Vom Nachttisch geräumt

Kaufen Sie meine Bananen

Von Arno Widmann
17.03.2016. Nicht auf das Geschlecht kommt es an, sondern was jemand daraus macht, erklärt die Kunsthistorikerin und Künstlerin Linda Nochlin in ihren Essays. (Bild: Georgia O'Keefe, aus der Serie "I White & Blue Flower Shapes")
Der deutsche Wikipedia-Eintrag über sie beginnt mit diesem Satz: "Linda Nochlin (* 30. Januar 1931 in New York City als Linda Weinberg) ist eine amerikanische Kunsthistorikerin, die mit ihrem Essay 'Why Have There Been No Great Women Artists?' 1971 den Grundstein für eine feministische Kunstgeschichtsschreibung legte." Die Kunsthistorikerin und Kuratorin Maura Reilly hat jetzt bei Thames & Hudson einen dicken, abbildungsreichen Band mit Essays von Linda Nochlin vorgelegt. Am Anfang steht der Aufsatz "Warum gab es keine großen weiblichen Künstler?" aus dem Jahre 1971. Den Band beschließt Linda Nochlins 2015 erschienene Besprechung einer von der 1980 in Austin (Texas) geborenen Malerin Natalie Frank illustrierten Ausgabe der Märchen der Gebrüder Grimm.

Insgesamt dreißig Aufsätze aus mehr als vier Jahrzehnten. Eine glückliche Gelegenheit für eine genaue Auseinandersetzung mit der Entwicklung des feministischen Blicks auf die Kunst und die Menschheit in den vergangenen Jahrzehnten. Es hat sich ja nicht nur die Kunst geändert, sondern stärker noch unser Verständnis dessen, wie Geschlecht - biologisch, gesellschaftlich und individuell - definiert wird. Es wäre eine schöne Aufgabe, sich Zeit zu nehmen, Linda Nochlins Aufsätze unter diesem Gesichtspunkt zu lesen. Wo taucht zum Beispiel bei ihr der Begriff "transgender" auf? Wann kommt "queer" das erste Mal vor? In welchen Zusammenhängen wird es ihr wichtig, aus der Dichotomie Frau - Mann, die für ihren ersten Ansatz so elementar war, auszubrechen? Was wird dadurch gewonnen? Was geht dabei verloren? Alles nur Fragen. Ich habe keine Antworten darauf. Aber vielleicht animieren sie die eine oder die andere Leserin, den einen oder den anderen Leser, sich in diesen großartigen Band mit der Akribie zu vertiefen, die er verdient. (Ein erster Einstieg könnte auch Nochlins Vortrag über amerikanische Künstlerinnen auf Youtube sein, ab 8:20.) Erste Ansätze zu einer historischen Lektüre ihrer Arbeiten liefert Linda Nochlin selbst. Zum Beispiel in ihrem autobiographischen Text "Starting from Scratch: The Beginnings of Feminist Art History" aus dem Jahre 1994 und in ihrem 2006 erschienenen Essay über ihren Aufsatz aus dem Jahre 1971.


Sylvia Plimack Mangold, Floor with Light at Noon, 1972, Farnsworth Art Museum

Von all dem möchte ich hier nicht sprechen, sondern dem Genre des "Vom Nachttisch geräumt" treu bleibend, nichts als ein paar Lesefrüchte vorstellen. Da ist die Warnung, gleich zu Beginn ihres großen, in den Februar- und Märzausgaben 1974 im Art Magazine erschienenen Artikels über "Some Women Realists": Es sei natürlich wichtig für den Weltblick eines Künstlers, ob er eine Frau, ein Zwerg, ein Amerikaner oder sonst etwas sei, aber "little can predicted on this basis". Das sind alles, wie auch die Zeit, die Umgebung, in der er arbeitet, nichts als Voraussetzungen. Alles kommt darauf an, was der Künstler damit macht. Das ist auch das eigentlich Interessante. Nochlin ist nicht an der Reduktion aufs Vorgefundene interessiert, sondern daran, was die Künsler daraus machen. Man spürt in nahezu jedem ihrer Aufsätze, dass das für sie nicht nur eine Frage des richtigen Umganges mit den Kunstwerken ist, sondern auch des richtigen Miteinanders. Vielleicht ist es dieser Blick und nicht nur ihre kunsthistorische Bildung, der sie danach fragen lässt, woran wir erkennen, dass die akribisch dargestellte Realität zu einer großen Metapher, zu einem monumentalen Symbol, man weiß nicht wovon, wird? Bei Georgia O'Keeffes Blütenporträts sind wir uns sicher, auch Sylvia Plimack Mangolds Dielenböden lesen wir automatisch so. Warum tun wir das? Was in dem Bild gibt uns den Hinweis darauf, es nicht nur als Abbild zu lesen?

In einem bisher nicht veröffentlichten Aufsatz beschäftigt sich Linda Nochlin mit Arbeiten der von ihr - aus mir ganz und gar unbegreiflichen Gründen - nicht sonderlich geschätzten 1953 in Paris geborenen Künstlerin Sophie Calle. Der Titel der zwanzig Seiten umfassenden kleinen Abhandlung lautet: "Sophie Calle: Word, Image and the End of Ekphrasis." Ekphrasis ist nicht nur das griechische Wort für Beschreibung. Es war auch die Bezeichnung für das lterarische Genre der Bildbeschreibung. Eine Gattung, die sich in der Antike größter Beliebtheit erfreute. Linda Nochlin erinnert an Homers berühmte ausführliche Schilderung des Schild des Achill. Sie erinnert aber auch die "Ode on a Grecian Urn" des romantischen Dichter John Keats und an W. H. Audens Gedicht "Musée des Beaux Arts" über Pieter Bruegels des Älteren "Landschaft mit dem Sturz des Ikarus". (Bild: Sophie Calle, Last seen ... Degas, drawing, 1991)

Sophie Calle war beauftragt worden, die leeren Flächen, die entstanden waren, weil einige Gemälde kurzzeitig ausgeliehen worden waren, künstlerisch zu füllen. Sie befragte Kustoden, Besucher, Kenner und Ahnungslose über die abwesenden Bilder, machte daraus einen Text und hängte ihn an die Stelle der Bilder. Davon ausgehend schreibt Linda Nochlin einen Text über diese abwesenden Bild-Texte über abwesende Bilder und versucht darin, was Sophie Calle macht einzuordnen in den die europäische Kunstgeschichte immer wieder bewegenden Streit um die Gewichte von Bild und Wort. Bis sie erkennt, dass sie, die Kunsthistorikerin, ein zentrales Element in diesem Verhältnis Bild und Wort ist. Wie viele Bilder hat sie beschrieben in ihrem Leben? Wie viel verraten diese Beschreibungen über die Bilder? Verraten sie die Bilder?


Links: "Buy My Apples" aus einem populären französischen Magazin des späten 19. Jahrhunderts. Rechts: "Buy My Bananas" von Linda Nochlin, 1972

Der Leser blättert zurück zu ihrem bereits erwähnten autobiografischen Aufsatz aus dem Jahre 1994. Es gibt zwei Fotos darin, die zeigen: Linda Nochlin kann auch anders. Da stehen nebeneinander die wohl um 1900 entstandene Fotografie einer Frau, die nichts anhat als ein paar Stiefel und lange, bis zur Mitte der Oberschenkel reichende schwarze Strümpfe. Sie hält dem Betrachter ein Tablett entgegen, auf dem Äpfel und ihre Brüste liegen. "Kaufen Sie Äpfel" steht unter der Aufnahme. Daneben ein Foto, das Linda Nochlin 1972 machte: ein Mann mit nichts als Schuhen und bis knapp ans Knie reichenden weißen Strümpfen hält dem Betrachter ein Tablett mit Bananen entgegen - dahinter deutlich sichtbar im Zentrum des Bildes sein Penis. "Kaufen Sie meine Bananen" heißt das Foto. Linda Nochlin hat die Pornografie des 19. Jahrhunderts nicht beschrieben, nicht als Kunsthistorikerin analysiert, sondern sie hat als Künstlerin darauf reagiert. Ironisch, amüsiert, mit viel Sinn fürs Detail. Zum Beispiel die Hochsteckfrisur der Frau auf der Pariser Postkarte wird konterkariert mit dem von Haaren und Bart nahezu zugewachsenen Gesicht des jungen Mannes. Die beiden Fotos nebeneinander machen mit einem Schlag klar, wie unterschiedlich Männer und Frauen dargestellt werden. Wie unterschiedlich ihr Sex-Appeal ist.

Oder muss man "war" sagen? Die Rollen haben sich geändert und damit auch unsere Wahrnehmung der Geschlechter. Spätestens seit 2014, seit dem Auftritt von Conchita Wurst auf dem Eurovision Song Contest ist wohl der letzte dahinter gekommen, wie sexy ein Mann als Frau sein kann. Oder auch eine Frau als Mann. Transgender ist älter, als wir denken. Man lese, was Claudia Ott in der tausendundersten Nacht der Kayseri-Handschrift von "Tausendundeiner Nacht" fand:

"Wenn die Schönheit junger Männer/
Die der schönsten Frau'n nicht vielfach überträfe,
Zauberten die Zofen wohl den Bräuten
Nicht den Bart auf Wangen, Kinn und Schläfe"

Women Artists - The Linda Nochlin Reader, edited by Maura Reilly, Thames & Hudson, London 2015, 230 farbige und s/w Abbildungen, ab 30 Euro.