Im Kino

Ein Kontinuum beschädigten Lebens

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
19.10.2018. Pedro Pinhos Krisenfilm "A fábrica de nada" ist zugleich von enigmatischer Poesie und defensiver Offenheit. William H. Macy wirft in "Krystal" einen gütigen, integrativen Blick auf zwei derangierte Südstaatenfamilien.


1909 dreht D.W. Griffith "A Corner in Wheat", vielleicht den ersten, sicherlich aber einen der filmgeschichtlich einflussreichsten Filme über eine ökonomische Krise. "A Corner in Wheat" erzählt von den Machinationen eines Spekulanten im Weizenmarkt und den daraus entstehenden weitreichenden Verwerfungen. Der ca. 15-minütige Film verbindet Szenen von Bauern bei der Feldarbeit, Händlern an der Börse, eine verzweifelte und wütende Menschenmenge vor einer Bäckerei; Akteur*innen, die eine Verbindung zum Weizen vereint. Im Film begegnen sie sich nie direkt, ein gemeinsamer Handlungsraum entsteht aus der Montage, die dem unsichtbaren Band einer kapitalistischen Ökonomie folgt und ihr einen Ausdruck verleiht. Ein Vermögen des Kinos: das Sichtbarmachen von Dingen und Ordnungen, die sich unmittelbarer Sichtbarkeit entziehen.

Von einer Krise erzählt auch Pedro Pinhos "A fábrica de nada". Nachts und heimlich werden die Maschinen aus einer Aufzugsfabrik in der Nähe von Lissabon getragen. Die Nachricht davon verbreitet sich unter den Arbeiter*innen telefonisch, einige eilen zur Fabrik, um sich ein Bild zu verschaffen und vielleicht das Schlimmste zu verhindern. Den Unheil kündenden Anruf bekommt einer der Arbeiter im zweiten Bild des Films beim Sex mit seiner Freundin. Was in der Fabrik geschieht, das macht der Film von Anfang an klar, tangiert intimste Lebensbereiche. Schnell wird deutlich, dass es sich bei dem Abtransport um einen von der Geschäftsführung organisierten Diebstahl handelt, der Standort soll geschlossen werden, die Produktion verlagert. Eine neu eingesetzte Personalmanagerin macht sich, hinter einer aufgesetzten Fassade freundlicher Verbindlichkeit und in der neoliberalen Sprache trügerischer Gemeinsamkeiten an die Abwicklung.



Den Arbeiter*innen (vorwiegend sind es Männer) wird, einzeln und individuell, eine Abfindung geboten, die einige annehmen, und andere nicht, was zu erbitterten Diskussionen führt. Als sich der verbliebene Teil der Belegschaft zu einer Besetzung entschließt, ist bald auch vom Management nichts mehr zu sehen. Ein bisschen verloren stehen die Männer dann in den Räumen der Geschäftsführung, die sie zur Rede stellen wollten, wo jedoch nur noch ein Securitymann über die Reste ausgeschlachteter Büros wacht. Man kehrt in die entleerte Fabrik zurück. Was tun?

Pinhos Krisengeschichte stellt die Arbeiter*innen - vorwiegend Laien die als Einsatz die Körper und Erfahrungen ihrer eigenen Arbeitsbiographien mitbringen - in den Mittelpunkt einer zugleich zentrumslosen Erzählung. Der Film wechselt hin und her zwischen zurückhaltend beobachtenden Szenen des beschädigten Alltags, der Leerstelle der stillstehenden Fabrik und interventionistischeren Set-Pieces. Es gibt Diskussionsrunden in der Fabrik und bei mit dem Arbeitskampf lose verbunden Intellektuellen Zirkeln, eine durchaus suspekte selbstreferentielle Figur eines Regisseurs, der sich in die Fabrik einschleust, mit nie ganz durchschaubaren Inszenierungsabsichten, kleine Studien der Oberflächenverwerfungen in der urbanen Landschaft einer Industriegesellschaft im Niedergang, und nicht zuletzt eine hinreißende Musicaleinlage, in der das nunmehr in Selbstverwaltung organisiertes Kollektiv das Lied der Fabrik des Nichts singt und tanzt.

Gegen die gestörte Zirkulation von Waren und Werten setzt Pinho eine Proliferation der Bilder, in eine kühle Buntheit ausgewaschener Farben gehüllt; als Kino der Krise ist "A fábrica de nada" zugleich von enigmatischer Poesie und defensiver Offenheit. Die Nichts-Fabrik ist ein Ort, an dem sich die verbliebenen Spielräume kollektiven Handelns, samt der ganz persönlichen Kosten, erproben lassen, ein Ort, der den Umschlag ästhetischer Räume in politische Räume und umgekehrt nachvollzieht. Die cineastische Arbeit des Films und die politische Arbeit seiner Protagonist*innen ist eine an der eigenen kollaborativen Vorstellungskraft, die in einem kollabierenden, aber hermetischen System um Perspektiven kämpft.

Sebastian Markt

A Fábrica de Nada - Portugal 2017 - Regie: Pedro Pinho - Darsteller: José Smith Vargas, Carla Galvão, Njamy Sebastião, Joaquim Bichana Martins, Danièle Incalcaterra - Laufzeit: 177 Minuten.

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Taylor (Nick Robinson) hat, erzählt er per Voice-Over im Prolog des Films, während wir ihn einen Sandstrand entlang laufen sehen, ein "weird heart". Und zwar meint er er das, fährt er fort, nicht in einem "metaphorical, english-major way", sondern wörtlich. Er muss das hinzufügen, weil er sonst durchaus gerne in einem "metaphorical, english-major way" spricht, andauernd Worte wie "henceforth" benutzt und Faulkner zitiert. Nicht unbedingt korrekt und nicht immer zur passenden Gelegenheit. Er ist ja auch kein echter Literaturstudent, sondern ein 18-jähriger, zumindest zu Filmbeginn in jeder Hinsicht unschuldiger Junge, der in einer Galerie jobbt - und der es irgendwie hinbekommt, in einer literarisch aufgebrezelten Sprache daherzuquasseln, ohne dass sich das aufgesetzt oder auch nur peinlich anhören würde.

Das Herz Taylors ist allerdings eben tatsächlich, physisch, "weird", es fängt bei Aufregung an, schneller zu schlagen, was dann im Film auch stets als ein über den Soundtrack sich legendens Pulsieren nachvollzogen werden kann. So zum Beispiel, als er zum ersten Mal Krystal (Rosario Dawson) begegnet. Wir sind immer noch am Strand. Krystal kommt direkt aus der Brandung und der Unschärfe auf uns und Taylor zu, im engelgleich weißen, aber auch ausnehmend knappen Kleid. Eigentlich nur ein besseres Sweatshirt, das von Taylors Point-of-View-Shot abgescannt wird, während ein immer schneller werdendes dumpfes Hämmern auf die Tonspur drängt.

Bis Taylor in Ohnmacht fällt. Wenn er dann nach dem Aufwachen einen Liebeswahn entwickelt und sich auf die Suche nach der Schaumgeborenen macht, scheint sich für eine Weile eine Sexkomödie anzubahnen, die sich um ein aus physiologischen Gründen paradoxes Begehren dreht (weil ausgerechnet die Nähe zum begehrten Objekt jede Hoffnung auf eine Erfüllung des Begehrens verunmöglicht). Aber einerseits stellt sich bald heraus, dass die medical Condition der Hauptfigur recht willkürlichen Regeln folgt, und andererseits biegt der Film insgesamt - obwohl Taylor zunächst tatsächlich damit beginnt, Krystal zu stalken - schnell in eine komplett andere Richtung ab.



Nicht Taylors Begehren selbst steht im Weiteren im Mittelpunkt von William H. Macys Film, sondern die beiden Familien, die durch es in Kontakt miteinander geraten. Zum einen ist da seine eigene, eine versponnene Künstler-, beziehungsweise Späthippiesippe. Der Bruder malt, die Mutter dichtet, der Vater (gespielt vom Regisseur) hat ein esoterisches Selbsthilfebuch geschrieben. Krystal, zum anderen, hat sich nach Sucht- und Prostitutionserfahrungen einigermaßen aufgerappelt, lebt zusammen mit ihrem im Rollstuhl sitzenden Sohn und hat gleich zwei Stalker - neben Taylor ist da noch ein deutlich gefährlicherer Ex, der sie in ihr altes Leben hinabzuziehen droht.

Aber auch als Familiendrama beziehungsweise -groteske - die beiden Aspekte sind in diesem Fall tatsächlich kaum voneinander zu trennen - bleibt "Krystal" unberechenbar. Macy geht es nicht um das dramaturgische Potential einer Konfrontation zweier sozialer Welten, sondern um ein Kontinuum beschädigten Lebens. Gleich eine ganze Reihe von Szenen spielen während Treffen der Anonymen Alkoholiker. Auch das lokale Krankenhaus ist ein wiederkehrender Schauplatz. Wobei ausgerechnet der Arzt (der heimliche Star des Films: William Fichtner) ganz besonders derangiert ist.

Der Blick des Films ist kein therapeutischer, aber doch ein gütiger, integrativer, einer, der selbst noch für Krystals bei den ersten Auftritten diabolisch anmutenden Ex Verständnis aufbringt. Es hilft ja nichts: Kaputt sind wir alle. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns ein Stück weit für unsere Mitmenschen zu öffnen. Damit wir uns in ihnen und ihren Schwächen spiegeln können. Am Ende ist "Krystal" keine Sexkomödie, kein Familiendrama und auch kein Selbsthilfekino, sondern eher eine vielstimmige, auf absonderliche Art gleichzeitig hysterische und tiefenentspannte Südstaatenballade (gedreht wurde hauptsächlich in Georgia).

So toll sich das alles (hoffentlich) anhört, und so sehr ich dem kruden Charme des Films verfallen bin, so notwendig ist doch eine vorsichtige Warnung: Nach konnventionellen Kriterien ist "Krystal" kein besonders guter Film. Vielleicht sogar ein ziemlich herausragend misslungener. Die beständigen Tonlagenwechsel auch im Schauspiel - Dawson scheint die einzige zu sein, die ihre Rolle voll und ganz ernst nimmt - sind ziemlich sicher genauso wenig Teil eines Masterplans wie die zahlreichen krumm und schief im Film herumstehenden Nebenhandlungen. Spätestens, wenn irgendwann (schlecht) computeranimierte Wesen auftauchen, die wohl die Sucht- und sonstigen Dämonen diverser Figuren verkörpern sollen, gerät die erzählerische Balance endgültig aus den Fugen. "Krystal" ist ein Film, dessen Regisseur im Lauf des Projekts die Kontrolle entglitten zu sein scheint. Aber eben auch einer, der beim Darübernachdenken und -schreiben immer besser wird. Es empfiehlt sich, ihm mit offenem Herzen zu begegnen.

Lukas Foerster

Krystal - USA - Regie: William H. Macy - Darsteller: Nick Robinson, Rosario Dawson, T.I., William H. Macy, Grant Gustin, Felicity Huffman - Laufzeit: 90 Minuten.