Vom Nachttisch geräumt

Das erste Fourletterword

Von Arno Widmann
11.05.2016. Valère Novarino sammelt 311 Gottesdefinitionen und offenbart einen indogermanischen Vierbuchstabengötterhimmel.
Nicht einmal dreißig Seiten hat der Text. Ein Theaterstück ohne Dialoge. Nichts als jede Menge Zitate: "311 Gottesdefinitionen". Das ist auch der Titel des Textes. Ich habe nicht nachgezählt. Dabei wäre es wichtig. Wären es nicht 311, dann verhielte es sich mit dem Titel ähnlich wie mit manchen dieser Gottesdefinitionen, die auch eine Präzision vortäuschen, der kein Gegenstand gewachsen wäre. Der Text, so sagt mir die Ausgabe des Verlages Matthes & Seitz, sei die XXV. Szene aus einem mehr als fünfhundert Seiten umfassenden, jeden Bühnenrahmen sprengenden Textungetüm "Das Fleisch des Menschen". Dank Youtube kann ich mir ein etwas schemenhaftes Bild von dem, was auf der Bühne zu sehen ist, machen. Es ist ein "Ein-Mann-Theater". Ich gebe sofort kontra. Diese Vielfalt, diese rapiden Gefühlswechsel, dieses mal kalt Vernünftige, dann wieder Aufwühlende - könnte man das nicht auch als eine bombastische Inszenierung zwischen Barock-Oper und Slapstick auf die Bühne bringen? Aber lassen wir das. Danken wir dem Verleger Andreas Rötzer, dass er dieses winzige, großartige Buch herausgebracht hat. Er hat dem Text noch 50 Seiten Nachweise beigefügt, sodass ich jetzt von fast allen zitierten Sätzen weiß, von wem sie wo geschrieben oder gesagt wurden.

Ach, ich habe ganz den Autor der Kompilation vergessen. Es ist Valère Novarina. Der wurde 1947 in einem kleinen Ort bei Genf geboren und ist seit vielen Jahren einer der bedeutendsten französischen Dramatiker und Regisseure. An meiner Vorstellung von einer neo-barocken, "Der seidene Schuh"-mäßigen Aufführung der Gottesdefinitionen, können Sie sehen, was für ein naiver Zuschauer-Dilettant ich bin. (Auf Bayern3 kann man noch ein gut 59 Minuten langes Porträt Novarinas von 2011 hören)

Das kleine Bändchen las ich Ostersonntag. Wahrscheinlich liegt es daran, dass mir auffiel, dass keine einzige der Definitionen lautet: Gott ist der, der sterben und auferstehen kann. Dass er ewig lebt, den Tod nicht kennt, das wird immer wieder betont. Er kann also nicht sterben, wäre der Einwand eines gewitzten Teenagers, wäre da nicht Karfreitag und Ostersonntag. Der sterbende Gott ist aber nichts Besonderes. Es gibt oder gab ihn fast überall auf der Welt. Es sind die Fruchtbarkeits-, die Frühjahrsgötter, die im Lauf des Jahres leben, sterben, auferstehen. Die Religionen der Welt sind voller Geschichten über zahlreiche Varianten von Tammuz - nach dem übrigens auch ein Atomreaktor im Irak benannt worden war - und Osiris. Götter, die ermordet wurden, zur Hölle herniederfuhren und wieder zum Leben erwachten. In den 311 Gottesdefinitionen kommen sie nicht vor. Valère Novarina konzentriert sich ganz auf die abrahamitischen Religionen: Judentum, Christentum und Islam. Alles andere fehlt. Die Beschränkung ist in einem Europa, in dem zum Beispiel Buddha schon seit weit mehr als einem Jahrhundert zu den zentralen Figuren einer Erfahrung der Transzendenz zählt, mehr als bedauerlich.

Aber warum bemäkeln, was fehlt, statt sich daran zu freuen, was man findet. Der französische Lexikograf Antoine Furetière (1619-1688) zum Beispiel erklärte, so Valère Novarina, in seinem erst 1690 veröffentlichten Dictionnaire universel, dass "Gott in fast allen Sprachen vier Buchstaben" habe. Gott ein Four-Letter-Word? Dieu, Gott, Dios, Theos, Deus - okay. Aber was ist mit God und Dio? Ich sehe nach. Gepriesen sei das Internet! Wieder und wieder! Da ist der Dictionnaire universel. Ich schlage "Dieu" nach. Der Eintrag beginnt mit dem Satz: "Es kann keine wirkliche Definition geben, denn es handelt sich um ein unendliches und unverständliches Sein." Und dann kommt die Stelle. Das Englische wird tatsächlich nicht erwähnt. Aus meinem modernen italienischen dio wird idio. Allah wird zu Alla usw. Es ist ein indogermanischer Vierbuchstabengötterhimmel, den Furetière da vor uns öffnet. Das berühmteste Tetragrammaton - Vierbuchstabenwort - ist JHWH, der hebräische Gottesname, der nicht ausgesprochen werden durfte. So sprach man dann gerne vom Tetragrammaton. Womit mir endlich die blasphemische Hinterfotzigkeit des Begriffs vom "fourletterword", deutlich wird, das sich im Englischen ja auf Begriffe wie "fuck" bezieht, die auch nicht ausgesprochen werden durften oder dürfen. Gott ist der erste Beweger, er ist der erste in allem. Auch das erste Fourletterword.

Valère Novarino: 311 Gottesdefinitionen, aus dem Französischen von Leopold von Verschuer, Matthes & Seitz, Berlin 2012, 88 Seiten, 10 Euro.