Vorgeblättert

Ralph Dutli: Mandelstam, Teil 2

21.07.2003.
Der Spuk dauerte rund zwei Monate. In Nadeschdas Darstellung war es eindeutig Olga, die sich Mandelstam an den Hals warf. In den distanzierten Erinnerungen Olga Waksels war nur der Dichter einem Liebeswahnsinn erlegen, lag vor ihr auf den Knien, weinte und versicherte ihr zum hundertsten Mal, daß er ohne sie nicht leben könne. Wo genau die Wahrheit liegt, ist im Reich des Eros - und bei zwei eifersüchtigen Zeuginnen - schwer auszumachen. Aber der Eindruck eines besinnungslos verliebten Dichters ist angesichts des Gedichtes "Das Leben fiel" nicht abwegig. Nadeschda äußerte in ihren Memoiren den begründeten Verdacht, er habe die Affäre nur gebraucht, um jene beiden unglaublichen Gedichte zu schaffen ... Als die verräterischen Verse geschrieben waren, war auch die Krise ausgestanden. Aus dem Land "jenseits der Wimpern", dem Reich erotischer Utopie, kehrte Mandelstam in die nüchterne Realität zurück.
Das zweite Olga Waksel gewidmete Gedicht zeigt den wahnsinnigen Lauf eines zum Nomaden, zum Ortlosen gewordenen Dichters durch die dunkle Stadt. Spürbar wird eine grenzenlose Verlorenheit. Die bei Mandelstam immer grausamen ("stachligen") Sterne mischen sich wieder ein: "An Licht ist da nichts als die stachlige Lüge der Sterne." Und das schmerzende Fazit: "Das Leben schwimmt weg." Selbst die erotischen Motive des Gedichts - Locken, Lippen und Pupillen, die "apfelgleich rosige Haut" - sind nur noch bitter-sinnliche Elegie.

Ich lauf durch den Ort der Nomaden, die dunkle Straße,
Dem Faulbeerbaumzweig hinterher in der schwarzen, gefederten Kutsche,
Dem Häubchen von Schnee hinterher und dem ewigen Geräusch einer Mühle ...

Ich erinnre mich nur an die Locken, kastanienbraun, ihre Versager,
Umraucht von der Bitterkeit, nein! - eher Ameisensäure;
Von ihnen blieb mir auf den Lippen wie trockener Bernstein.

In solchen Minuten hat mir noch die Luft braune Augen,
Pupillen, die Ringe, umkleidet vom Pelzrand aus Licht,
Und das, was ich weiß von der apfelgleich rosigen Haut ...
(TR, 175)

Als ob er diesmal Nadeschda entführen wollte, flüchtet Mandelstam mit ihr am 25.März 1925 vor dem zersetzenden Geschehen aus Leningrad in das dreißig Kilometer entfernte Detskoje Selo, ehemals Zarskoje Selo ("Zarendorf"). Den neuen Namen "Kinderdorf" bekam das Städtchen 1921, weil dort Bürgerkriegswaisen beherbergt wurden. In Detskoje kommen die Mandelstams in der kleinen Pension "Sajzew" unter, die sich im Gebäude des Lyzeums eingenistet hatte. Es ist jene berühmte Lehranstalt, wo Alexander Puschkin 1811 bis 1817 zur Schule ging und seine ersten Verse schrieb. Doch das Paar ist hier mit sich selbst beschäftigt, die Literatur scheint fern. Während des Aufenthaltes in Detskoje erschien Anfang April 1925 im Leningrader Verlag "Wremja" Mandelstams autobiographisches Buch Das Rauschen der Zeit, sein Abschied von der Kindheit, vom alten, vorrevolutionären Rußland.
Mandelstam wollte das Leben mit seiner Frau nach der Krise neu beginnen. Nadeschda war von allem arg mitgenommen. Auch gesundheitlich ging es ihr immer schlechter. Sie hatte Fieberanfälle und Schwächezustände. Und sie bat Mandelstam um ihre Freiheit: "Wozu brauchst du mich? Warum hältst du mich zurück? Wieso soll ich so leben - wie in einem Käfig? Laß mich gehen ..." Mandelstam erleidet in jenem Frühjahr 1925 - das genaue Datum ist unbekannt - seinen ersten Herzanfall und wird fortan immer öfter von Beschwerden und Atemnot heimgesucht werden. Moralisch und gesundheitlich angeschlagen, aber fürs erste versöhnt, kehren die beiden am 24.April nach der gemeinsamen Quarantäne in Detskoje nach Leningrad zurück.
Die Nachwelt machte sich von diesem Paar ein mythisches Bild. Joseph Brodsky sah in ihm, mit allerdings vertauschten Rollen, eine moderne Inkarnation von Orpheus und Eurydike. Nadeschdas heroische Rolle als Bewahrerin von Mandelstams Gedichten und als souveräne Memoiristin wird dazu beitragen, dieses Ehepaar in einem strahlenden Licht erscheinen lassen. Doch häufiger Streit gehörte zu ihrem gemeinsamen Leben, wie das Kapitel Erste Streitigkeiten im zweiten Band der Memoiren nachdrücklich festhält. Die Geschichte der "großen Paare" braucht kein Idyll zu sein.
Mandelstam verhielt sich von Anfang an als eifersüchtiger Patriarch, ließ Nadeschda keine eigene Arbeit suchen, ließ sie nirgendwo hingehen und verlangte ihr völliges Aufgehen in seinem Leben (wie er es im "Lea"-Gedicht 1920 vorgesehen hatte). Nadeschda war für ihn auch die unersetzliche Person, der er seine Texte diktierte. Mandelstam schrieb fast nie, sondern ging im Zimmer auf und ab, murmelte zunächst Unverständliches und hörte auf das "innere Bild", das laut seinen Vorstellungen dem geschriebenen Gedicht vorausgehe und vom Gehör des Dichters "betastet" werde. "Noch kein einziges Wort ist da, doch das Gedicht klingt bereits" - so wird der geheimnisvolle Vorgang im Essay Das Wort und die Kultur (1921) dargestellt (GP, 87). Als die Worte schließlich kamen, schrieb er sie nicht selber auf, sondern diktierte sie wie im Fieber - Nadeschda.
Sie war gleichsam sein menschliches Diktiergerät, das immer verfügbar sein mußte. Auch die Prosa wurde diktiert. Nadeschda schildert das Entstehen von Das Rauschen der Zeit in Gaspra auf der Krim, im Sommer 1923. Mandelstam ging zuerst eine Stunde alleine spazieren, dann kam er "angespannt und böse" zurück und verlangte, daß sie sofort die Bleistifte anspitze und aufschreibe. Er diktierte sehr schnell, meist ein ganzes Kapitel dieser dichten Prosa auf einmal. Wollte sie eine Bemerkung einwerfen, wies Mandelstam sie zurecht: "Still! Misch dich nicht ein ... Du verstehst nichts davon, also schweig." Nicht selten kam es bei diesen Sitzungen zu heftigem Streit.
Mandelstams tyrannisches Verhalten beim Diktat seiner Werke mußte auf Außenstehende absonderlich und abstoßend wirken. Schwer nachfühlbar war, daß er selber wie unter Zwang stand: unter dem Diktat eines herrisch sich äußernden Werks. Er war alles andere als ein Vielschreiber, lange Schweigeperioden lagen zwischen den fieberhaften Schaffensphasen. Kamen dann die Worte zum Vorschein, gab es keinerlei Aufschub. Das ruppige Diktierverfahren bezeichnete die Zeitgenossin Emma Gerstein als "sadistisches Ritual". Aber Paare sind komplexe Verbindungen, für Außenstehende schwer verständliche Phänomene. Im Handumdrehen, wenn es nicht um das Entstehen seiner Werke ging, war Mandelstam rührend um Nadeschda besorgt. Sie schildert im Kapitel Honigmonat eine Episode, als die beiden während des Sommers 1921 im georgischen Batumi am Schwarzen Meer auf einer Terrasse die Nacht verbrachten. Nadeschda erwachte mehrmals und sah Mandelstam auf einem Stuhl neben ihrer Matratze sitzen: mit einem Blatt Papier wedelnd und die Moskitos von ihr wegscheuchend. Und die Memoiristin fügt hinzu: "Gott, hatten wir es gut zusammen - warum haben sie uns unser Leben nicht gemeinsam zu Ende leben lassen ..."

Teil 3