9punkt - Die Debattenrundschau

Jahre im All

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.07.2016. Politico.eu erklärt, warum Nizza einer der wichtigsten Rekrutierungsorte für Dschihadisten in Frankreich ist und warum eine Figur wie Mohamed Merah zum Rollenmodell wurde. In der taz bekennt Wolfgang Streeck seine ganze Verachtung für die EU. Und Stephan Wackwitz erinnert sich, wo ihm jenes Polen, das heute regiert, zuerst begegnete. Der Guardian erinnert an die Erfindung des Internets in einem Biergarten vor vierzig Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.07.2016 finden Sie hier

Europa

Die Welt spielt verrückter als es der Perlentaucher widerspiegeln kann. Zum Chaos in der Türkei empfehlen wir das Liveblog des Guardian.

Die Region um Nizza ist einer der wichtigsten Rekrutierungsorte für Dschihadisten, schreibt Nicholas Vinocur in Politico.eu. Einerseits gibt es hier viele Dschihadisten, die einst in Algerien wüteten und sich in der Region niedergelassen haben, sagt ihm die Psychologin Amelie Boukhobza, die mit jugendlichen Dschihadisten arbeitet. Aber dann ist da auch die Figur des "Mohamed Merah aus Toulouse, der aus einem ähnlichen Sozialbauprojekt kommt wie der Attentäter von Nizza und zu einem Rollenmodell für viele verlorene Jugendliche wurde, nachdem er sieben Menschen in zwei Attacken in und außerhalb der Stadt ermordete. 'Wir stellten eine Veränderung im Verhalten der Leute fest', sagt Boukhobza. 'Sie schüttelten keine Frauenhände mehr und sehen ihnen nicht mehr in die Augen - die üblichen Zeichen." (In der Welt gibt die amerikanische Psychologin Anne Speckhard Ratschläge zum Umgang mit Extremisten.)

"Die Botschaft ist angekommen", schreibt Luc Rosenzweig in Le Causeur: "Niemand ist in Frankreich mehr vor einem solchen Anschlag sicher, der womöglich (die Untersuchung muss es zeigen) ohne ein Netz von Komplizen und ohne komplizierte Logisitik, wie sie noch für das Bataclan erforderlich war, geschah, begangen einfach von einem heimlich radikalisierten Kleinkriminellen, der nicht mal in Polizeidateien auftaucht. Hier ist die schützende Macht der Staatsgewalt begrenzt. Es scheint sogar, dass sie trotz aller Verstärkung an Menschen und Material überfordert ist."

Der Soziologe Wolfgang Streeck, linker Europaskeptiker, blickt in der taz voller Verachtung auf die Brüsseler Geschehnisse nach dem Brexit: "Abstimmen, immer wieder, bis das Ergebnis stimmt, ist eine Brüsseler Tradition. Kein Gedanke, was wohl passieren würde, wenn man tatsächlich ein zweites Referendum abhielte. Dafür Forderungen, Referenden über 'Europa' ganz abzuschaffen, als illegitime, weil zu riskante Willensäußerungen einer unterinformierten Bevölkerung. Und wenn das nicht gehen sollte, hilfsweise der Entzug des Wahlrechts für die Generation Rollator. Dazu die Remain-Demonstrationen der Londoner jeunesse dorée zur Bebilderung eines Europas der jugendlichen Herzen. Die Regierung wählt sich ihr Volk selber."

Jenes Polen, das heute regiert, begegnete ihm zuerst bei der Beerdigung Czesław Milosz', schreibt Stephan Wackwitz in der taz: "Ich erinnere mich aus diesen Tagen an ein Gespräch mit einer älteren Dame an einem jener Infostände. Ihre kaum verhohlene Verachtung meines Ausländerpolnisch. Ihr abirrender Blick. Ihr grauer Dutt, ihre weiße Rüschenbluse. Ihre offensichtliche Überzeugung, ich als Ausländer, gar als Deutscher, werde nie verstehen können, warum Miłosz' angebliches Polentum in Wirklichkeit ein Vehikel der Zersetzung der Nation und des wahren Katholizismus gewesen sei. Mein Verdacht, ihre unausgesprochene eigentliche Überzeugung bestehe darin, dass ich persönlich mitsamt meiner EU bald besser aus Polen verschwinden sollte."

Selbstverständlich sind die Europäer schuld (oder tragen zumindest gewaltige Mitschuld) an Entstehung und Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus, meint in der FAZ der amerikanische Politikwissenschaftler Jonathan Laurence in Antwort auf den niederländischen Soziologen Ruud Koopmans, der kürzlich darauf hinwies, dass nur wenige arabische Länder je kolonialisiert waren. Die Europäer hätten zu ihrem eigenen Schaden von jeher die Türken bekämpft und statt dessen auf die Saudis gesetzt, so Laurence weiter. Das reiche bis zur heutigen Kritik an türkischen Islamverbänden wie der Ditib: "Es ist richtig, von Ditib und allen sonstigen inländischen islamischen Vereinigungen zu verlangen, dass sie sich an die Gesetze und Vorschriften des Landes halten, aber es wäre kontraproduktiv, die Verbindungen im Bereich des Personals, des Gebets und der religiösen Unterweisung abzuschneiden. Wer das bezweifelt, sollte sich den aktuellen Aufstieg des Wahabismus in Bosnien-Hercegovina anschauen."
Archiv: Europa

Ideen

Christian Schröder resümiert im Tagesspiegel einen Artikel Peter Sloterdijks, der nicht online steht: "Als Stichwortgeber der AfD möchte er jedenfalls nicht gelten, wie er jetzt klargestellt hat. In einem Beitrag für das Handelsblatt nennt er die Alternative für Deutschland eine 'Unmöglichkeitspartei, der die Sympathien zahlloser Frustrierter zufliegen'. Sie mische sich 'ins gesamteuropäische Konzert der Unqualifizierten mit landeseigenen Tönen' ein."
Archiv: Ideen

Internet

Ben Tarnoff erzählt im Guardian, wie im Biergarten Rossotti (heute als Alpine Inn Beer Garden bekannt) im Silicon Valley ein Experiment abgehalten wurde, das für die Entstehung des Internets vor vierzig Jahren entscheidend war. Und er spricht mit Don Nielson vom Stanford Research Institute (SRI), der dieses Exeriment seinerzeit leitete: "Das Internet war eine kollektive Errungenschaft, beharrt Nielson. SRI war nur eine von vielen Organisationen, die daran arbeiteten. Darum ließen sie in Rossottis Biergarten keine Champagnerkorken knallen. Wer zu viel Ruhm für ein Team einfordert, verrät den kollektiven Geist des Networking Community."
Archiv: Internet

Wissenschaft

Im Ullstein-Blog Resonanzboden annonciert der Physiker Michael Büker das baldige Ende Raumsonde Cassini und ihres tapferen kleinen Landeroboters Huygens, die seit über zehn Jahren mutterseelenallein das Saturn-System umkreisen und erforschen. Oder vielleicht doch nicht ganz allein, und wegen dieser Möglichkeit müssen sie demnächst explodieren, damit sie nicht versehentlich mit Titan oder Enceladus kollidieren: "Es besteht nämlich die Möglichkeit, dass Mikroben von der Erde all die Jahre im Weltraum an Bord von Cassini überlebt haben und diese fremden Welten somit 'verseuchen' könnten. Obwohl Raumsonden stets möglichst steril und sauber zusammengebaut werden, haben Experimente auf der Internationalen Raumstation gezeigt, dass manche Kleinstlebewesen überraschend hartnäckig sind und sogar Jahre im All überleben."
Archiv: Wissenschaft
Stichwörter: Raumfahrt, Raumsonde Cassini

Medien

(Via turi2) Der Hessische Rundfunk macht bei Ausgaben von 576 Millionen Euro 54 Millionen Euro Verlust, berichtet das Handelsblatt: "Der Fehlbetrag sei vor allem deshalb so hoch, weil der Sender wegen der anhaltenden Niedrigzinspolitik immer mehr Geld für spätere Betriebsrenten zurücklegen muss."
Archiv: Medien

Gesellschaft

Sehr skeptisch äußert sich Heinrich Schmitz von den Kolumnisten über die Verschärfung des Sexualstrafrechts, die häufig an der Unmöglichkeit von Beweisen scheitern werde. In Situationen wie in Köln sei einfach mehr Polizei vonnöten: "Dann hätte man auch viele Täter sofort identifizieren und festnehmen können. Bei entsprechender Mehrausstattung der Justiz wären die ganz schnell verurteilt worden. So aber wird es, falls es überhaupt für Anklagen reicht, reihenweise Freisprüche hageln und die Opfer ein zweites Mal gedemütigt."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Sexualstrafrecht