Im Kino

Die einzige Wahrheit

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
06.10.2022. Beatrice Manowskis "Drop out - Nippelsuse schlägt zurück" von 1998 führt uns zurück in ein Hamburg, das noch kategorisch unaufgeräumt war: mit genau austarierter Drogenmischung, einer toll erotomanen Beschwingtheit und einer schlagfertigen Heldin, deren fabulöse Voice-Over-Stimme allein die vierte Wand zum Publikum durchbricht.


Ein Film aus den wilden 90er könnte man auf den ersten Blick sagen: hach schau mal, damals, als die Städte - Hamburg in diesem Fall, nicht Berlin, wie ich offen gestanden intuitiv und ziemlich lange dachte - noch dreckig und billig und irgendwie auch gefährlich waren, alles voller Drogen und klandestinen Sexclubs und unrasierten Tagedieben, die aus Prinzip lieber neben als ins Klo pissen. Das stimmt schon auch, der Film entstammt den 90ern und das wilde, räudige Zeug ist alles drin - nur dass "Drop Out - Nippelsuse schlägt zurück" die kaputte urbane Welt, in der er spielt, nicht groß ausstellt, als Attraktion etwa, als Teil eines Lebensentwurfs, als ein subkulturelles Biotop oder Ähnliches. Das prä-gentrifizierte, kategorisch unaufgeräumte Hamburg der ganz späten Helmuth-Kohl-Ära ist einfach nur die Welt, die zur Hauptfigur des Films passt; zu Nippelsuse resp. Marion, einer Blondine mit losem Mundwerk, unstetem Lebenswandel und fragwürdigem Männergeschmack. Schlank, wendig, ihre Umgebung mit schuldriger Eleganz navigierend, egal ob im schicken blauen Abendkleid oder oben ohne mit Umschnall-Dildo. Die sympathisch aus der Art geschlagene, beim Familientreffen an den Katzentisch verbannte und doch auf ihre Art nicht weniger glamouröse Cousine der 90er-Mainstream-Blondinen Katja Riemann und Katja Flint vielleicht? Vielleicht.

Inszeniert hat "Drop Out", als ihren bislang einzigen Langfilm, Beatrice Manowski, die auch die Hauptrolle übernimmt, die Rolle jener Nippelsuse, die "zurück"-schlägt, ohne dass man sagen könnte, oder dass es irgendwen kümmern würde, wer oder was zuerst geschlagen hätte. Manowski entstammt der Westberliner Underground-Filmszene der 1980er, als Schauspielerin hatte sie mit Wim Wenders zusammengearbeitet (das sieht man "Dropout" nicht wirklich an) und mit Jörg Buttgereit (das schon eher); außerdem gleich mehrmals mit Wolfgang Büld, dem unermüdlichen Punkrocker des deutschen Pop-Kinos, der "Drop Out" produziert und das Drehbuch gemeinsam mit Manowski schreibt.

Bei Drehbuch denkt man zuerst an Plot, und den gibt es schon auch, nicht zu knapp sogar: Es beginnt mit einem Umzug, Nippelsuse hat keinen Bock mehr auf den etwas arg unappetitlich abgefuckten, freilich trotzdem auch später im Film immer mal wieder durch ihren Hormonhaushalt spukenden Boyfriend. Die neue Wohnung, in die sie zieht, ist erstmal nur baufällige, gähnend leere Hamburger Altbautristesse, mitsamt creepy Hausmeister. Aber halt, sagt der Voice Over, da liegt ja ein Roman von Raymond Chandler! Und schon ist Nippelsuse Privatdetektivin. Eine Detektivin "für Frauen- und Männerangelegenheiten" genauer gesagt, und also praktisch zuständig für alles. Mit ihrer ersten Auftraggeberin steigt Nippelsuse gleich ins Bett, bald darauf taucht die erste Leiche auf, es geht um Seitensprünge und Korruption, eine Hamburger Senatorin mischt fleißig mit, ein obszöner, homophober, aber schon auch ziemlich heißer Cop hat vermutlich ebenfalls Dreck am Stecken.



Irgendwo in "Drop Out" verbirgt sich eine durchaus an einschlägigen Vorbildern (Chandler!) orientierte Neo-Noir-Erzählung; nur, dass alles was hier Ermittlung und Plot ist, bei jeder Gelegenheit von der Dekoration - zugedröhnte Gitarristen, kratzbürstige Obdachlose, genüsslich ausgekosteter Toilet Humor, der bereits erwähnte Umschnalldildo - überflutet wird. Und dann wäre da noch der Voice-Over. Nicht die Stadt, nicht die Chandleresque Erzählung, und letztlich auch nicht, so wichtig und großartig sie ist, Manowskis Performance ist das Zentrum, von dem alles seinen Ausgang nimmt, sondern: Manowskis Erzählerinnenstimme, beziehungsweise die von ihr in teils halsbrecherischem Tempo formulierten Sätze, die mal "von außen" an die Bilder herantreten, mal von der Protagonistin direkt, die vierte Wand brechend, gen Kamera gesprochen werden.

Ein generativer Voice-Over ist das, könnte man sagen, einer, der dem Plot gegenüber nicht etwa eine ordnende Funktion hat, sondern der die Verwicklungen, die sich im Leben der Nippelsuse ergeben, erst hervorzubringen scheint, und zwar unmittelbar im Sprechakt. Der darin weit hinaus geht über die Konventionen des Film noirs und dem dort gelegentlich anzutreffenden "unzuverlässigen Voice Over". Sätze sind das, die an ihrem Anfang selbst noch nicht zu wissen scheinen, wie sie enden werden und die doch die einzige Wahrheit sind, die der Film gelten lässt. Das ist ganz große Monolog-Kunst, fabulös geschrieben und fabulös gesprochen gleichermaßen: Gleichzeitig schuldrig und hochgradig artifiziell, scheinbar komplett ins Blaue formuliert und doch gespickt mit jeder Menge überraschender, pointierter Wendungen. Stets an der naiv-abgefuckten, die möglichst unmittelbare Befriedigung aller leiblichen und sexuellen Bedürfnisse zentrierenden Nippelsuse-Lebenswelt klebend, dabei aber fröhlich zwischen diversen Zeitebenen hin- und herspringend, dem seinerseits bald reichlich konfusen Plot lieber zwei als einen Schritt voraus.

Jedenfalls bedarf es in diesem Film, das lernt die Nippelsuse schnell, einer genau austarierten Drogenmischung, um den Überblick zu behalten, oder, vielleicht besser, um sich perfekt in den allseitigen Überblicks- und Kontrollverlust einzuschwingen. Dass man am Ende heil herauskommt ist freilich nicht garantiert. Bei aller substanzinduzierten und teils auch toll erotomanen Beschwingtheit gibt es in "Drop Out" auch etwas Hartes, Gefährliches, "wie ein Schwanz, den man wirklich nicht in sich haben will". Massiv schlägt das im Showdown durch, in dem die sonst kaum länger als einen Nebensatz am selben Ort verweilende Nippelsuse sich plötzlich minutenlang in einer minimalistisch-beengenden, agggressiv glitzernden Fetisch-Kellerwelt gefangen sieht.

Freilich bleibt der Film am Ende doch, was er von Anfang an ist: hochgradig beweglich, nicht festzulegen. Zu geformt und narrativ fürs Underground-Kino, zu desinteressiert an Spannungsökonomie und Schauwertausbeutung fürs Genre- beziehungsweise Exploitationkino, zu low-fi und auch schlichtweg zu hedonistisch für den Festival- und Kunstbetrieb. "Drop Out" ist ein Film, auf den schon 1998 niemand gewartet hatte, als er sang- und klanglos mit gerade einmal fünf Startkopien in den Kinos verklappt wurde; und auf den auch zur Wiederaufführung 2022 niemand wartet. Die Nippelsuse schert das nicht, sie schlägt nun einfach zum zweiten und hoffentlich nicht letzten Mal zurück. Das deutsche Kino hat es, weiß Gott, verdient.

Drop Out - Nippelsuse schlägt zurück - Deutschland 1998 - Regie: Beatrice Manowski - Darsteller: u.a. Beatrice Manowski, Erdal Yildiz, Axel Pape, Martina Schießer, Robert Viktor Minich - Laufzeit: 90 Minuten.