Vom Nachttisch geräumt

Von Quallen und Seepocken

Von Arno Widmann
16.07.2019. Warum die Gemeine Seepocke einen Monsterpenis hat: Tom Hird erzählt 291 Geschichten vom Meer.
Es sind, so der Untertitel des Buches, "291 unglaubliche Geschichten vom Meer". Wir werden nicht nur aufgeklärt über die unterschiedlichen Filtersysteme der verschiedenen Meeresbewohner, sondern auch über Meeresströmungen, Riff-Bildungen, Fangtechniken für die Gemeine Goldmakrele und wir erfahren so ganz nebenbei auch etwas über einen Südwassersee: "Der Wostoksee liegt 4000 Meter unter dem Eis und Schnee der Antarktis; er ist 250 Kilometer lang und 50 Kilometer breit. Er wurde vor rund 25 Millionen Jahren durch das vordringende Eis vom Rest der Welt abgeschnitten und ist es seitdem geblieben. Es wird vermutet, dass das Wasser des Wostoksees ständig gefriert und durch die Bewegung der Gletscher davongetragen wird und durch neues Schmelzwasser ergänzt wird. Schätzungen zufolge erneuert sich das gesamte Wasservolumen alle 13 000 Jahre.

Echte Quallen (Scyphozoa) existieren seit 550 Millionen Jahren. Sie ernähren sich von Plankton, kleinen Fischen und kleinen Quallen. Wie oft sie die Weltgegend haben wechseln müssen, um immer unter denselben Umweltbedingungen leben zu können! Es soll 130 Arten von ihnen geben. Meeresschildkröten gibt es erst seit 110 Millionen Jahren. Zu ihren Lieblingsspeisen gehören die zu 90 Prozent aus Wasser bestehenden Quallen. Es gibt eine Seepockenart, die nur auf Meeresschildkröten wächst. Andere bevorzugen Miesmuscheln oder Buckelwale. Seepocken sind Krebstiere, "die in ihrem Haus liegen und mit ihren haarigen Beinchen Nahrungsreste aus dem Wasser herausfiltern".

Nun noch ein längeres Zitat für die Machos unter uns und noch mehr für die, die sich über sie lustig machen: die Gemeine Seepocke (Semibalanus balanoides) ist "höchstens 1,5 Zentimeter groß, hat aber einen Monsterpenis von sieben Zentimeter Länge. Solch ein extravagantes Gehänge ist eine Lösung des Problems, das entsteht, wenn man sein Leben lang irgendwo festklebt und sich nicht nach einem Partner umschauen kann. Diese besondere Spezies ist ein Hermaphrodit (sie hat sowohl männliche als auch weibliche Fortpflanzungsorgane), also verwendet jede Seepocke ihren Super-Penis, um alle anderen Individuen zu befruchten, bis sie selbst an die Reihe kommt, um befruchtet zu werden."

Tom Hird berichtet nicht nur solche Frivolitäten, die amüsieren, weil sie, wie die Natur das immer tut, wenn man ihr genauer zuschaut, die Vorstellung von dem, was uns als "natürlich" gepredigt wurde, gehörig durcheinander bringen. Die Ozeane sind ein bedrohtes Habitat. Erst seit kurzem. Bis in die 60er Jahre hinein hat der Mensch nur an ihrer Oberfläche ein wenig gekratzt. Inzwischen sind wir dabei, sie leer zu fischen und im Plastikmüll zu ersticken. Die derzeitige Durchschnittserwärmung der Meere liegt bei 0,5 Prozent. Das schließt gefährlich starke regionale Temperaturerhöhungen ein. Manche Tropenfische wandern schon ab in kühlere Regionen.

Der Verlag dieses sehr schönen Buches gehört zum Red Bull Media House des österreichischen Milliardärs Dietrich Mateschitz, den der Ex-FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian Strache als einen der verdeckten Finanziers seiner Partei nannte. Mateschitz erklärt, das habe er nicht getan.

Tom Hird: Ozeanopädie - 291 unglaubliche Geschichten vom Meer. Aus dem Englischen von Nadine Lipp. Terra Mater Books, Salzburg - München 2018, 350 Seiten, 24 Euro.