Magazinrundschau

Das Gehirn in Technicolor

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Freitag Mittag
17.06.2014. La vie des idees fragt: Hat Musik eine Farbe? Ohne Gott keine universalen Werte, bescheinigt John Gray im New Statesman Kenan Malik. Tin House besucht den Special-Effects-Künstler Tom Savini. Die LRB feiert Polke, die NYRB feiert El Greco, der Howler feiert den Torwart. Der Guardian setzt den großen Säuferinnen der Literaturgeschichte ein Denkmal. Immerhin kann man es mit Drogen auch mit 90 Jahren noch zum Millionär bringen, erzählt die New York Times.

New York Review of Books (USA), 19.06.2014

Ingrid D. Rowland feiert die große Ausstellung zu El Greco und erklärt, weshalb Toledo der beste Ort für solch ein Unternehmen ist: In Toledo, wo El Grecos Schaffen seinen Höhepunkt erreichte, kann der Besucher die im Museum ausgestellten Arbeiten des Künstlers mit den Fassaden, den Wolkengebilden, Farben und Stimmungen der Stadt abgleichen, die ihn derart inspirierte und somit das Werk nachempfinden, so Rowland. "Mit seinen erhabenen Decken ist das Museo de Santa Cruz der perfekte Ausstellungsort für die großen Gemälden - welche in den modernen Museumskomplexen von den niedrigen Decken und horizontal spaces erdrückt würden - dieses Meisters des Lichts, der Formen und Farben. El Grecos "Himmelfahrt der Jungfrau" gehört an den beabsichtigten Ausstellungsort, den Altarraum in Santa Domingo, und nicht in die dunkle, gedrungene und fensterlose Galerie des Art Institut of Chicago. Dahingehend ist es eine besondere Ehre die intakte Kapelle von San José, samt ihrem retablo, ihren Statuen und dem bewegenden Bild des Heiligen Josef mit dem jungen Jesus, der seinen Vater voller Hingabe umarmt, hier betrachten zu können." (El Greco: St. Joseph und das Jesuskind. Toledo Cathedral. Foto: Jaime Antonio Alvarez Arango, Flickr)

Außerdem schreiben in dieser Kunst-Ausgabe Andrew Butterfield über Veronese, Sanford Schwartz über Sigmar Polke, Jonathan Galassi über den Futurismus und Michael Kimmelman über verfemte Kunst im Dritten Reich. Nur im Print fragt David Cole, ob die NSA überhaupt kontrolliert werden kann.

Magyar Narancs (Ungarn), 07.05.2014

Der Schriftsteller Gábor Szántó denkt über neue, dezentrale Formen der Erinnerung an den Holocaust in Ungarn nach, die zum Teil als Reaktion auf die offiziellen Gedenkveranstaltungen zum 70. Jahrestag der Deportation der ungarischen Juden entstanden: "Als vor einigen Monaten, zum 70. Jahrestag des Holocaust die Facebook-Gruppe "Der Holocaust und meine Familie" entstand, schloss ich mich neugierig an ... Die Versuche der Geschichtsverfälschung taten der Erinnerung gut: wie bei einem Virus wurde die Produktion der Antikörper augelöst ... Der Trotz hat sie ausgelöst, doch die emotionale Motivation ist zweitrangig ... Etwas fand seinen Anfang und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Bisher verdrängte, verschwiegene, oder nur im engen Familienkreis erzählte Erinnerungen und Geschichten wurden veröffentlicht, das befreit emotional und lässt vielleicht auch eine Gemeinschaft entstehen."
Archiv: Magyar Narancs

London Review of Books (UK), 19.06.2014

Hal Foster besucht die große Sigmar Polke Retrospektive "Alibis" im New Yorker Moma und entdeckt im Werk des 2010 verstorbenen Künstlers mehr als erwartet: "Am schönsten spottet er in einem Werk mit dem schlichten Titel "Moderne Kunst, 1968" (Foto: Sammlung Froehlich, Stuttgart), eine Anordnung modernistischer Merkmale - expressionistische Gesten, suprematistischer Geometrien, und Winkel aus dem Bauhaus - präsentiert als ein "Ein-Bild-Resümee" des frühen 20. Jahrhunderts. Diese Werke entlarven natürlich internationalen Modernismus, aber sie hinterfragen auch seine westdeutsche Feier als Darstellung des Abstands von der Verurteilung des Modernismus durch die Nazis im Besonderen und von der Nazi-Vergangenheit im Allgemeinen - als ob man glauben könnte, was Polke es einst als böse Anspielung auf das Motto von Auschwitz formulierte: "Kunst macht frei"."

Weitere Artikel: Richard Lloyd Parry erzählt die Geschichte der politischen Krise in Thailand als eine bittere Melange aus Klassenkampf, Systemversagen und schlechten Verlierern. Alan Bennett hält eine Rede in Cambridge über Fair Play. Abgedruckt ist James Meeks Erzählung "Ein Leopard in der Familie". Und Jacqueline Rose bespricht neue Bücher über Mütter und Mutterschaft.

New York Magazine (USA), 16.06.2014

Ist Starfotograf Terry Richardson ein Genie oder ein Sexualstraftäter? Dieser Frage geht Benjamin Wallace in der aktuellen Nummer des Magazins nach. Eine Hexenjagd nennt Richardson selbst, was gerade passiert. Models alarmieren die Modewelt mit Tweets über Richardsons zunehmend pornografische Shootings: "Als seine Karriere anzog, wurde seine Arbeit immer sexueller. Er zog sich jetzt regelmäßig während der Shootings aus, um es den Models einfacher zu machen, wie er selbst sagt. Als eine Art Katharsis für seine Probleme und seine Drogenvergangenheit begann er, sich selbst in expliziten Posen abzulichten ... Die bislang übelste Geschichte stammt von der 24-jährigen Charlotte Waters, die für Richardson 2009 posierte. Waters veröffentlichte ihre Erfahrungen jüngst auf dem Socialnews Portal Reddit. Ihrzufolge endete das Shooting damit, dass Richardson "ihren Hintern leckte" und sie aufforderte seine Hoden zu pressen. Eine Assistentin habe sie dabei angefeuert. Schließlich habe Richardson sie aufgefordert, die Augen weit aufreißen, und sei auf ihrem Gesicht gekommen. Dabei hätten die Assistentin und er dauernd Fotos gemacht." Ein andere Assistentin gibt dem Internet die Schuld an allem: "Vor etwa zehn Jahren, als Richardson und der Porn Chic bekannt wurden, sei der Markt für extreme Fotografie noch überschaubar und erlesen gewesen. Niemand habe befürchten müssen, dass ein Bild gleich via Twitter oder Huffington Post in jedem Haushalt landen würde. Diese Möglichkeit habe für viele Leute die Grenze zum Unangenehmen verschoben."

La vie des idees (Frankreich), 16.06.2014

"Hat Musik eine Farbe?", überschreibt Sara Le Menestrel ihren Essay aus Anlass der Pariser Ausstellung "Great Black Music", in dem sie der Frage nachgeht, ob man überhaupt von schwarzer Musik sprechen könne, ohne ins Horn des Essenzialismus zu stoßen. Die Ausstellung präsentiere zwar in enzyklopädischem Ausmaß Schätze aus einem Jahrhundert Musikgeschichte, biete aber keine klare Antwort auf eine Frage, die sie gleichwohl aufwerfe. Denn kann man den 1967 von Lester Bowie geprägten Begriff der schwarzen Musik "wirklich übernehmen, ohne Grenzen zu anderen, sogenannten weißen Musikrichtungen zu ziehen, ohne die Verknüpfung einer "rassischen" und/oder "ethnischen" Identität und einem bestimmten Klang aufrechtzuerhalten? Von der Beschreibung dieser Musikrichtungen zu ihrer Ästhetisierung ist es nur ein Schritt, was gewisse, im Lauf der Ausstellung häufig vorkommende Qualifizierungen durchscheinen lässt und im Katalog explizit zum Ausdruck gebracht wird: "Schwarze Musik stammt zwar aus dem kolonialen Raum der Plantagen. Doch was sodann zählt, ist zu verstehen, wie es schwarzen Musiker gelang, in diesem Kontext die schönsten Musikformen zu schaffen, und wie diese in die ganze Welt ausschwärmten."

New Statesman (UK), 12.06.2014

Kaum ein gutes Haar lässt John Gray an Kenan Maliks Geschichte der Ethik "The Quest for a Moral Compass". Vor allem in Maliks rigoroser Kritik am Monotheismus und seiner Absolutsetzung der Aufklärung sieht Gray das marxistische Denken eines alten Trotzkisten, der sich letzten Endes selbst das Wasser abgräbt: "Marx konnte zugeben, dass einige Werte essentiell menschlich waren, auch wenn er leugnete, dass es eine bleibende menschliche Natur gibt, denn er glaubte an die interne Logik der Geschichte, die ihrem Wesen nach letztendlich gut sei. Ohne die tröstliche Überzeugung - die sich Marx unerlaubt von der Religion lieh - hängen Maliks universale Wert im leeren Raum. Hat man den Monotheismus erst einmal aufgegeben, muss man sich von der Idee verabschieden, menschliche Werte seien universal oder objektiv in dem Sinne, wie Rationalisten wie Malik sie glauben möchten. Man bleibt mit dem real existierenden menschlichen Tier zurück, mit seinen vielen unterschiedlichen Geschichtserzählungen und sich bekriegenden Moralvorstellungen."

Dreißig Jahre nach dem Bergarbeiterstreik fragt Donald Macintyre, ob er wirklich in so einer krachenden Niederlage hätte enden müssen.
Archiv: New Statesman

Nepszabadsag (Ungarn), 13.06.2014

Am vergangenen Mittwoch wurde in Ungarn ein Gesetz zur Besteuerung von Werbeeinnahmen von Medienunternehmen verabschiedet. Das Gesetz (mehr hier) betrifft in erster Linie den größten Privatsender des Landes, RTL Klub, ein Tochterunternehmen der deutschen Bertelsmann AG. Seit der Verabschiedung des Gesetzes sind die Nachrichtensendungen von RTL Klub zunehmend kritischer gegenüber der Regierungspolitik geworden. Miklós Hargitai kommentiert die Veränderungen in der Berichterstattung von RTL Klub: "Die ungarischen Medien sind von Interessensverhältnissen durchwoben ... Sie waren nachsichtiger mit der Regierung, weil es sich auszahlte und jetzt wurden sie bissiger, weil es sich nicht mehr lohnt zu schweigen. Dass es um ihren Mut zurück zu erlangen einer selektiven und diskriminierenden Werbesteuer bedurfte, erhöht nicht ihren Ruhm, doch Selbstzensur ist so etwas wie Koma: Es ist nie zu spät aufzuwachen."
Archiv: Nepszabadsag

Guardian (UK), 13.06.2014

Olivia Laing verneigt sich vor den großen Säuferinnen der Literaturgeschichte wie Elizabeth Bishop, Jean Rhys oder Patricia Highsmith. Sehr bewegend schildert sie auch das Leiden der Marguerite Duras, die ihre schreckliche Kindheit in Indochina mit dem "Liebhaber" nicht verarbeitet bekam: "Wie später veröffentlichte Versionen zeigen, konnte sie wieder und wieder zu der Urszene ihrer Kindheit zurückkehren und in fast unerschöpflichen Reichtum an Farben nachmalen: mal erotisch und romantisch, mal brutal und grotesk. Immer wieder erzählte sie dieselbe Geschichte, immer wieder kam sie auf den Stoff, der sie kaputtmachte, zurück. Diese repetitiven Akte, fruchtbare wie destruktive, ließen den Kritiker Edmund White fragen, ob Duras nicht unter dem leide, was Freud einen Wiederholungszwang nannte. "Das Verlangen, getötet zu werden, ist mir vertraut. Ich weiß, das es das gibt", sagte sie in einem Interview, und diese Intensität, diese absolute und kompromisslose Sicht unterscheidet ihr Werk von dem der anderen. Zugleich wirft dieses Statement ein Licht darauf, wie sie den Alkohol gebrauchte: als einen Weg, ihrem eigenen Masochismus und ihren Selbstmordgedanken nachzugeben, während sie zugleich die Wildheit betäubte, die sie überall auf der Welt am Werk sah."

Zoe Williams erzählt, wie sie mit aller Macht versuchte, bei der großen Londoner Schau Marina Abramovics nicht in den Bann der Kunstschamanin gezogen zu werden: "Dann sah ich Alexandra, die über das ganze Gesicht strahlte; zuerst dachte ich, sie würde auf eine Wand sehen und hätte ein Erlebnis der Transzendenz. Dann bemerkte ich, dass sie ihren Bruder anlächelte. "Ist das nicht Wahnsinn?", wisperte sie. Es war ein Moment reiner Geschwisterlichkeit, die früheste Solidarität, die Freude am Teilen, die Überzeugung, verstanden zu werden. Welch Ironie, dachte ich, während mir die Tränen das Gesicht herunterliefen und auf mein Schlüsselbein tropften. Ich bin nur hergekommen, um mich über die heulenden Menschen lustig zu machen, und jetzt bin ich die einzige, die heult."
Archiv: Guardian

New York Times (USA), 15.06.2014

Im Magazin erzählt Sam Dolnick die unglaubliche Geschichte des 90-jährigen Drogenkurieropas Leo Sharp, der jahrelang für das mexikanische Sinaloa-Kartell arbeitete. Passionierter Taglilienzüchter und Weltkriegsveteran, wurde Sharp schließlich Schlangenlinien fahrend in einem Pick-up voller Kokain geschnappt. "Ist der Mann senil oder richtig clever? Sein Anwalt argumentiert, das Kartell habe ihn und seine Demenz ausgenutzt; bei Demenz habe man es mit schlechtem Urteils- und Entscheidungsvermögen zu tun … Sharp fuhr kreuz und quer durchs Land, Strecken, die einen halb so alten Mann erschöpft hätten, von Florida über North Carolina und Arizona bis Michigan in acht Tagen. Er genoss großes Vertrauen. Normalerweise parkt ein Drogenkurier seinen Wagen mit steckenden Schlüsseln, ein anderer fährt den Wagen weg und Stunden später steht der Wagen mit dem Stoff wieder da. Der Kurier sieht keine Gesichter. Bei Sharp war es anders. Er fuhr von einem Drogenlager in Tucson, Arizona zum nächsten und holte die Ware ab, ein immenses Risiko. Doch so effektiv und vertrauenswürdig Sharp auch war, er war zunehmend auch eine Belastung. Einmal fuhr er den Wagen mit dem Koks an Bord in die Werkstatt. Ein anderes Mal musste ihn jemand in Detroit abpassen und zum Übergabeort dirigieren." Andererseits: So schlecht kann Sharps Urteilsvermögen nicht gewesen sein, eine Million Dollar jährlich fuhr er mit seinem "Nebenjob" ein.

In der Sunday Book Review freut sich A.O Scott über die Wiederentdeckung Stefan Zweigs in der angelsächsischen Welt, woran nicht nur Wes Anderson mit seinem Film "Grand Budapest Hotel" Anteil hat, sondern auch George Prochniks Biografie "Stefan Zweig at the End of the World": "Prochnik versucht alles auf einmal zu erfassen. Das Ergebnis ist ein intellektuelles Festmahl aus unzähligen Kanapees. Am Ende hat man eine Menge Einsichten und Informationen über jüdische Literatur, über Wiener Sexualbräuche und literarischen Klatsch verdaut. Es ist ein unsystematisches Buch über einen Mann, zu dessen nachhaltigsten Vorzügen der Dilettantismus gehörte."
Archiv: New York Times