Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.09.2002. Mit angehaltenem Atem erörtert die NZZ Lösungsmöglichkeiten für den Marthaler-Konflikt. Die FAZ erzählt von der Rückkehr Roman Polanskis nach Polen. Die FR findet Gerhard Schröder geradezu lutherisch-wahrhaftig. In der taz raucht Michael Blumenthal vom Jüdischen Museum eine Zigarre. In der SZ denkt Monika Maron über biografische Wahrheit nach.

FAZ, 13.09.2002

Zwei Geschichten aus dem Krieg:

Stefanie Peter schreibt eine schöne Reportage über die Rückkehr Roman Polanskis nach Polen. Er stellte dort seinen Film "The Pianist" vor, der im Warschauer Ghetto spielt und an Kindheitserinnerungen Polanskis anknüpft. Die Premiere wurde in Warschau zum gesellschaftlichen Ereignis. Der Film berührt Peter durch die kindliche Perspektive: "Ein Kind, so schreibt Polanski in seiner Autobiografie 'Roman', nähme die Umwelt mit einer Klarheit und Unmittelbarkeit wahr, an die keine spätere Erfahrung je heranreiche. Der Film 'The Pianist' ist geprägt vom Sensorium eines Kindes. Es sind zufällige und meistens distanzierte Blicke mit viel Aufmerksamkeit für die Einzelheiten: durch ein Loch im Zaun, einen Türspalt oder ein Fenster. Auf Dinge und Szenen, die Kinder eigentlich nicht sehen sollen, nie zuvor gesehen haben, nicht verstehen, aber von denen sie bald spüren, dass sie schrecklich und bedrohlich sind und man sich am besten schnell verkriecht"

Monika Osberghaus erzählt die Geschichte zweier Kinderbücher aus der Nazizeit, die unter dem Namen Hertie Kirchners, einer Geliebten Erich Kästners, erschienen und womöglich von ihm selbst sind - denn Kästner hatte Schreibverbot und musste unter Pseudonym veröffentlichen. "Lütte" heißt das freche Mädchen, das als "Indianerhäuptling einer demokratisch agierenden Kinderbande" vorsitzt. "Die Feinde dagegen sind dumm und ihrem brutalen und feigen 'Führer' blind ergeben. Nicht nur wird hier der Führerkult persifliert und einer demokratischen Gesellschaftsform gegenübergestellt, sondern dies geschieht noch dazu in der Form einer Indianergeschichte - eine deutliche Provokation, da Indianer im arischen Kinderbuch nichts zu suchen hatten." Aber Osberghaus ist skeptisch. Stilistisch scheinen ihr die Bücher nicht ganz auf der Höhe. Sie sind jetzt in einer Reprint-Ausgabe neu erschienen.

Weitere Artikel: Thomas Wagner betrachtet die neu präsentierte Sammlung des Museums für moderne Kunst in Frankfurt. Jürgen Kaube interviewt den Althistoriker Karl Christ. Er antwortet auf den Vorwurf des SPD-Politikers Ludwig Stiegler, George W. Bush führe sich auf, "als sei er der Princeps Caesar Augustus und Deutschland die Provincia Germania" mit der kleinen Richtigstellung, dass Germanien zur Zeit des Augustus keine römische Provinz war (und Augustus kein Princeps). Jordan Mejias ging am Tag des Gedenkens in New York spazieren. Rüdiger von Treskow schreibt über das Schloss von Owinsk im heutigen Polen, das sein Vorfahr Otto Sigismund von Treskow von Schinkel erbauen ließ - es wurde nach der Wende privatisiert und von seinen jetzigen Besitzern aus Rache gegen den Denkmalschutz, der keinen Hotelbetrieb zuließ, verwüstet. Martin Kämpchen liest indische Zeitschriften (unter anderem The Week, The Little Magazine und Art India), die sich mit den Auswirkungen des 11. September auf ihr Land beschäftigen.

Auf der letzten Seite porträtiert Andreas Rossmann den Bonner Theaterintendanten Arnold Petersen. Und Gerhard R. Koch gratuliert dem Musiker Heiner Goebbels zum Fünfzigsten. Auf der Medienseite wird die Website 911digitalarchive.org vorgestellt, die Material zum 11. September sammelt und präsentiert, darunter Hunderte von privaten Fotos. Und Ingolf Kern berichtet über die Suche nach einem neuen Intendanten für die fusionierten Anstalten SFB und ORB.

Besprochen werden Andre Techines Film "Weit weg", ein Konzert James Taylors in der Alten Oper Frankfurt und die ersten Choreografien des Frankfurter Ballettchefs William Forsythes nach Bekanntwerden seiner bevorstehenden Entlassung.

Und Eva Menasse stellt in der Glosse einen Pferdedungbehälter vor, der den Wiener Fiaker-Pferden zur Vermeidung öffentlicher Äpfel zwischen die Hinterbeine gehängt werden soll: "Lammfellränder verhindern Wundscheuern. Sobald der Pferdeschweif sich hebt, ein untrügliches Zeichen für den folgenden Stoffwechsel, öffnet eine Feder das Säckchen. Mit dem Senken des Schweifes, also nach vollbrachter Füllung, schließt sich die Vorrichtung wieder."

FR, 13.09.2002

Das Gerede vom Medienkanzler kann Jochen Schimmang nicht mehr hören, den "wir wollen ja, dass uns unser Regent in seinem Auftreten vor den gröbsten Peinlichkeiten bewahrt". Außerdem kommt ihm der Amtsinhaber in letzter Zeit ganz im Gegenteil eher lutherisch-wahrhaftig vor: "Der Schröder des 'Hier stehe ich...', den wir in diesen Wochen erleben, ist - ich scheue das leicht pathetische Wort nicht - anrührend."

Roman Luckscheiter präsentiert die lang herbeigesehnte September-Ausgabe des "Götterboten" Merkur, in der sich alles um das Lachen dreht. "Wer bisher nichts zum Lachen hatte, dem wird hier fundiert Abhilfe geschaffen und erklärt, warum Lachen und Westen, Lachen und Demokratie zusammen gehören."

Weitere Artikel: Rudolf Maria Bergmann begutachtet das Gebäude der neuen Pinakothek der Moderne in München. Elke Buhr blickt schon mal auf die 11. Kassler documenta zurück, die in drei Tagen zu Ende geht. Peter W. Jansen gedenkt der verstorbenen Schauspielerin Kim Hunter (mehr hier), und H.K.J. stellt den Komponisten Avo Pärt vor. Sylvia Staude hat einen Ballettabend mit William Forsythes neuem Stück 33/3 in der Oper Frankfurt gesehen und Ulf Erdmann Ziegler ein Konzert von James Taylor gehört: "Wenn er die rechte Braue anhebt, wird er zum Sinnbild des immer zum Scherzen aufgelegten Onkels der Familie. Und genau so sieht er sich in seinen Songs: als leicht missglücktes Beispiel einer Sippe, deren Lebensdramen er aus der Ferne eines Gartens beobachtet, leicht schaukelnd in der Hängematte."

TAZ, 13.09.2002

Auf den tagesthemenseiten spricht Michael Blumenthal, Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, im Interview über schöne Frauen, die Irakdebatte und über die Schwierigkeit, ein Ausstellungskonzept für das Museum zu finden, dass nicht von Daniel Liebeskinds Architektur erdrückt wird. Hier ein Ausschnitt aus dem Gespräch:
(mit nervigem Ton öffnet sich minutenlang automatisch ein Oberlichtfenster)
MB: Ah, Daniel Libeskind.
taz: Das ist wegen Ihrer Zigarre.
MB: Das ist meine Schuld, natürlich. Wie immer.

Das taz-Feuilleton im Zeichen der Musik: Tobias Rapp (nomen est omen!) porträtiert den "Ghetto-Elvis" 2Pac Shakur (mehr hier), der vor sechs Jahren ermordet wurde. "Ob Tupac nun der härteste Rapper war, mögen andere entscheiden. Der beste Rapper war er mit Sicherheit nicht, wenn auch der wahrscheinlich einflussreichste. Aber wenn es einen Rapper gab, der das HipHop-Mantra des 'Keepin it real' am überzeugendsten verkörperte, dann war es Tupac Shakur."

Anlässlich seiner bevorstehenden Deutschland-Tournee stellt Daniel Bax den umstrittenen, aber noch lebenden Komponisten Goran Bregovic (hier seine Homepage) vor, der traditionelle Melodien des Balkans neu interpretiert. "Gut möglich, dass Bregovic zuweilen sehr unbefangen im Repertoire der Roma-Blaskapellen gewildert hat. Doch mit seinen Bearbeitungen balkanischer Einflüsse hat er wie kein anderer zur Popularisierung einer regionalen Tradition beigetragen."

Im weiteren berichtet Tilman Baumgärtel von der Ausstellung "Game on" im Londoner Barbican Kulturzentrum, die sich der Geschichte des Computerspiels annimmt. Besprochen werden die neuen Alben von Underworld und Nightmares On Wax sowie Oliver Parkers Verfilmung des Oscar-Wilde-Stücks "Ernst sein ist alles".

Schließlich Tom.

NZZ, 13.09.2002

Bei einem "Gipfeltreffen" von Intendanten mit der Stadt Zürich wurden Lösungsmöglichkeiten für den Marthaler-Konflikt debattiert - "mit angehaltenem Atem und emotionalem Echo", wie Barbara Villiger Heilig schreibt. "Eine einschneidende Veränderung war in Zürich der Beginn von Marthalers Intendanz. Sie brachte dem Schauspielhaus neues Publikum und vertrieb einen Teil des alten. Ohne Verlust allerdings, da war sich die Podiumsversammlung einig, vollzieht sich kein Wechsel, falls - und dieser Fall gilt für Zürich - ein 'Identifikationsort' entsteht, wo eine mehr oder weniger leere Hülle wartete, wie Luc Bondy es empfand anlässlich über Jahrzehnte gestreuter Besuche in der Stadt seiner Herkunft." Zu einem Ergebnis ist man jedoch nicht gekommen.

Weitere Artikel: Christoph Bignens singt ein Loblied anlässlich des 100. Geburtstags des Zürcher Malers und Gebrauchsgrafikers Richard Paul Lohse und verweist auf eine Ausstellung zu dessen Ehren. Paul Jandl freut sich über die alle Erwartungen übertreffende Besucherfrequenz im Wiener Museumsviertel und die Neueröffnung des letzten Museumsteils, des "quartier21".

Besprochen werden die Uraufführung von Merce Cunninghams postmodernem Stück "Fluid Canvas" beim dance-umbrella-Festival in London ("Hat man Cunningham je so schnell gesehen, je so poetisch"? fragt Lilo Weber) und die Ausstellung "Public Affairs" im Kunsthaus Zürich, die die Frage nach dem Öffentlichen in der Kunst stellt und in diesem Rahmen junge Künstler und ihre Werke neben die ihrer Kollegen aus den sechziger Jahren stellt.

Viel Interessantes heute auf der Filmseite. Palästinensische Filme? Gibt's das noch? Ja, wie Amin Farzanefar bestätigt. Allerdings sind die Werke stets thematisch belegt und damit meist beschränkt auf gängige Klischees von "dem" Palästinenser, wie der Autor bedauert. "Durchhaltefilme mit salbungsvollen Titeln wie 'Wir werden es schaffen' inszenieren ein ums andere Mal das Machtgefälle zwischen Besatzern und Besetzten, betonen Opferrolle und Leidensperspektive", so Farzanefar. Erst im letzten Jahrzehnt hätten sich die Bemühungen um ein differenzierteres, lebensnäheres Bild in den Filmen durchgesetzt. Allerdings "bleiben das Flüchtlingslager und das Gefängnis zwei zentrale, traumatische Orte" für die Inszenierungen.

Weitere Artikel: Esther Quetting stellt ein Buch von Rebecca Hillauer über arabische Filmemacherinnen vor (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr). Christa Piotrowski wundert sich, dass ein Jahr nach den Anschlägen auf New York und Washington erst ein einziger Spielfilm ("The Guys", Drehbuch: Anne Nelson) über die Katastrophe erschien, obwohl schon eine Reihe von Drehbüchern und Konzeptionen in den Schubladen der Regisseure (auch deutscher) lagern und nur auf ihre Umsetzung warten. Besprochen werden der Film "Intervention divine" von Elia Suleiman, der neue Film vom Mystery-Erfolgsregisseur Shyamalan ("The Sixth Sense") "Signs" sowie Aki Kaurismäkis neuer Film "Der Mann ohne Vergangenheit".

SZ, 13.09.2002

Die SZ hat eine leicht gekürzte Fassung eines Vortrags abgedruckt, den Monika Maron gestern auf dem Historikertag in Halle gehalten hat. Maron macht sich Gedanken darüber, wie Biografien zustande kommen, ob es so etwas wie eine biografische Wahrheit überhaupt gibt und ob man jemanden seiner Biografie berauben kann. "Ein Mensch kann seiner Lebenschancen beraubt werden, er kann gewaltsam gehindert werden, sich eine Biografie zu schaffen, indem er eingesperrt wird oder sogar umgebracht. Aber sein gelebtes Leben kann ihm niemand mehr rauben ..." Allerdings könne man ihm die "Deutungshoheit über seinen Lebenslauf" streitig machen, wie vor allem viele Ostdeutsche festgestellt hätten. Bitter war das vor allem für jene, die nach der Wende, wenn ihnen "auch unter veränderten Verhältnissen nicht gelingt, wovon sie immer geträumt haben", und sie erfahren mussten, dass nicht nur die Diktatur schuld an ihrem Scheitern war, sondern auch sie selbst. 

Im dritten Teil der Serie über das Internet erklärt Frank Hartmann, warum die Kommunikationswissenschaft es nicht vermag, eine Theorie für das Netz zu entwickeln. "Ihre Begrifflichkeit entstammt einer Zeit vor dem Netz, ganz ähnlich wie bei der etablierten Publizistikwissenschaft, die hilflos auf ihr neues 'Forschungsobjekt' starrt. Medientechnisches und medienökonomisches Wissen machen im Großen und Ganzen vor dem Internet noch Halt. Wie und was hier geforscht und gelehrt werden kann, ist Thema der unmittelbaren Zukunft: Studierende sind den Dozenten im praktischen Know-How weit voraus."

Weitere Artikel: Christine Dössel berichtet aus Zürich, wo sich die Aufregung um die vorzeitige Entlassung des Schauspielhaus-Intendanten Christoph Marthaler nicht legen will, aber immerhin eine "lebendige Streitkultur" herrscht. Dem amerikanischen Kino geht es schlecht, trotz neuer Einspielrekorde, meldet Susan Vahabzadeh in besorgtem Ton, denn die "Zuschauerzahlen steigen nicht". "jüb" schildert die Diskussion über die nächsten Nibelungen-Festspiele in Worms. Harald Eggebrecht gratuliert zur heutigen Eröffnung des neuen Konzerthauses in Dortmund, auch wenn vom Bau nicht ganz überzeugt ist, Fritz Göttler schreibt zum Tod der Schauspielerin Kim Hunter. Ralf Berhorst fasst eine Berliner Tagung über "Thomas Mann und die Juden" zusammen. Ebenfalls in Berlin, in der Philharmonie, hat sich Wolfgang Schreiber das Gedenkkonzert zum 11. September unter der Leitung von Kent Nagano angehört. Verena Auffermann zeigt sich beeindruckt vom Netzwerk des neuen Direktors des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, Udo Kittelmann.

Besprochen werden William Forsythes Choreographie 33 1/3 im Frankfurter Opernhaus, Oliver Parkers Oscar-Wilde-Verfilmung "Ernst sein ist alles" (dazu ein Interview mit Darsteller Rupert Everett), und Helge Timmerberg räsoniert über das neue Album von Westbam.

Die Buchkritiken befassen sich mit Max Goldts aktuellem Benimmbuch "Wenn man einen weißen Anzug anhat", Dzevad Karahasans Essayband "Das Buch der Gärten" und Reinhold Messners Hörkrimi "Everest" - Himmel, Hölle, Himalaya" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).