9punkt - Die Debattenrundschau

Österreich gehört nicht dazu

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2019. Morgen sind Europawahlen! In der NZZ fragt Hans Ulrich Gumbrecht, warum die Europäer eigentlich so unzufrieden sind. In der taz geißelt Franzobel die selbstgerechte Niedertracht der Österreicher. Allen Tränen zum Trotz wird der Guardian Theresa May nicht verzeihen. Der Spiegel veröffentlicht außerdem seinen Abschlussbericht zu seinem Starfälscher Claas Relotius, die SZ lernt dabei auch, wie an der Ericusspitze Arbeitsaufträge vergeben werden. Und im New Yorker hält sich Masha Gessen die Nase zu und springt für Julian Assange in die Bresche.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.05.2019 finden Sie hier

Europa

Morgen sind Europawahlen. Die taz wechselt von rot auf blau und umkränzt ihr Logo mit gelben tazzen. Im Interview mit Ralf Leonhardt hätte Schriftsteller Franzobel zum Beispiel gar nicht gedacht, dass  Österreichs rechte Regierung so schnell aus der Bahn geschleudert wird. Insgesamt aber passe die Ibiza-Affäre ins Bild Wiener Unmoral: "Der Österreicher neigt zur selbstgerechten Niedertracht. Es gibt integre Personen wie Van der Bellen, dem man schwer eine Falle stellen könnte, außer man entzieht ihm das Nikotin. Hier herrscht eine moralische Verkommenheit, die man in Deutschland so nicht kennt. Ich glaube, die Deutschen sind aufgrund ihrer Mentalität, ihres Protestantismus und ihres Umgangs mit der Geschichte integrer als wir. Österreich ist da näher am Balkan und an Südamerika. Bestechlichkeit ist eine menschliche Schwäche, die nur in wenigen Ländern eingedämmt werden konnte, Österreich zählt da nicht dazu." Christina Schmidt und Laurin Lorenz recherchieren nach, wie der FPÖ-Mann Herbert Kickl als Innenminister agiert hat.

Aus Stanford blickt Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ besorgt auf die ermatteten Europäer und ihre missgelaunte Trägheit: "Woher kommt so viel Unzufriedenheit, Dysphorie und Ressentiment in einem riesigen Gemeinwesen, das die Vorteile des Wohlfahrtsstaats wahrscheinlich flächendeckender und qualitativ erfolgreicher verwirklicht hat als irgendeine Vorgängerinstitution in der Menschheitsgeschichte?" Für die Krise in Europa macht FAZ-Autor Paul Ingendaay die Unwilligkeit der Linken verantwortlich, über die negativen Folgen der Migration zu sprechen: "Einen gewissen Hang zur Selbstverabsolutierung und zum moralischen Besserwissen wird man denen, die sich für Vielfalt engagieren, ohne an die Ängste anderer zu denken, nicht absprechen können."

Klaus Hillenbrand stellt in der taz den Politikprofessor Niyazi Kızılyürek vor, der als erster türkischer Zypriote für das EU-Parlament kandidiert - zum Ärger aller Seiten. Georg Diez würde die Demokratie in Europa gern neu erfinden und schlägt dafür zuerst einmal eine Verjüngung vor: "Der erste Schritt wäre hier eine Jugendquote für alle EU-Institutionen, 40 Prozent unter 40 etwa, und eine Herabsetzung des Wahlalters auf 12 Jahre oder jünger." Im Welt-Interview mit Timo Feldhaus wischt der britische Schriftsteller Tom McCarthy all die humanistischen Fantasien vom Tisch, die er für überholt hält, das Theater zum Beispiel oder das Ich. Auch zum Brexit hat er klare Ansichten: "Brexit ist Faschismus. Es gibt dabei keine zwei Sichtweisen."

The Crying shame, the Crying Lady.
Der britische Boulevard kann sich gar nicht satt sehen, an den Bildern von Theresa May in Tränen. Aber auch der Guardian schenkt der scheidenden Premierministerin in seinem Leitartikel nichts: "Sie war schlecht beraten von Ideologen, die glaubten, sie könnten einen harten Brexit zu minimalen Kosten haben. Aber das ist keine Entschuldigung. Sie nahm den schlechten Rat bereitwillig an, wenn er mit ihren eigenen Vorurteilen übereinstimmte, und lehnte klügeren ab. Sie begann die Verhandlungen mit Brüssel schlecht vorbereitet und ging durch die brutale Schule ökonomischer und diplomatischer Realitäten. Das war schon demütigend genug. Doch dass sie die Lehren dem nationalen Publikum nicht beibrachte, ist unverzeihlich."

In der SZ berichtet Cathrin Kahlweit von den Reaktionen in London, wo irgendwie Erleichterung herrsche, aber auch Ratlosigkeit, weil niemand wisse, wie es jetzt weitergeht: "Das sei wie Game of Thrones auf britisch, witzelt ein Kommentator, viel Spannung und ein unbefriedigendes Ende."
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Gesellschaft

Harvey Weinstein, der gestürzte Hollywood-Mogul, muss sich vor Gericht nur noch wegen zwei Vergewaltigungsfällen verantworten, achtzig Frauen haben sich mit ihm außergerichtlich geeinigt. Sebastian Moll ärgert das in der FR sehr: "Weinsteins Anwälte haben erreicht, dass sich die Frauen mit einem Entschädigungsfonds von 30 Millionen Dollar zufrieden geben statt vor Gericht darüber zu reden, wie in der Weinstein Company sexuelle Ausbeutung toleriert und ermöglicht wurde. Die Einigung ist ein erneuter Fall eines reichen, weißen Mannes, der sich eine öffentliche Demütigung erspart und seine Opfer zum Schweigen bringt. Für die #MeToo-Bewegung ist dies ein Rückschlag."
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Geschichte

Unzulässig und tendenziös findet der Historiker Ulrich Schlie in der NZZ, wie sein Kollege Thomas Karlauf in seiner Stauffenberg-Biografie den Hitler-Attentäter als nationalistischen Aristokraten und Opportunisten darstellt, der sich erst im Moment der absehbaren Niederlage von Hitler abgewandt habe: "Wie Stauffenberg politisch gedacht hat, können wir nur aus den wenigen Zeugnissen von Weggefährten und Familienangehörigen rekonstruieren. Das ist unbefriedigend, aber in der Zeitgeschichte nichts Ungewöhnliches. Methodisch unhaltbar indes ist es, aus Mutmaßungen eine Anklage zu basteln... Nach dem übereinstimmenden Zeugnis von Weggefährten und Zeitzeugen war er eine charismatische, vielseitige Persönlichkeit. 'Bei aller verstandesmäßigen Klarheit', hieß es sogar in einem - von Karlauf nicht herangezogenen - SS-Bericht über den 20. Juli, 'war er ein Feuergeist und von faszinierender und suggestiver Wirkung auf seine Umgebung ... ein wirklich universeller Mensch, keineswegs ein einseitiger Militär.'"
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Medien

Als eindeutigen Angriff auf Pressefreiheit wertet Masha Gessen im New Yorker die Entscheidung des amerikanischen Justizministeriums, Julian Assange wegen Spionage anzuklagen: "Assange ist ein durch und durch unangenehmer Protagonist. Er begibt sich in politisch schreckliche Gesellschaft. Er ist wahrscheinlich selbst recht schreckliche Gesellschaft. In seinen Artikeln und Interviews zeigt er sich als machthungrig und manipulativ. Noch wichtiger: Als er geheime Dokumente leakte, verbreitete er damit auch Informationen, die andere Menschen in Gefahr brachten. Er ist ein perfektes Ziel, eben weil er so unsympathisch ist. Man muss sich die Nase zuhalten, wenn man Assange verteidigt. Und doch muss man ihn verteidigen."

Auf siebzehn Seiten veröffentlicht der Spiegel seinen detaillierten Abschlussbericht zur Causa Claas Relotius. Viel Neues bringt er, wie Laura Hertreiter in der SZ berichtet, nicht zu Tage, aber viel Selbstkritik und auch Bemerkenswertes. So schätze Chefredakteur Steffen Klusmann, dass 95 Prozent der rund 60 beim Spiegel veröffentlichten Geschichten "journalistisch wertlos" seien, neun komplett erfunden: "Der Abschlussbericht geht nach der internen Analyse relativ schnell dazu über, die Reportage als anfällige Textform sowie dubiose Praktiken, die demnach an Journalistenschulen gelehrt würden, als Ursachen zu reflektieren. Auf welch spezielle Art jedoch Reportagen beim Spiegel entstehen konnten, zeigt ein im Bericht zitierter Mailwechsel zwischen Geyer und seinen Autoren Relotius und Moreno über eine geplante Reportage. 'Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land (…) Sie setzt ihre Hoffnung auf ein neues, freies, gutes Leben in USA (…) Es muss eine sein, die mithilfe eines Kojoten über die Grenze will (…) Wenn ihr die richtigen Leute findet, wird das die Geschichte des Jahres.' Woher kommen solch überhitzte Ansagen?"

In der Welt bemerkt Christian Meier, dass die neue Transparenz des Hauses mit einer gewissen Dünnhäutigkeit einher geht: "Man ist nervös, will Zitate aus der Pressekonferenz autorisiert haben." Bereits vor einigen Tagen hatten Zeit und ZeitOnline explizit ihre Standards formuliert.

Die Auseinandersetzungen werden irgenwie klarer: In der NZZ liefert sich Rainer Stadler einen bemerkenswerten Schlagabtausch mit dem Journalisten und Anwalt Steven Brill, der mit seiner Organisation Newsguard per Browser-App die Glaubwürdigkeit von Medien im Netz zertifiziert. So fragt Stadler: "Diverse Studien stellen fest, dass die Konsumenten durchaus in der Lage sind, zwischen glaubwürdigen und unseriösen Anbietern zu unterscheiden. - Solche Studien gibt es nicht.  - Ich habe solche gelesen... - Die Studien sagen das Gegenteil. Das Gallup-Institut analysierte Personen, die unser Bewertungssystem auf ihrem Browser installiert haben. 80 Prozent dieser Personen sind viel weniger gewillt, Medienangebote zu teilen, welche mit einem negativen roten Signet gekennzeichnet sind. Sie sind vielmehr daran interessiert, Beiträge von grün gekennzeichneten, also glaubwürdigen Websites weiterzuverbreiten."
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