Im Kino

Individualitäten, Maschinen, Geschwindigkeiten

Die Filmkolumne. Von Sebastian Markt
12.07.2023. Lola Quivoron inszeniert in ihrem ersten Spielfilm "Rodeo" den Glücksfall eines Thrillers: ein Genrehybrid zwischen Western, Biker-, Gang- und Heist-Film, der an Eigensinnigkeit seiner Hauptfigur, einer Motocrossfahrerin aus der Pariser Banlieue, in nichts nachsteht.


Julia, die sich lieber Inconnue, die Unbekannte, nennen lässt, lebt in einer Bewegung, die kein Ankommen kennt. Am freiesten auf dem Motorrad, sonst unter ständiger Anspannung einer Energie, die noch kein rechtes Objekt gefunden hat, an dem sie sich entladen könnte.

Julia, von Julie Ledru in einem beeindruckenden Schauspieldebut verkörpert, lebt in brüchiger Gemeinschaft mit ihrem Bruder und ihrer Mutter, das Domizil der Familie aus Guadalupe in einer Sozialwohnung in der Banlieue von Paris verlässt sie fast fluchtartig. Bei einem illegalen Event von Motocrossfahrern, das dem Film seinen Titel gibt, sucht sie mit ergaunertem Motorrad Anschluss, als einzige Frau weit und breit. Nur ein anderer Fahrer reagiert auf ihr ungestümes Talent nicht mit Ablehnung. Nachdem es im Zuge einer Polizeiaktion zu einem tragischen Unfall kommt, findet sie halbwegs Zugang zu der Gruppe, die, wie sie schnell merkt, mehr zusammenhält als der Enthusiasmus für Cross-Bitume.

Domino, der inhaftierte Anführer der Gang, der auch fürs Publikum unsichtbar bleibt, aber aus der Haft allerlei Fäden zu ziehen weiß, will ihr Talent als geschmeidige Con-Woman für eigene Zwecke nutzen. Außerdem soll sie Dominos Frau und jungen Sohn mit von ihm aufgetragenen Einkäufen versorgen. Die Frau des Gangsters, Ophélie (verkörpert von Drehbuch Co-Autorin Antonia Buresi), ist neben der Hauptfigur die einzige spürbare weibliche Präsenz im Universum des Films, und ein anziehender Gegensatz zu Julias fiebriger Energie: von keiner ganz anderen Sehnsucht beseelt, aber resigniert eingefügt in das, was sie für die unverrückbaren Umstände ihres Lebens hält.



Domino erlaubt seiner Frau nicht, Bargeld in der Wohnung zu haben. Geld, von dem Julia zuvor an anderer Stelle sagte, dass sie eigentlich keins brauche: wenn sie etwas benötigt, könne sie's ja klauen. Die Kräftefelder, durch die hindurch sich Julia einen Weg bahnen will, sind damit abgezirkelt: Eine Familie, in der sie nichts hält, und eine andere, von der sie kein Teil werden darf, eine Gang, deren Bande prekär sind, und in der sie ein Fremdkörper bleibt, ein Mann, der sie aus dem Off zu kontrollieren versucht.

Lola Quivoron inszeniert in ihrem ersten Spielfilm den Glücksfall eines kinetischen Thrillers: ein Genrehybrid zwischen Western, Biker-, Gang- und Heist-Film, der an Eigensinnigkeit seiner Hauptfigur in nichts nachsteht. Zumeist in nächtlichen Tönen gehalten, die nur manchmal von feurigen Kontrasten aufgehellt werden, in zu engen Wohnungen, die kein Tageslicht abbekommen, oder gegen es abgedunkelt sind, auf abgelegenen Straßen und Hinterhöfen, in schmutzigen Werkstätten und nur selten, aber dann umso sinnfälliger, im Offenen. Der Film fängt die Fahrten und Stunts des Motorraduniversums nicht mit ausgestellter Geste ein, sondern mit derselben konzentrierten und volatilen Kraft, mit der Julia selbst durchs Leben geht; ein Kino, das seine Actionsequenzen nicht gegen handlungsgetriebene Sequenzen abgrenzt, sondern einen Übergang der Energien zwischen Individualitäten, Maschinen und Geschwindigkeiten webt.
 
Zum Ende des Films konvergieren die Linien in einem großen Clou: Julia ersinnt einen waghalsigen Überfall, bei dem Motorräder aus einem fahrenden Transporter erbeutet werden sollen. Die Agenden der Beteiligten sind freilich nicht deckungsgleich. Das Finale ist ein formidables Action-Set-Piece, das einen schönen Gegenpol zur vom Produktionswert-Überschuss getriebenen Formelhaftigkeit eines guten Teils des aktuellen Franchise-Actionskinos bildet; und es setzt der Figur, der sich der Film verschrieben hat, einen flammenden Schlusspunkt, mit dem sie sich aus der Geschichte verabschiedet. Auch aus ihrer eigenen Geschichte, gegen deren Fesseln sie vom ersten Bild an aufbegehrt hat.

Sebastian Markt

Rodeo - Frankreich 2022 - Regie: Lola Quivoron - Darsteller: Julie Ledru, Yannis Lafki, Antonia Buresi, Cody Schroeder, Louis Sotton - Laufzeit: 110 Minuten.