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Kratzer und Schlieren

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
26.10.2021. Zu den Wiederentdeckungen in der Fotografie gehört der 1928 geborene Japaner Shigeru Onishi, der bereits in den fünfziger Jahren mit allen Möglichkeiten der analogen Fotografie experimentierte, die gerade wieder angesagt sind. Der Steidl Verlag gibt mit seinem Band "Shigeru Onishi: A Metamathematical Proposition" einen Einblick in Onishis Werk.
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Mit dem Wort "Revisionismus" verbinden die meisten, die in deutschen Debatten geschult sind, eine vom rechten Lager ausgehende Absicht, die offizielle Geschichtsschreibung in entscheidenden Punkten zu korrigieren. Nicht selten geht es um Fragen, die den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg betreffen, etwa die Frage nach der Rolle der Wehrmacht bei der Ermordung der osteuropäischen Juden oder der Kollektivschuld der Deutschen.

Revisionismus hat somit einen anrüchigen Beigeschmack, etwa so, wie ihn der einst durchaus respektable Begriff des Querdenkers inzwischen bekommen hat. Dabei ist der Kern des Revisionismus - die Revision -, etwas, das bei allen politischen Lagern und auf allen gesellschaftlich relevanten Feldern zu allen Zeiten stattfindet. Aktuell etwa ist es der von nominell linken Kreisen ins Feld geführte Postkolonialismus, der auf vielen Gebieten eine Neubewertung mit sich bringen soll, von der historischen Rolle eines Sklavenhalters wie Thomas Jefferson bis hin zur Einordnung des Holocaust als einem Genozid unter vielen.

Auch im Kunstbetrieb ist Revision angesagt. Kunst in Museen, die aus kolonialen Beutezügen stammt, soll restituiert werden. Kunst von Frauen, die traditionell marginalisiert wurden, wird ausgestellt und gewürdigt. Dasselbe gilt für People of Color und LGBTQIA.

© Shigeru Onishi, Steidl Verlag

Im Kunstbetrieb verbinden sich diese Bestrebungen mit dem auch in der Corona-Zeit ungestillten Hunger des Marktes nach der Erschließung neuer Namen und Areale. Black Lives Matter und der gegenwärtige Fokus auf Kunst diesseits und jenseits der Sahara gehen so eine lukrative Verbindung ein, von der alle Beteiligten profitieren - KünstlerInnen, KuratorInnen, KunsthändlerInnen, Auktionshäuser. Und natürlich geht es im Kunstbetrieb immer um eine Form von Profit: Geld, Posten, Deutungshoheit, mediale Aufmerksamkeit - alles eben, das sich im Sinne eines Geschäfts oder einer Karriere verwerten lässt.

Die totale Monetarisierung auf der einen sowie die totale Verbeamtung des Kunstbetriebs auf der anderen Seite haben im Zuge der Globalisierung zu einer wechselseitigen Dynamik geführt, in der KunsthändlerInnen und KuratorInnen unablässig auf inzwischen allen Kontinenten nach unbekanntem Material suchen wie Goldsucher in Amazonien oder Spezialisten von Nestlé auf der Suche nach ausbeutbaren Wasservorräten.

Namen, von denen noch niemand gehört hat, werden aus dem Hut der Vergangenheit gezogen; junge AbsolventInnen der angesagten internationalen Kunsthochschulen mit den angesagten Referenzen und den angesagten, in ihren Arbeiten verhandelten Narrativen schießen durch die Decke. Das ist auf der einen Seite willkürlich, teils absurd; auf der anderen Seite aber rücken dadurch manchmal Positionen in den Fokus, denen die Umstände zu ihrer Zeit nicht wohl gesonnen oder die schlicht unwillig waren, sich ein lukratives Etikett umhängen zu lassen.

Unter den zahlreichen Wiederentdeckungen, von denen die meisten wieder in der Versenkung verschwinden werden, nachdem eine illustre Schar kurzfristig aus ihnen Kapital schlagen konnte, befindet sich das Werk von Shigeru Onishi, der auch mir bis hierhin unbekannt war. 2017 sind seine Arbeiten auf der Paris Photo zum ersten Mal wieder in den Blickpunkt gerückt, 2019 waren sie im MoMA zu sehen. Nun gibt es eine Einzelausstellung im Foam in Amsterdam. Drei Top-Institutionen, denen es vor allem darum geht, Trends zu setzen beziehungsweise zu bestätigen. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie es am Markt derzeit beim Erwerb von Onishis raren Vintage-Prints abgeht.

Gleichzeitig ist bei Steidl das (wie so oft) schön gemachte Buch "Shigeru Onishi: A Metamathematical Proposition" erschienen. Von der Ästhetik der Abbildungen bis hin zum verwendeten Papier ähnelt es stark Thomasz Gudzowatys Positiven seiner Aufnahmen mit dem legendären Planfilm Polaroid Typ 55, die sonst als sogenannte Proofs für die Auswahl der Negative dienen, die 2016 ebenfalls bei Steidl erschienen sind - mit dem entscheidenden Unterschied, dass Onishi seine analogen Arbeiten im Japan der fünfziger Jahre quasi ins Nichts hinein setzte, in einem Umfeld, das noch unter den Folgen des Krieges litt und in der Fotografie ein expliziter Fotorealismus angesagt war, dessen Credo einer seiner führenden Vertreter - Ihei Kimura - auf den Punkt brachte: "the pure snapshot, absolutely unstaged".

Mitte der fünfziger Jahre formierte sich um Nobuya Abe und Shuzo Takiguchi dagegen eine Bewegung, die sich "Japan Subjective Photography League" nannte, die vom europäischen Surrealismus ebenso beeinflusst war wie von japanischer Mythologie.

© Shigeru Onishi, Steidl Verlag

Weder zur einen noch zur anderen Bewegung gehörend, arbeitete der 1928 geborene Onishi an seinem eigenwilligen Werk und experimentierte - von Farbe abgesehen - mit so gut wie allen Möglichkeiten analoger Fotografie: Über-, Unter- und Mehrfachbelichtungen; Montagen; mit Essigsäure herbeigeführtes Bleichen und Verfärben des Negativs; Kratzer und Schlieren; vorangehendes oder nachträgliches Bearbeiten des Druckpapiers mit Schwamm, Pinsel und Tinte.

Wenn man die Zeit und die Umstände bedenkt, sind die Arbeiten schlicht großartig. Zwar gab es (nicht zuletzt in Deutschland) eine fotografische Avantgarde, die sich zum Teil dieser experimentellen Vorgehensweise bediente. Im Gegensatz zu Onishi aber ist diese Fotografie meist dem Studio verhaftet, dem Setting des Künstlers in seinem Atelier und seiner Dunkelkammer. Bei Onishi kommt das wesentlich zur Fotografie gehörende Leben auf der Straße hinzu. Die Textur von Aufnahmen des nächtlichen Hokkaido - dunkle, verschwommene Silhouetten von Häuserreihen, Licht, das sich in Regenpfützen spiegelt, rissiger Asphalt - fließt atmosphärisch auch in Aktaufnahmen ein, die dadurch roher, direkter wirken als die europäischer Avantgardisten wie Man Ray oder Heinz Hajek-Halke, der ebenfalls gerade wiederentdeckt wird.

Interessant ist Onishis Wiederentdeckung auch, weil sie ein ästhetisches Spektrum abbildet, das auf Hochschulen und auf Fotofestivals beim Nachwuchs gerade hoch im Kurs steht. All die Techniken, die Onishi anwandte, kommen wie wild zum Einsatz (dazu noch Fotogramme, Cyanotypie, Plattenfotografie mit Collodium und so weiter). Fotobücher, die dieser Ästhetik huldigen, werden gerade von einem Festival zum anderen - Belfast, Athen, Singapur - durchgereicht.

"Mixed Media" ist angesagt und soll - siebzig Jahre nach Onishi - endlich die Grenzen des Fotografischen sprengen. Etwa die gerade gehypten Arbeiten von Ioanna Sakellaraki oder Cristiano Volk, die sich Themen wie Trauer oder Depression annähern. Handwerklich teils großartig gemacht, mit schönen Einzelbildern, die der Dimension des Schmerzes, des emotionalen Abgrunds ihrer Themen künstlerisch jedoch (noch) nicht gewachsen sind, was am Ende vielleicht auch damit zusammen hängt, dass beide einer Generation angehören, in der Achtsamkeit, Respekt und die Angst, allzu offensiv vorzugehen und sich wie auch immer angreifbar zu machen, nicht selten Priorität haben. (Eine der wenigen, narrativ wirklich zwingenden Arbeiten dieses Spektrums - Dimitra Dedes "Mayflies" - habe ich hier im Fotolot ausführlich besprochen.)

© Shigeru Onishi, Steidl Verlag

Obwohl Shigeru Onishi sich bereits 1957 ausschließlich der Malerei zuwandte und ein quantitativ nur spärliches fotografisches Werk hinterließ, ist das Buch bei Steidl Fotobuch-LiebhaberInnen, die zugleich an einer Parallel-Geschichte der Fotografie interessiert sind, dringend zu empfehlen.





Shigeru Onishi: A Metamathematical Propostion. 192 Seiten, 24 x 28,5 cm, Hard Cover. Steidl Verlag, Göttingen 2021, 58 Euro. ISBN: 3958297064 (Bestellen bei eichendorff21)


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Im Mai vorigen Jahres habe ich im Fotolot meine Gedanken zum Thema Künstler und Modell in einem Essay festgehalten, der viel positive Resonanz erhielt. Die Betriebsruhe der Corona-Zeit hat etwas möglich gemacht, das sonst für einen freischaffenden Künstler so gut wie unmöglich ist: sich eine Auszeit vom Tagesgeschäft zu nehmen und sich ohne Druck einer Sache zu widmen, die untergründig bereits seit einiger Zeit im künstlerische Handeln und Denken wuchert und auf ein Momentum wartet, das ihr ermöglicht, konkrete Gestalt anzunehmen.

Dieses Momentum war für mich der Tod von Michel Piccoli, in dessen Folge ich mich eingehend mit Jacques Rivettes Film "Die schöne Querulantin" beschäftigt habe, in der Piccoli den Maler Frenhofer spielt, der mit Hilfe seines von Emmanuelle Béart gespielten Modells sein persönliches Meisterwerk schafft, das er dann jedoch einmauert und vor den Augen der Öffentlichkeit verbirgt. Die Handlung und die dabei verhandelten Fragen zu Problemen der Kunst und des heiklen Verhältnisses von Künstler und Modell stellten für mich das Grundgerüst für das Buch dar, das nun bei Klostermann erschienen ist und denselben Titel trägt wie der Essay: "Die Maske abgenommen". Der Text spannt einen Bogen von der Antike zur gegenwärtigen Augenhöhe zwischen den Geschlechtern, von Virginia Woolf und Virginie Despentes zu Ludwig Wittgenstein und Gerhard Richter.

© Peter Truschner, Klostermann Verlag

In einzelnen Kapiteln werden dabei kulturgeschichtliche Aspekte wie: "Schönheit", "Mann/Frau", "Zeit und Raum"; geschlechterpolitische wie: "Nacktheit und Scham", "Die reine und die unreine Frau" sowie Aspekte des künstlerischen und praktischen Handelns wie: "Das Atelier", "Das Bild", "Fotos schießen - Der Aberglaube vom entscheidenden Moment" abgehandelt. Besonders freut mich, dass sieben Fotos aus meinem neuen Fotobuch "She stood there a Loaded Gun" darin enthalten sind, die eine Art visuelles Gegenüber des Textes darstellen.

Sollten der eine oder die andere LeserIn sich dazu entschließen, das Buch zu lesen, freue ich mich natürlich über ein Feedback.





Peter Truschner: Die Maske abgenommen. Künstler und Modell im 21. Jahrhundert. 154 Seiten, Soft Cover. Klostermann Verlag , Frankfurt am Main 2021, 19,80 Euro. ISBN 978-3-465-04570-0 (Bestellen bei eichendorff21)


Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de