Emanzipationshoffnungen, die die "Dialektik der Aufklärung" und die "Minima Moralia" den Frauen gegeben hatten. Während Flugblätter mit der Überschrift "Adorno als Institution ist tot" im Hörsaal verteilt werden, umringen ihn drei in Lederjacken gekleidete Studentinnen, verstreuen Blumen, führen Pantomimen auf und entblößen schließlich, den Parodierten immer mehr bedrängend, ihren Busen.(38) Der Todeswunsch des Flugblattes sollte sich bald erfüllen. 
Als Adorno 1969 starb, war auch das normative Potential seiner Theorie erschöpft. Die heroische Moderne von 1903 hatte ihr Zeit gehabt. Was jetzt kam, war etwas anderes. Der Kunststreit, den Adorno in den sechziger Jahren noch beschworen hatte, zwischen Hans Thoma einerseits, Ernst Wilhelm Nay andererseits, war schon keiner mehr, die Moderne hatte sich flächendeckend durchgesetzt und die Musik ging längst andere Wege als den der asketischen Webern-Nachfolge. Der Mond war betreten, keine expressionistische Phantasie mehr wie in Adornos Jugendgedicht. Die Flaschenpost hatte ihre Empfänger erreicht, aber inzwischen war sie geborsten. Die Gesellschaftslehre mit ihren universellen Emanzipationszielen begann, sich von der Kultur zu entfernen; eine besondere Bindung an die deutsche Sprache und die deutsche Musik, die für Adorno noch entscheidend gewesen waren, galten nun als Ausweis der Rückständigkeit. Die Tausch- und Geldabstraktion wurde zur Ideologie der entsymbolisierten Welt, der Universalität ohne Kultur.

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(31) hm., Eine Sänfte für Herrn Adorno. Ein Philosoph im Zeugenstand gegen seinen Schüler / Die Phänomenologie der Okkupation im Gerichtssaal, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Juli 1969
(32) GS 7, 383
(33) Hans Imhoff, Asozialistik, zitiert nach: Komödie der Weisheit. 1968 ab Kunst: Hans Imhoff, ein deutscher Aristophanes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Mai 1998
(34) l.c.
(35) l.c.
(36) FAB VI,
(37) FAB VI, 108 f
(38) FAB VI, 200


Abkürzungen:
FAB: Frankfurter Adorno Blätter. Im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs hrsg. von Rolf Tiedemann. München 1992 ff.
GS: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Band 1-20. Frankfurt a.M. 1970-1986


© DVA 2003
Mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlags-Anstalt.

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