9punkt - Die Debattenrundschau

Die kleinen Vorfälle

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.06.2019. Peter Sloterdijk meint, man solle es mit Warnungen vor Antisemitismus nicht übertreiben, sonst drohe eine "selbsterfüllende Prophezeiung". Die Jüdische Allgemeine staunt. Time geht in einer Reportage dem Antisemitismus in Europa nach. Neunetz fragt, was es mit "Libra", der Kryptowährung von Facebook auf sich hat. In der SZ möchte der Soziologe Jan-Hendrik Passoth die Infrastruktur fürs Internet nicht mehr den Amerikanern überlasse. Der neue Kommissionspräsident der EU soll eine Frau sein, fordern Autorinnen in der FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.06.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Man solle es mit den Warnungen vor Antisemitismus nicht so übertreiben, hat Peter Sloterdijk bei einem Kongress gesagt. Michael Wuliger notiert diese Äußerung in der Jüdischen Allgemeinen mit Staunen und Skepsis: "Zumal wenn diese Ratschläge gleich noch mit handfesten Warnungen einhergehen. Sloterdijk mahnte auf Schloss Seggau nämlich auch 'Zurückhaltung' an. Wenn behauptet werde, 30 Prozent der Deutschen seien judenfeindlich, habe dies den Charakter einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Ich übersetze das so: Wenn die Juden ständig von Antisemitismus reden, dann wecken sie ihn erst, sind also selbst schuld."

Vivienne Walt ist für Time durch viele europäische Länder gereist, um Klagen über wachsenden Antisemitismus nachzugehen: "Viele Juden in Europa sagen, dass es nicht die großen, sondern die kleinen Vorfälle sind, die beweisen, wie weit verbreitet dieses Problem ist. Der Antisemitsmus ist nach ihrer Beschreibung ins alltägliche Leben eingedrungen, das mache es komplizierter, das Problem anzugehen. 'Wenn es nicht gerade sehr ernst und man körperlich attackiert wird, gibt es eine Tendenz, nicht zur Polizei zu gehen', sagt Fredrik Sieradzki, Sprecher der jüdischen Gemeinde in Malmö."
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Ideen

In der NZZ hat der Kulturtheoretiker Jan Söffner ein Problem mit der KI: fehlende Verantwortung, wenn etwas schief geht. Ohne Verantwortung gibt es aber auch keine Ethik mehr. Ein "selbstlernendes Programm würde in etwa so funktionieren wie eine ihre Gesetze bis in den kleinsten Absatz eines Paragrafen selbstgenerierende Verfassungspräambel - ohne legislative Kontrolle durch ein Parlament und ohne menschlichen Richter. Sie käme niemals in die Situation, für die Konsequenzen des eigenen Tuns geradestehen zu müssen, würde in den Konsequenzen ihrer Entscheidungen niemals auf sich selbst zurückgeworfen werden. Künstliche Intelligenz braucht Regeln, kann aber nichts verantworten, sie gehorcht Prinzipien und Maximen, muss aber für keinerlei Folgen einstehen: In dieser extremen Form hätte sich [Max] Weber eine Gesinnungsethik zu seiner Zeit noch kaum denken können."
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Geschichte

Welt-Autor Thomas Schmid geht in einem lesenswerten Essay in seinem Blog nochmal dem "Rätsel der Münchner Räterepublik 1918/19" nach - es hat mit Preußen zu tun: "Es ist der Erste Weltkrieg, der (...) München in einen rasanten Veränderungsstrudel reißt. Viele junge Bayern waren 1914 wenig begeistert ins Feld gezogen, der Krieg gilt als eine preußische Angelegenheit. Nicht zu Unrecht argwöhnen manche, Berlin werde das Kriegsregiment nutzen, um Bayern noch mehr von seiner Selbstständigkeit zu rauben. Früh sehnen sich breite Bevölkerungskreise nur noch nach Frieden. Die militärischen Erfolgsmeldungen beeindrucken viele Bayern von Anfang an kaum." Diese Stimmung, so Schmid, bildet den Grundstoff füür die Revolutionsbereitschaft in einer Stadt mit wenig Proletariat.
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Europa

Die EU sucht derzeit nach einem neuen Kommissionspräsidenten. Der sollte eine Frau sein, fordern Jagoda Marinic und die dänische Schriftstellerin Janne Teller in der FR. Und das ist nicht alles: "Ein Weg, um Jahrhunderte der Ungleichheit wiedergutzumachen: Man wählt jetzt nicht nur eine Frau, sondern mindestens zwei, vorzugsweise jedoch drei (oder warum nicht auch vier oder fünf) Frauen in die höchsten Ämter, die derzeit in der EU zu vergeben sind. Frauen mit herausragenden Karrieren stehen zur Wahl. Wir fordern die 28 Entscheider dazu auf, diese Kandidatinnen wahrzunehmen. Es gibt keinen Grund, alten Gewohnheiten nachzuhängen und Männer den Frauen gegenüber zu bevorzugen. Im Gegenteil, es ist Zeit, zum ersten Mal in der Geschichte Europas, Frauen den Vortritt zu lassen. Nicht statt ihrer Qualifikation, nicht wegen ihres Geschlechts, sondern gerade weil sie herausragende Qualifikationen für die zu besetzenden Positionen mitbringen." Der Aufruf wurde von zahlreichen europäischen Autorinnen, darunter Sofi Oksanen, Eva Menasse und Slavenka Drakulic, mitunterzeichnet.
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Internet

Facebook hat bekanntgegeben, eine Kryptowährung namens Libra zu schaffen, um seine Milliarden Nutzer noch mehr zu vernetzen. Zu dem Konsortium gehören neben Finanzinstituten Unternehmen wie Spotify, denen es vor allem darum geht, Finanztransaktionen zu verbilligen, schreibt Marcel Weiß in einer Presseschau zum Thema in seinem Neunetz: "Sie Gründe können höchst banal sein: Spotify arbeitet in einem margenarmen Bereich. Die Transaktionsgebühren von Kreditkarten sind signifikant, besonders prozentual gesehen bei circa 10 Euro pro Monat pro Nutzer. Diese Transaktionsgebühren werden mit Libra massiv fallen. Der Hauptgrund, warum Endnutzer-gerichtete Abonnements wie jenes von Spotify auslaufen, sind abgelaufene Kreditkarten. Ein intensiv, täglich genutztes Libra wird für Spotify auch dieses Problem lösen." Auch ddie taz bringt ein Erklärstück zu diesem Schachzug von Facebook.

In der SZ möchte der Soziologe Jan-Hendrik Passoth die Infrastruktur fürs Internet nicht mehr den Amerikanern überlassen und plädiert für den Aufbau alternativer, offener digitaler Infrastrukturangebote in Europa, wie sie auch der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm vorschlage: "Die deutsch-französische Agenda zur Umsetzung des Vertrags von Aachen ist dafür eine Chance. An einer 'digitalen Plattform' könnten sich öffentlich-rechtliche und private Rundfunkanbieter, Verlage, Institutionen aus Wissenschaft und Kultur sowie zivilgesellschaftliche Akteure beteiligen. Dabei wird es auch um die Frage gehen, wie Cloud-Angebote, Suchtechnologien und Filter- und Personalisierungssysteme gestaltet sein sollen, um europäischen Werten zu folgen und Nutzern maximale Kontrolle über ihre Daten zu geben. Die so entstehenden Infrastrukturen können von vornherein für andere Sektoren nutzbar sein, wenn sie vor allem auf offene Technologien und Standards setzen. So kann schrittweise ein europäisches digitales Gesamtökosystem entstehen."
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Medien

Seit dem Aufstieg der AfD haben sich die deutschen Medien meinungsmäßig zu einer rot-grünen Wagenburg zusammengeschlossen, klagt in der NZZ der Publizist und Politologe Wolfgang Bok: "Während Interviews mit liberalen oder konservativen Politikern inquisitorischen Verhören gleichen, muss das grüne Spitzenpersonal kaum fürchten, dass sein moralischer Rigorismus mit praktischen Einwänden bloßgestellt wird. Schließlich entstammt man oft genug demselben postmaterialistischen, städtischen Milieu und teilt die grünen Ängste. Sorgen der Rechten, etwa wegen 'ungesteuerter Zuwanderung' oder 'Ausländerkriminalität', werden hingegen als böse Phobien abgetan. Eine Redaktorin des ZDF-Hauptstadtstudios erklärt via Twitter kurzerhand alle zu Nazis, die 'nicht Grün wählen'. ... Der Preis dafür ist hoch: Die Bereitschaft zur inneren Pluralität geht verloren, die Glaubwürdigkeit sinkt."
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