Außer Atem: Das Berlinale Blog

Gott hat hier noch nie jemandem geholfen: Ahmed El Maanounis 'Alyam, Alyam - Oh the Days!' (Forum)

Von Anja Seeliger
14.02.2017.


Es gibt auf der Berlinale einige Filme, die Fluchten aus der Tradition zeigen. Die 16-jährige Khadija zum Beispiel, die in Tala Hadids Film "House in the Fields" von dem letzten gemeinsamen Sommer mit ihrer 19-jährigen Schwester Fatima erzählt, bevor Fatima verheiratet wird. Khadija, die mit ihrer Familie im Hohen Atlasgebirge in Marokko lebt, hat daran überhaupt kein Interesse. Sie will zur Schule gehen und Anwältin in Casablanca werden, erzählt sie, und nicht von "alten glatzköpfigen Männern" gesagt bekommen, was sie tun soll. In einer wunderbaren Szene erklärt sie ihrer Freundin, dass in Marokko die Frauen jetzt gleichberechtigt sind. Wer sie zwingt, etwas gegen ihren Willen zu tun, den können sie verklagen, so sagt es das neue Gesetz. Die beiden wagen es kaum in die Kamera zu gucken, als sie diese kühnen Worte ausspricht.  Oder die 14-jährige Sámi Elle Marja, die sich in Amanda Kernells Film "Sameblod - Sami Blood" entschließt, der Diskriminierung durch die Schweden, aber auch der traditionellen Welt ihrer Eltern zu entkommen, indem sie eine hundertprozentige Schwedin wird. Oder die 52-jährige Manana, die in "Chemi bednieri ojakhi - My Happy Family" ohne Begründung ihre Großfamilie verlässt, um endlich einmal allein sein zu können.

Der schönste Film, den ich zu dem Thema gesehen habe, ist Ahmed El Maanounis "Alyam, Alyam - Oh the Days!" von 1978. Es ist eine Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm und was er erzählt, könnte genauso von heute sein. Im Programmheft erzählt El Maanouni, wie der Film entstand: "Zunächst habe ich Material gesammelt, kleine Anekdoten und Fakten aus dem Leben der Bauern in der Region von Casablanca. Als ich dann daran ging, das Mosaik des Films zusammenzustellen, habe ich mich an die Bauern gewandt und sie gebeten, mitzuspielen. Der Film bewegt sich zwischen ihren Erfahrungen und meinen Beobachtungen. Mein Spielfilm ist also ein Dokumentarfilm und mein Dokumentarfilm ein Spielfilm."

Hauptperson ist der junge, bettelarme Bauernsohn Abdelwahed, der davon träumt, in Holland oder Frankreich zu arbeiten, eigenes Geld zu verdienen und ein eigenes Leben führen zu können. Denn zu Hause ist er der Ernährer seiner verwitweten Mutter, ihrer acht Kinder und ihres kranken Vaters. Eine furchtbare Last für einen so jungen Menschen, dessen Leben eigentlich noch gar nicht angefangen hat.

El Maanouni begleitet Abdelwahed mit der Kamera zur Feldarbeit auf dem eigenen und auf fremden Äckern, wo er sich zusätzlich als Erntehelfer verdingt. Man sieht ihn und seine Freunde am Abend am Lagerfeuer, so müde, dass sie kaum ein Lied zu Ende singen können. Mit Mutter und Großvater spricht er über seine Idee, in Europa Geld zu verdienen. Er habe keine Zukunft hier, sagt er, er halte es nicht mehr aus. Die Mutter wiegt den Kopf und wiederholt in einem monotonen Singsang, immer wieder, als würde sie ihn gar nicht hören: Er müsse bleiben, das sei die Tradition, was solle aus ihr und den Geschwistern werden. Wenn er fleißig sei und hart arbeite, würde Gott ihn schon belohnen. Das sagen ihm auch der Großvater, und die anderen alten Männer im Dorf.

Man guckt auf die staubigen Felder, die unglaublich ärmlichen Hütten und weiß, dass Gott hier noch nie jemandem geholfen hat. Einmal kommt eine Nachbarin und plaudert mit der Mutter. Es geht ums Heiraten, um Krankheiten, wer eine Arbeit bekommen hat. Über viel Unglück wird gesprochen, und immer soll Gott es richten. Der Mutter gegenüber ist das ein bisschen unfair, denn, wie El Maanouni in den Produktionsnotizen bekennt: Sie war damals schon einverstanden damit, dass Abdelwaheb geht, nur für den Film hat sie noch einmal die Unnachgiebige gespielt.

Wenn er nicht mit auf dem Feld ist, lässt El Maanouni die Leute einfach reden. Freundlich lachend und Tee schlürfend, sitzen die Männer in ihren Cafés, singen und loben Allah. Vielleicht haben sie alle erwachsene Söhne, die sich für die Familie krumm schuften, bevor sie selbst heiraten können und der ganze Kreislauf von vorne los geht? Gleichzeitig nimmt in Abdelwaheds Kopf der Fluchtgedanke immer stärkeren Raum ein, immer klarer kristallisiert sich für ihn seine Zukunft heraus, wenn er hier bleibt. Aus dem Off hört man ihn reden, während er überlegt, was er tun soll, andere fragt, die welche kennen, die in Europa gearbeitet haben, sich das Geld ausrechnet, das er verdienen wird. Mehr aus dem Off als von der Leinwand wird er für den Zuschauer mehr und mehr zu einer eigenen Person. Manchmal möchte man ihm etwas zurufen, ihn warnen, aber immer wünscht man ihm Glück. Am Ende zieht er wie angekündigt mit einem Kalb los, dass er für die Überfahrt nach Europa verkaufen will.

Er scheint einem so wenig gewappnet, für das was er plant. Und Arbeit gibt's eh nicht. Aber dann fällt einem wieder ein, dass der Film von 1978 ist. Vielleicht hatte er Glück? Ich wüsste gern, was aus ihm geworden ist.

Alyam, Alyam - Oh the Days! Regie: Ahmed El Maanouni. Marokko 1978, 87 Minuten (Vorführtermine)