Im Kino

Eigenschaften des Leibes

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
05.01.2017. Überschüssige Energie muss in Park Chan-wooks Erzählexperiment "The Handmaiden" immer gleich wieder gebunden werden. Solche Sorgen kennt Dario Argento nicht, dessen barocker Giallo "Opera" diese Woche eine Wiederaufführung erlebt.


"Eigentlich sollte ich an Deiner Stelle sein", meint die weinende Schwester, als Sook-hee (Kim tae-ri) sich in der ersten Szene des Films von den Ihren verabschiedet. Soll heißen: es hätte auch jede Andere treffen können. Gleich am Anfang von "Die Taschendiebin" schlägt, wie so oft in den Filmen Park Chan-wooks, die reine Kontingenz zu - und paradoxerweise setzt sich im selben Moment eine Erzählmaschine in Gang, die darauf ausgerichtet ist, alle Momente des Zufälligen, Alltäglichen zugunsten einer autorenfilmerischen Vision zu neutralisieren.

Der Film beginnt mit einer Einsperrung, die zugleich eine Aussperrung ist. Eingesperrt wird Soo-kee, eine junge Frau, Tochter einer bitterarmen koreanischen Familie, die von der reichen Japanerin Hideko (Kim Min-hee), deren wenig vertrauenserweckenden Onkel (Jo Jin-woong) und einem mysteriösen Grafen Fujiwara (Ha Jung-woo) angestellt wird. Offiziell als Dienstmädchen, wobei recht schnell klar wird, dass ihre Herrschaften noch anderes mit ihr im Schilde führen; Leibeigenschaft trifft es besser. In gewisser Weise macht "Die Taschendiebin" nichts anderes, als diesen Begriff auszudeuten: Was sind die Dimensionen und Eigenschaften des Leibes, wem gehört er? Aber auch: Wie gelingt es ihm, sich von seinen Besitzern zu emanzipieren, was kann er von sich aus leisten? Ausgesperrt werden die historischen und sozialen Kontexte, aus denen Sookee herausgerissen wird: Das von japanischen Truppen besetzte Korea der 1930er Jahre, die zugehörige vormoderne Gesellschaft, in der an kaum etwas anderes zu denken ist als ans nackte Überleben.

Ein Übergang von einer Ordnung in eine andere. Tatsächlich löst sich in dem Moment, in dem Soo-kee die im opulenten europäischen Geisterhausstil eingerichtete Eingangshalle ihrer neuen Arbeitsstätte betritt, die Kamera von der Figurenbewegung und erkundet autonom, frei schwebend, den Raum. Der sich dadurch in einen reinen Kino-Ort verwandelt, in dem Blicke und Begehren mit kinematografischen Mitteln mobilisiert werden. Allerdings nicht wirklich, wie zum Beispiel in einem De-Palma- oder (siehe unten) Argento-Film: entfesselt. Denn anders als seine Vorgänger im Geiste, denen er in allen seinen Filmen, und in "Die Taschendiebin" besonders vehement, offen Referenz erweist, lässt Park seine Obsessionen nie von der Leine.



Stattdessen setzt der Film, sobald sich die Türen des herrschaftlichen Anwesens Hidekos hinter Soo-kee verschließen, einen elaborierten, ornamentalen Drehbuchmechanismus in Gang, dem das naive, zunächst oft einfach nur mit weit aufgerissenem Mund staunend dastehende Bauernmädchen nur zu Beginn hilflos ausgeliefert scheint. Aber auch, wenn nach einigen Drehungen und Wendungen klar wird, dass sie nicht das naive Opferlamm ist, für das ihre Umgebung sie hält, bleibt klar: Egal, was die Figuren tun oder lassen, am längeren Hebel sitzt immer Regisseur Park. Bei aller barocker Oberflächenopulenz ist sein Kino im Kern ein strikt protestantisch durchgeplantes: Überschüssige Energie muss stets gleich wieder gebunden werden. In diesem Fall durch den narrativen, Rashomon-artigen Kunstgriff, einzelne Szenen gleich mehrmals, aus jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln, auszudeuten, das Sichtbare immer wieder neu, oft und insbesondere während der Sexszenen auf durchaus virtuose Art, vom Unsichtbaren zu scheiden. Ach so, das also bedeutet dieser vielsagende Blick. (Ist ein Blick noch vielsagend, wenn er filmisch komplett ausbuchstabiert wird?)

In allen Filmen Parks gibt es eine nie ganz auflösbare Spannung zwischen dem psychologischen Interesse, dem einfühlsamen Blick auf die sinnlichen und emotionalen Extremzustände seiner Figuren auf der einen und den elaboriert ausgearbeiteten, mechanistischen Plots auf der anderen Seite. In diesem Fall ist das eine Spannung zwischen dem Anliegen, die gleichzeitig affektive und kognitive Überforderung einer jungen Frau nachzuvollziehen, die eine neue Welt betritt, in der sie nicht nur mit einem, sondern mit gleich drei unheimlichen Verlangen konfrontiert wird; und dem Imperativ einer Drehbuchlogik, die von Anfang an darauf ausgerichtet ist, Nichtverstehen rückstandslos in Verstehen umzuwandeln.

Wenn "Die Taschendiebin" bei aller Ambivalenz dennoch einer der besseren Filme Parks geworden ist, dann vielleicht deshalb, weil es diesmal primär nicht, wie in seinen meisten älteren Filmen - insbesondere in der "Rache-Trilogie", der er seinen Ruhm verdankt - um Gewalt geht, sondern um Sex. Ein Schlag ist ein Schlag und kann immer nur mit einem Gegenschlag beantwortet werden. Begehren dagegen ist flexibel, auch filmisch, es erlaubt die Konstruktion komplexerer Mechanismen. Soo-kees langsame Annäherung an Hideko, die erst schüchternen, dann neugieriger werdenden Berührungen, die sehnsüchtig hin und her geworfenen Blicke, die Eifersüchteleien, sobald potentielle alternative Liebesobjekte auftauchen: All das trägt eine flirrende Weichheit in den Film ein, die ihm gut steht. Selbstverständlich kann Park auch in dieser Hinsicht nichts in der Schwebe belassen: Alles, auch und gerade der Sex, muss eine Bedeutung haben. Beziehungsweise: eine Serie von Bedeutungen. Immerhin stellt er klar, dass die finale, letztgültige Bedeutung in dieser Kette nicht von den dirty old men dieser Welt festgelegt werden darf, die im Keller Pornosammlungen anlegen und sich am Leid junger Mädchen vom Lande aufgeilen.

The Handmaiden - Die Taschendiebin - Südkorea 2016 - Originaltitel: Ah-ga-ssi - Regie: Park Chan-wook - Darsteller: Kim Min-hee, Kim Tae-ri, Ha Jung-woo, Jo Jin-woong, Kim Hae-suk - Laufzeit: 144 Minuten.

Lukas Foerster

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Die erste Einstellung in "Opera" zeigt das Auge eines Raben. Sie bereitet uns darauf vor, dass dieses im Kino meist Unheil verheißendes Tier in Dario Argentos barockem Giallo eine entscheidende Rolle spielen wird. Immer wieder lässt der italienische Regisseur die Vögel als Statisten einer modernen Krawall-Inszenierung von Verdis Oper "Macbeth" auftreten, dabei einen Hauch von Gothic Horror versprühen und am Ende sogar jenen Mörder entlarven, der rund um die Mailänder Scala sein Unwesen treibt. Noch wichtiger ist dieses erste Bild jedoch, weil es ein Motiv einführt, das sich durch den gesamten Film ziehen wird. Denn "Opera" handelt vom Sehen, genauer gesagt von einem ständigen Machtkampf um die Herrschaft des Blickes, bei dem die Protagonistin dazu verdammt ist, den Kürzeren zu ziehen.

Ähnlich wie in seinem vermutlich bekanntesten Film "Suspiria" beschwört Argento auch in der Spätphase seiner Glanzzeit das Grauen in einem Tempel der abendländischen Hochkultur herauf. Was damals die Ballettschule war, ist nun eine Oper, in der eine von Leistungsdruck und Konkurrenzdenken vergiftete Atmosphäre herrscht. Der Film erzählt von der jungen Sängerin Betty (Cristina Marsillach), die auf der Bühne triumphieren darf, weil sich ihre Vorgängerin den Fuß gebrochen hat. Doch wie ein Glücksfall fühlt sich diese Fügung des Schicksals nicht an. In einem bedrückenden Klima aus Aberglaube, unverarbeiteten Kindheitstraumata und sexuellen Neurosen begleiten wir Betty dabei, wie sie durch ihre notorische Unsicherheit zum dankbaren Opfer eines geheimnisvollen Perversen wird. Statt sie zu töten, macht er sie zur Zeugin seiner bestialischen Morde und dezimiert dabei nach und nach ihr näheres soziales Umfeld.

Während dieses hochspannenden Katz-und-Maus-Spiels ist "Opera" immersiver als es ein 3D-Film je sein könnte. Von Anfang an ist die Kamera von Ronnie Taylor völlig entfesselt. Sie schwebt durch den Zuschauersaal, durch schummrige Korridore, Treppenhäuser und Lüftungsschächte, umkreist die Figuren wie ein Raubtier seine Beute, stellt sich auch mal auf den Kopf oder stürzt sich in die Tiefe. Wenn sich Argento von seinen Figuren entfernt, verliert er sich nicht in der Schönheit der Bewegung, sondern entdeckt seine Attraktionen einfach anderswo, etwa in einem aufgeplatzten Kissen, dessen Daunenfedern langsam vom Wind davon getragen werden oder im pulsierenden Equalizer einer Stereoanlage, auf der die Gassenhauer der italienischen Oper ertönen. Dabei prescht die Kamera vehement nach vorne und macht auch nicht vor den Geschöpfen halt. So wie Messer und Scheren mit betonter Ausführlichkeit den menschlichen Körper entstellen, penetriert auch Argento alles, was ihm vor die Linse kommt. Wie eine Pistolenkugel, die sich in einer Großaufnahme, durch den Spion einer Wohnungstür schiebt, dringt er in seine Opfer ein und eignet sich dabei mitunter sogar ihren Blick an.



Immer wieder verfolgen wir das Geschehen mit anderen Augen - sehen die Subjektive des Raben, einer gekränkten Operndiva, des Mörders oder auch der Protagonistin. In einer bezeichnenden Szene verschwimmt Bettys Umfeld wegen frisch aufgetragener Augentropfen in der Unschärfe. Sehen ist Macht in "Opera". Und wer nicht sieht oder zumindest nicht erkennt, hat oft nicht mehr lange zu leben. Die meiste Zeit hat die Heldin zwar keinen Durchblick, aber nicht weil sie dumm wäre, sondern weil sie andere über sich verfügen lässt: einen Regisseur etwa, der eigentlich Horrorfilme inszeniert und wie eine Selbstparodie Argentos wirkt oder die Zuschauer in der Oper, die sie auf der Bühne anglotzen. Oder eben der Mörder, der genau bestimmt, was Betty sehen soll. Während sie ein weiteres Mal von ihrem Peiniger heimgesucht wird, steckt er sie wie ein ausgestopftes Tier in einen Schaukasten und bindet ihr mit Tesafilm Nadeln unter die Augen, damit sie diese während des grausamen Schauspiels nicht schließen kann. In diesem Bild verdichtet Argento Bettys Dilemma: Selbst wenn es um ihren eigenen Blick geht, bleibt sie dazu verdammt, Objekt zu sein.

Einmal unterbricht Betty einen Liebesakt mit den Worten: "Es tut mir Leid. Ich bin eine Katastrophe im Bett". Tatsächlich wirkt Betty, als wäre sie mit sich selbst nicht im Reinen. Sie stellt sich zwar beruflichen Herausforderungen und wird ständig angeflirtet, scheint sich aber eigentlich nach einem Leben zu sehnen, in dem es das alles nicht gibt. Obwohl sich der Film nicht unnötig mit den Feinheiten klassischer Figurenzeichnung aufhält, gelingt es ihm, seiner Heldin Tiefe zu verleihen. Statt Bettys dunkles Seelenleben zu erklären, schafft er aufwändige und atemberaubend stylische Setpieces, in denen sich ihre Gefühle wie auf einer Bühne entfalten können. Wie in einem bösen Traum, in dem alles, was einen umgibt, einschüchternd groß und labyrinthisch wirkt. "Opera" macht sich einen Spaß daraus, Aufmerksamkeit zu zerstreuen und lässt uns gerade dadurch die Desorientierung der verängstigten jungen Frau nachvollziehen. Dabei bleibt sie zwar nicht immer das physische, wohl aber das emotionale Zentrum des Films.

Wenn wir uns während einer sonderbaren Schlussszene schließlich in einer märchenhaften Alpenkulisse wiederfinden - die direkt aus dem Musical "The Sound of Music" zu stammen scheint - gönnt Argento auch seiner Heldin noch eine Katharsis. Sie wälzt sich im Gras, preist die Schönheit der Natur, als hätte sie sie zuvor noch nie gesehen, feiert gemeinsam mit einer Echse ihre neugewonnene Freiheit. Da sage noch einmal wer, dass das Horrorkino frauenfeindlich sei. Schon nachdem ihre Liebhaber das Zeitliche gesegnet haben, hat sich Betty nicht unnötig lange mit der Trauerarbeit aufgehalten. Hier findet sie nun ihr Glück, das so ungewöhnlich und verstörend wirkt, weil sie sich plötzlich nicht nur von allen Zwängen befreit hat, sondern sich auch ganz und gar selbst genügt.

Michael Kienzl

Opera - Italien 1987 - Regie: Dario Argento - Darsteller: Christina Marsillach, Ian Charleson, Urbano Berberini, Daria Nicolodi, Coralina Cataldi-Tassoni, Antonella Vitale - Laufzeit: 107 Minuten.