Im Kino

Wette gegen die Beständigkeit

Die Filmkolumne. Von Robert Wagner
30.08.2023. "Passages", der neue Film von Ira Sachs, weiß, dass es nicht immer einfach ist, von Punkt A zu Punkt B zu gelangen. Im Zentrum steht ein von Franz Rogowski eindrücklich verkörperter Egomane, der freilich nicht die interessantes Figur des Films ist.


Wie schwer es denn sein könne, blafft Regisseur Tomas (Franz Rogowski) einen Schauspieler vor versammeltem Team an, eine Treppe runter- und zur Bar zu gehen, einfach nur den Übergang von Punkt A zu Punkt B zu bewältigen. Neben der Launenhaftigkeit seiner Hauptfigur führt Regisseur und Drehbuchautor Ira Sachs (letzteres wieder gemeinsam mit Mauricio Zacharias) umgehend die Frage ein, die "Passages" bestimmen wird: Eben die, wie schwer es sein kann, in einer Beziehung von Punkt A zu Punkt B zu kommen. Punkt A ist die Beziehung von Tomas und Martin (Ben Whishaw). Durch eine Affäre des Protagonisten mit Agathe (Adèle Exarchopoulos) geht diese in die Brüche. Punkt B könnte eine vollzogene Trennung und eine neue Beziehung sein. Über weite Strecken sieht es so aus, als ob dies der Gang der Dinge sein wird. Aber ganz so einfach ist der Übergang nicht. Weil Gefühle und Gewohnheiten nicht mit einem Mal verschwinden. Weil Tomas' potenzielle neue Schwiegermutter sogar noch weniger Feingefühl und Umsicht hat als er. Weil Tomas den Schwanz vermisst, den Agathe ihm nicht bieten kann. Weil Agathe schwanger wird und das vielleicht doch zu viel Verantwortung ist.

Ganz vorsichtig und knapp werden die beiden Entwicklungen verfolgt, lediglich prägnante Schlaglichter gezeigt. Und auch wenn wir fast nur Dinge erleben, bei denen Tomas zugegen ist, bekommen Martin und Agathe trotzdem sehr viel Raum. Umsichtig und zärtlich könnte das Vorgehen genannt werden - wobei Sachs sich dem Drama vielleicht auch einen Tick zu blutarm und distanziert nähert. Sprich: Aus der Inszenierung spricht ein Temperament, das in krassem Gegensatz zu dem der Hauptfigur steht. Tomas achtet nämlich nur auf sich. Er trampelt durch die Leben seiner Mitmenschen, die bei ihm für Leidenschaft und Geborgenheit zu sorgen haben und ansonsten ganz schnell erleben können, wie er explodiert, flüchtet oder rücksichtslos Tatsachen schafft. Wenn er etwas möchte, dann geht er nicht mit Finesse vor, sondern fordert penetrant. Höchstens beim Sex oder beim Tanz kommen Film und Protagonist zusammen. Das ist etwas, das Beziehungen ausmacht und wird deshalb ausgiebig gezeigt. Körperlichkeit bildet für beide das Fundament, ohne das der Rest nicht denkbar ist.

Mit all seinen Leerstellen lässt "Passages" im Unklaren, wie bewusst Tomas agiert, wenn er beispielsweise lautstark mit jemandem schläft, während im Nebenzimmer sein derzeitiger Partner zuhört. Im Endeffekt ist es egal, ob er die folgende Trennung dadurch bewusst provozierte oder einfach gar nicht mehr an die Person nebenan dachte. So oder so steht ein verantwortungsloser Egomane im Zentrum. Von Beginn weg - am Set der erwähnten fiktiven Dreharbeiten - wird es offensichtlich. Und doch fühlt sich das Ergebnis weder brutal noch bitter an.



Einerseits liegt das am mal wieder großartig spielenden Franz Rogowski, der Tomas nicht als offenen Unsympathen spielt. Stattdessen gibt er ihm etwas Kindliches mit. Seine Figur möchte es besser machen, weiß aber noch nicht wie. Andererseits, weil die Gefühle sich nur bedingt aus seiner Perspektive ergeben, sondern auch aus der von Martin und Agathe, und weil sie so komplex bleiben, dass der Film nicht in eine simple Opfer-Täter-Struktur verfällt. Weder sind die beiden nämlich die Opfer von Tomas, noch die einer Amour fou und ihrer übermächtigen Gefühle. Manchmal wirkt es geradezu, als würde sie ihre Chancen kalkulieren und auf oder gegen die Beständigkeit Tomas' wetten. Offenen Auges wagen sie sich vor. Gerade in den Trennungen des Films sind sie die Souveränen.

Für die Grundschullehrerin Agathe, die in ihrem Alltag Kindern beizubringen versucht, sich auszudrücken, trifft das am eindrücklichsten zu. Ein ums andere Mal wird sie sprachlos gezeigt, wenn der große Regisseur in ihr Leben platzt, wenn er überstürzt bei ihr einzieht. Nie kommt das Gefühl auf, dass sie sich Hals über Kopf in diese Beziehung stürzt. Ihr scheint immer klar, dass sie sich in Acht nehmen muss. Da sie wagt und nicht blind in ihr Verderben rennt, ist ihre Enttäuschung umso bitterer. Auch weil sie nicht nur mit Tomas zu kämpfen hat, sondern daneben mit ihrer kaum weniger niederschmetternden Mutter. Weil sie kämpft, ist es zuweilen mehr ihr Film - in ihren Niederlagen, in ihren Erfolgen - als der von Tomas. Dass mit Tomas die uninteressanteste der drei Figuren im Mittelpunkt steht, ist eine eher bedauerliche Entscheidung des Regisseurs.

Zum Abschluss wird der Freejazzklassiker "Spirits Rejoice" von Albert Ayler zu hören sein. Ein kindliches, marschartiges Lied voller Freude. Durch Aylers kratzigen, unsauberen Saxophonsound steckt die Interpretation aber auch voller Schmerz. Das ist perfekt gesetzt, gerade weil zu diesem Zeitpunkt nicht ganz klar ist, ob wir weinen oder uns freuen sollen. Außerdem ist es der Song des ganzen Films, weil noch die euphorischste Leidenschaft und Liebe schmerzhaft bleibt, weil noch in den dunkelsten Momenten ein wenig Hoffnung herrscht und Licht leuchtet. Der Titel zeigt deshalb vielleicht gar nicht so sehr an, dass sich Menschen auf dem Weg zwischen zwei Punkten befinden, sondern dass wir uns emotional immer in Zwischenbereichen bewegen.

Robert Wagner

Passages - Frankreich, Deutschland 2023 - Regie: Ira Sachs - Darsteller: Franz Rogowski, Ben Whishaw, Adèle Exarchopoulos, Erwan Kepoa Falé, Arcadi Radeff - Laufzeit: 91 Minuten.