Mord und Ratschlag

Nachsicht mit den Monstern

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
27.08.2018. Tom Franklin erzählt in seinem tiefgründigen Roman "Krumme Type, krumme Type" von verratener Freundschaft, Einsamkeit und Rassismus in Mississippi. In Mercedes Rosendes Roman "Krokodilsträne" gerät Uruguays Upperclass auf Abwege.
Cover: Krumme Type, krumme TypeLarry Ott ist einer dieser schrägen Typen, von denen es in Mississippi nur so wimmelt. Er lebt in der 500-Selen-Gemeinde Chabot, allein im Haus seiner verstorbenen Eltern. Von seinem Vater hat er die Autowerkstatt übernommen, von seiner Mutter die nach den First Ladies der USA benannten Hühner: Eleanor Roosevelt, Rosalynn Carter, Barbara Bush. Schon als Junge war er unbeliebt, über ihn lachten die Weißen wie die Schwarzen, für ein bisschen Aufmerksamkeit ließ sich Larry immer wieder zu den dümmsten und gemeinsten Aktionen verleiten. Und während sein Vater alles tat, um aus seinem Sohn die Nichtsnutzigkeit herauszuprügeln, betete seine Mutter jeden Abend darum, dass der liebe Gott Larrys Stottern heilen und ihm einen Freund schicken möge.

Jetzt nennen sie ihn in Chabot nur noch Scary Larry. Keiner redet mit ihm, niemand lässt von ihm sein Autor reparieren. Alle sind davon überzeugt, dass er die Schuld trägt am spurlosen Verschwinden der jungen Cindy Walker vor fünfundzwanzig Jahren. Als jetzt auch Tina Rutherford verschwindet, die Tochter des Sägewerkbesitzers, kocht der Zorn über. Larry wird von jemanden angegriffen, der sich hinter einer Maske verbirgt: "Jeder weiß, was Du getan hast." Und noch in dem Moment, da er niedergeschossen wird, empfindet der Scary Larry Nachsicht. Weil er weiß, dass alle Monster missverstanden werden.

Constable Silas Jones bewahrt Larry vor dem Tod, doch dass er mit den Ermittlungen betraut wird, behagt ihm nicht. Er verabscheut diesen Menschen seit seiner eigenen Kindheit, seit er mit seiner Mutter aus Chicago hierherziehen musste. Ihr Lebensgefährte hatte Ärger mit der Polizei, sie mussten fliehen und kamen ohne einen Cent in der Tasche zurück in ihre alte Heimat Chabot. Dort fanden sie Unterschlupf in einer Waldhütte, die Larrys Vater gehörte. Mit Larry verbinden Silas beschämende Erinnerungen an eine verratene Freundschaft. Und so unwillig Silas ermittelt, so sehr sperrt er sich auch dagegen die Ereignisse zu offenbaren, die den weißen Weirdo und den schwarzen Polizisten miteinander verbinden.

Doch in den Untaten der Vergangenheit liegt natürlich auch der Schlüssel zu den Verbrechen der Gegenwart, und so legt Tom Franklin Schicht für Schicht und in wechselnder Perspektive die Geschichte dieser beiden Mavericks frei, die, anstatt sich zusammenzutun, einander das Leben noch schwerer machen. Die Morde an den beiden Frauen geraten dabei in den Hintergrund. Im Zentrum dieser Ermittlung stehen die Urteile, die eine Gesellschaft fällt: "Es ist die Kälte, die Bäume zerbrechen lässt. Die jungen, die alten."

Im amerikanischen Original erschien Tom Franklins "Krumme Type, Krumme Type" bereits 2010, ihm Jahr darauf verlieh ihm die britische Crime Writers' Association den Golden Dagger Award. Der Titel "Crooked Letter, Crooked Letter" bezieht sich auf den Sprechgesang, mit dem Schulkinder lernen, Mississippi zu buchstabieren: M-I- Crooked Letter, Crooked Letter -I- Crooked Letter, Crooked Letter -I- Humpback, Humpback -I. Während deutsche Schulbuchverlage den Roman längst in ihr Programm aufgenommen, blieb er von Publikumsverlagen bisher ignoriert. Umso besser, möchte man sagen, so erscheint er in der genialischen Übersetzung von Nikolaus Stingl beim Pulp Master Verlag, der im vorigen Jahr auch schon Franklins grandios-monströse Südstaaten-Groteske "Smonk" herausbrachte.

In "Krumme Type, krumme Type" zeichnet Franklin ein unfassbar trauriges Bild des amerikanischen Südens, das niemand für übertrieben halten kann, der jemals durch Mississippi gereist ist. In Franklins Chabot leben die Schwarzen abgeschieden in der Dump Road, aber übler ist es in der White Trash Alley: Ungeheuerlich sind hier die Verlorenheit und die Rohheit der Menschen, die in ihren Trailerparks umgeben von Hunden und Quads ihre Existenz fristen. Freundlichkeit und Sicherheitsgurte werden als weibisch verachtet. Je fieser die Witze, umso lauter wird gelacht. Ordinärer ist nur noch die Sexualität, sie besteht allein aus Fummeln und Reinstecken. Übergriffe, Demütigungen und Gewalt sind eher die Regel als die Ausnahme. Und wer nicht weiter weiß, behilft sich mit einer Beleidigung der Schwarzen. Der rassistische Beleidigung ist die Waffe, auf die noch die Schwächsten im Angesicht der Niederlage zugreifen können.

Wenn ein schwarzer Junge mit einem weißen Mädchen die Straße entlanggeht, bleiben die Autos stehen: "Alles in Ordnung, Mädchen? Belästigt dich der Junge?" Auch Silas musste sich in seiner Jugend von seiner Mutter Vorhaltungen machen lassen. Er müsse mit dem weißen Mädchen aufhören: "War ihr miteinander treibt, wäre schon in Chicago gefährlich genug, aber du bist in Mississippi. Emmet Till, sagte sie, war aus Chicago." Emmet Till war jener Junge, der aufs Brutalste zusammengeschlagen wurde, weil er angeblich eine weiße Frau belästigt haben soll. Die Malerin Dana Schutz musste sich von Aktivisten schwere Vorwürfe gefallen lassen, weil sie es gewagt hatte, als Weiße diese Ikone schwarzen Schmerzes zu malen. Wer weiß, was Tom Franklin zu hören bekommen hätte, wenn bei Erscheinen seines Romans in den USA die Debatte um kulturelle Aneignung bereits Fahrt aufgenommen hätte! Denn obwohl Silas eindeutig derjenige ist, der aus dem Norden ein bisschen Zivilisation mitbringt und anderen in der Not auch mal beisteht, wird er sich ebenfalls schuldig machen.

"Krumme Type, Krumme Type" erzählt bewegend von persönlichen Niederlagen, verpassten Gelegenheiten und uneingestandener Schuld. Es ist ein großartiger Roman über fehlenden Gemeinsinn und mangelnden Mut, über Einsamkeit und Rassismus, der bei Franklin die historische und politische Tiefenstruktur des Südens bildet, in der jedoch immer der einzelne Mensch agiert. Der Roman ist unendlich traurig, aber nicht noir. Wenn er seine LeserInnen nicht mit der Möglichkeit von Versöhnung entließe, wäre er eine kaum zu verkraftende Tragödie.

Tom Franklin: Krumme Type, krumme Type. Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Pulp Master. Berlin 2018, 402 Seiten, kartoniert, 15,80 Euro. 

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Cover: KrokodilstränenÜber eine neue Stimmen aus Lateinamerika, besonders eine weibliche, kann man sich nicht genug freuen. Gerade einmal zwei Autorinnen haben sich auf dem deutschen Buchmarkt profilieren können: Die Brasilianerin Patricia Melo, die mit ihren toughen Polit-Thrillern die Pathologien ihres Landes grell ausleuchtet, und die Argentinierin Claudio Pineiro, die versiert die unterhaltenden Sphären des Genres bedient. Ihr aktueller Roman "Der Privatsekretär" erzählt zwar eine Geschichte von Macht und Gier im Politikbetrieb, ohne dabei jedoch politisch zu werden und ohne, wie man so sagt, die Liebe zu kurz kommen zu lassen. Da ist also noch Platz.

Der Unionsverlag hat nun nach Pineiro auch die Urugayerin Mercedes Rosende entdeckt. Rosende lebt als Anwältin und Schriftstellerin in Montevideo und legt mit "Krokodilstränen" eine vergnügliche Gaunerkomödie vor, die beherzt Uruguays Unterwelt mit der unter Ennui leidenden Upperclass kurzschließt: Germán, der Unglücksrabe, ist kein schlechter Kerl, aber auch nicht die hellste Birne, die im Knast von Montevideo leuchtet: "Hier drin ist die Welt noch ein bisschen beschissener", erkennt er dennoch, und in Stunden der Melancholie ahnt er auch: "Hat sich die schwarze Gefängnisnacht erst einmal in einem eingenistet, kann die Sonne noch so hell scheinen, das schüttelt man nicht einfach so ab wie Staub."

Er sitzt im Gefängnis, weil er sich in die Entführung eines millionenschweren Unternehmers hat verwickeln lassen. Aber da selbst sein Opfer und dessen Ehefrau Mitleid mit ihm zeigten, wird er bald wieder entlassen. Leider gerät er prompt in die Fänge des super kriminellen Psychopathen Ricardo, genannt El Roto, der Kaputte, der im Verbund mit dem schmierigen Anwalt Antinucci plant, einen Geldtransporter zu überfallen.

Und dann gibt es da noch die bemitleidenswerte Úrsula, die schon als Kind verängstigt und immer hungrig war, während ihre Schwester vor Schönheit und Intelligenz nur so strotzte. Ihr hartherziger Vater, der auf den Glanz seiner Schuhe mehr achtete als auf das Glück seiner Töchter, pflegte die kleine Úrsula tagelang in ihrem Zimmer einzusperren, um sie für Fressattacken zu betrafen. Jetzt lebt sie allein, kräftig und schwach zugleich, in der großen, von ihrem Vater geerbten Wohnung und mit dem geerbten Geld ihrer Tante und wartet weiter auf die große Chance im Leben.

Die Gelegenheit kommt, aber aus Versehen. Denn sie ist die falsche Úrsula Lopez. Sie ist trotz gleichen Namens nicht die Gattin des entführten Millionärs, der alle zu Füßen liegen. Natürlich nicht. Die wäre ja jung, schön und schlank. Nur den treuherzigen Germán stört das nicht, er sieht in Úrsula nur verschwenderische Üppigkeit und Tatkraft. Und da Gefallen nicht nur schön macht, sondern auch zupackend, wächst Úrsula über sich hinaus: "Auf geht's Germán, die Welt ist nichts für Angsthasen. Den Lauen aber wird Gott ausspeien."

Mit bösem Witz und Sinn fürs Skurrile erzählt Mercedes Rosende dieses Schurkenstück, auch wenn sie bestürzend leichtfertig mit dem Leben der beteiligten Personen umgeht. Seinen Pfiff verdankt der Roman den intelligenten Twists und den vielen falschen Fährten, auf die Rosende ihre Leser führt - vor allem diejenigen, die nicht genug Interesse für die Werke der uruguayischen Nationaldichter aufbringen.

Mercedes Rosende: Krokodilstränen. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, Zürich 2018, kartoniert, 18 Euro.