Vom Nachttisch geräumt

Beseitigung und Vergewaltigung

Von Arno Widmann
02.07.2018. Kulturvergleich: Die Althistorikerin Mary Beard über das Bild, das wir uns von uns selbst machen und das wir uns von Gott machen.
Die 1955 geborene, in Cambridge lehrende Althistorikerin Mary Beard ist nicht nur die für die Antike zuständige Redakteurin beim Times Literary Supplement (TLS), sie hat dort auch einen Blog, veröffentlicht wundervolle Bücher und arbeitet fürs Fernsehen. Wie sie das alles schafft und dabei immer interessant, das wüsste jeder ihrer Leser nur zu gern. Ihr neuestes, noch nicht auf Deutsch vorliegendes Buch erschien zu der Fernsehserie "Civilisations". Diese von der BBC produzierte Serie wurde in die USA verkauft. Mary Beards Auftritte wurden weitgehend gekappt. Man wollte den amerikanischen Zuschauern den Anblick einer halbverrückten alten Dame mit grauen abstehenden Haaren ersparen. Außerdem wurden ihre Ausführungen zur Religionsgeschichte geändert, sodass das Christentum eine größere Rolle spielte.

Soweit die Nachrichten aus dem "Land der Freien". Zurück zum Buch: Es besteht aus zwei Teilen: 1. How do we look und 2. The Eye of Faith. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit dem Bild, dass der Mensch sich von sich, der zweite mit dem, dass er sich von Gott macht. Mary Beard geht es in diesem Buch nicht um Chronologie. Ihr geht es um einen Kulturvergleich. Sie tritt heraus aus der europäischen Kultur und beginnt die Untersuchung über die Selbstdarstellung des Menschen bei den großen Basalt-Köpfen der Olmeken. Sie entstanden etwa 1000 v.u.Z.. Sie stehen über zwei Meter hoch einfach so in der Landschaft. Es gibt keinen Körper zu ihnen.  Wir wissen nicht, welche Funktion sie hatten. Es gibt keine Texte, die sie uns erklären. Wir stehen nur vor ihnen, und sie sehen uns mit leeren Augen an. Die Pupillen fehlen heute. Sie waren wohl aus anderem Material in die Augenhöhlen eingesetzt gewesen. Wie fremd uns diese Schönheit ist! Wie sehr, zeigt uns Mary Beard, indem sie uns die kleine Statue eines olmekischen "Ringer" zeigt, der uns vorbehaltlos begeistert. Er wird wohl eine Fälschung sein, gemacht für unsere von der griechischen Kunst und ihrer Rezeption formierten Augen.

Olmekischer Kolossalkopf

Es ist ein kleines Buch, ich habe es in ein paar Stunden gelesen, aber es steckt voller Einsichten und Hinweise. Zum Beispiel, was sie anlässlich der ägyptischen Monumentalplastik bemerkt. Man habe völlig Recht, wenn man das als Propagandakunst ansehe, man müsse freilich sich klarmachen, dass das erste Ziel der Propaganda nicht die Masse, nicht die anderen, sondern der Propagierte selbst sei. Vor allem er müsse überzeugt werden von seiner Göttlichkeit, von seinem Genie. Denn er wisse, dass er sei wie alle anderen. Darum erstrecke sich die Propaganda bis in die Privatgemächer. Auch noch im Schlafzimmer will der König sich als König erkennen. Im Allerheiligsten des Tempels, in das außer dem Pharao kaum jemand Zutritt hatte, blickt ihn aus allen Winkeln sein vergöttlichtes Ebenbild an und erinnert ihn daran, wer er in Wirklichkeit ist. Das ist überall auf der Welt so. Auch heute.

Dass Gott Mensch wurde, ist die Botschaft des Christentums. Aber nicht nur seine. Die Frage, wie man das Göttliche darstellen kann, da man ja nur über weltliche Mittel verfügt, beschäftigt die Menschheit wohl von Anfang an. Es gab und gibt die Über-Gläubigen, die - zum Ärger der Theologen - ihre Anbetungsbereitschaft auf die Bilder ausdehnten und es gab die, die die Bilder aus Tempeln und Kirchen verjagten, weil sie das Göttliche an das Allzu-Menschliche verrieten. Beard führt uns in die 2014 fertiggestellte Sancaklar-Moschee in Istanbul (mehr in der Süddeutschen). Nur das Minarett ragt über den Erdboden hinaus. Die Moschee selbst ist in einen kleinen Hügel gebaut. Der Innenraum soll an die Höhle erinnern, in der der Prophet das erste Mal das Gotteswort offenbart bekam, aus dem der Koran wurde. Der einzige Schmuck dort ist eine schwarze Wand auf der in bester islamischer Kalligraphie steht: "Gedenke fleißig deines Herrn".

Wir differenzieren, auch daran erinnert uns Mary Beard, manchmal so sehr, dass wir nicht mehr sehen, was alles zusammen gehört. Das 19. Jahrhundert hat einen Abgrund errichtet zwischen Kunst und Pornografie. Erstere erhebe uns ins Geistige, letztere stachele unser sinnliches Verlangen an. Das geht an dem, was Kunst alles machen kann, völlig vorbei. Die treibende Kraft hinter der großen Revolution der griechischen Kunst war ihr Verlangen nach täuschender Ebenbildlichkeit. So gibt es die Geschichte von dem jungen Mann, der sich in eine Statue des Praxiteles verliebt, so sehr, dass er sie vergewaltigt. In einem Dialog des dritten nachchristlichen Jahrhunderts des sogenannten Pseudo-Lukian entdecken Besucher auf der Rückseite der Statue eine dunkle Stelle. Sie halten sie für einen Fehler im Marmor. Aber die Tempeldienerin belehrt sie und erklärt ihnen, dieses Mal trage die Göttin als Zeichen der ihr von dem jungen Mann angetanen Schmach. Die beiden Besucher diskutieren über diesen menschlichen Makel der Göttin. Sie wurde, erklärt der eine dem anderen, von hinten genommen, wie dies Männer mit Jünglingen machen.

Wenn probieren über studieren geht, dann ist die Vergewaltigung einer Statue der Beweis ihres künstlerischen Ranges. Wenigstens in den Augen dieser Spötter des späten Heidentums.

Mary Beard: Civilisations: How do we look/ The eye of the faith, Profile Books, London 2018, 240 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen, 12,99 Euro
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