Im Kino

Nicht der erste Mensch

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Friederike Horstmann
31.05.2019. Ein neues Schwesterchen? Der kleine Kun ist nicht begeistert und flüchtet in eine Fantasiewelt: Mamoru Hosodas Anime "Mirai" erzählt von Familie, Eifersucht und guter Architektur. Erinnerungspolitik in Rumänien: Radu Jude probt für seinen Film "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen" ein Reenactment des Massakers rumänischer Soldaten an den Juden in Odessa.


Kun ist eifersüchtig. Denn seitdem seine Mutter mit dem neugeborenen Schwesterchen Mirai nach Hause gekommen ist, gilt ihm nicht mehr alle Aufmerksamkeit. In "Mirai" beackert Regisseur Mamoru Hosoda ein ähnliches Feld wie schon in seinen vorherigen Werken: Wie in "Das Mädchen, das durch die Zeit sprang" lässt er seine Figuren buchstäblich durch die Zeit springen, ganz ähnlich wie in "Der Junge und das Biest" geht es um Familie, um das Heranwachsen. Und in einer Szene, die man wirklich sehen muss - jeder Versuch zu beschreiben, wie Kun Schlappohren und ein wedelndes Schwänzchen aus dem Körper sprießen, ist zum Scheitern verurteilt ist -, ist die Ähnlichkeit zu Yuki und Ame, den Geschwistern aus "Die Wolfskinder", nicht zu übersehen. Jedoch verbindet Hosoda diese Themen und Motive in "Mirai" so geschickt wie nie zuvor mit narrativer Einfachheit und formaler Komplexität.

Je später eine Familie die traditionellen, die Ahnen repräsentierenden Puppen nach einem Feiertag vom Altar räumt, desto später wird die Tochter des Hauses heiraten. Für jeden Tag ein versäumtes Jahr. So besagt es ein alter japanischer Aberglaube. Und so materialisiert sich vor Kuns ungläubigen Augen Mirai in ihrer zukünftigen Gestalt als Teenager, um das Problem selbst in die Hand zu nehmen. In einer eindrücklichen Schlüsselszene des Films versucht sie gemeinsam mit ihrem Bruder und dem antropomorphisierten Familienhund die Puppen zu entfernen, ohne dabei vom Vater gesehen werden. Langsam beginnt man zu begreifen, wie weit "Mirai" über die Erzählung vom Alltag einer Mittelstandsfamilie hinausweist. Für diese winzige, für den Plot scheinbar bedeutungslose Szene dehnt Hosoda die Zeit schier endlos, spielt wie in dutzenden Variationen eines musikalischen Themas die zahllosen Möglichkeiten durch, wie die Kinder den ihnen zur Verfügung stehenden Raum auszunutzen und auszufüllen vermögen.

Kuns Vater ist ein Architekt, der seiner Familie inmitten der Hafenstadt Yokohama ein ungewöhnliches Haus gebaut hat. Mehrere offene, durch Treppen statt Wände miteinander verbundene Ebenen umschließen einen Innenhof im Zentrum und führen so die traditionelle japanische Architektur auf moderne Weise fort. Kuns Spielzeug, die überall verstreuten Bauklötze und Modellbahnbausätze, über die er umständlich klettern muss, wenn er vom einen Zimmer ins Andere gelangen will, wirken darin wie ein weiteres verbindendes Element. Das Haus wird selbst zu einem Spielplatz, seine Modularität - ständig sieht man im Hintergrund übereinandergestapelte Kästen, Möbel platzsparend ineinander geschoben, Treppen, die zugleich als Regale dienen - bietet erst die Voraussetzung, um daraus die bewegungsreichen Szenen des Films, aber auch zentrale Handlungselemente zu entwickeln: Die Figuren in der Puppenszene, die auf begrenztem Raum immer neue Verstecke finden müssen, Kun, für den der Innenhof des Hauses ein Ort des unkontrollierten Spiels und der Tagträumerei ist, der der Fantasie sogar noch mehr Freiraum lässt als sein Spielzeug. In diesem Momenten erscheint der Film wie ein Plädoyer für das Recht, mit guter Architektur und gutem Design zu leben.



In Kuns Fantasie wird der Innenhof seines Zuhauses zu einer verwunschenen Ruine, zu einem verwilderten Garten, zum Dschungel, zum Gebirgstal, zu einem flirrenden Fischschwarm und dort erscheint ihm auch seine Schwester in ihrer zukünftigen Gestalt. Zuerst sind diese Träume noch ein kurzes Abschweifen aus seinem frustrierenden Alltag mit dem neuen Baby, der mangelnden Aufmerksamkeit und ständigen Auseinandersetzungen mit seinen Eltern. Später nehmen sie immer häufiger Besitz von Kun und damit vom ganzen Film: Ein altes Fotoalbum katapultiert ihn in Episoden aus seiner Familiengeschichte hinein, er sieht in seine eigene Zukunft und alles kulminiert schließlich in einer fantastischen Sequenz, die das Melodramatische, das Horrende, das Aufregende, das Angsteinflößende kindlicher (Alp)Träume aufs Schönste nachempfindet.

Wenn dekonstruktivistische Architekten solche sind, die strukturelle Problemstellen von Gebäuden sichtbar machen, indem sie versuchen, die Strukturen aufzulösen und umzusortieren, dann ist Mamoru Hosoda ein dekonstruktivistischer Filmemacher auf formaler wie auf thematischer Ebene. Immer wieder exerziert er durch, wann es in der Familie kracht, wie sich die Situationen aufschaukeln, lässt die Dingwelt die Emotionen der Figuren spiegeln, etwa wenn hinter dem vom Haushalt völlig überforderten Vater die Milch überkocht. Wenn die Figuren irgendwann das Durcheinander beseitigen, aufräumen und die verstreuten Gegenstände an ihren Platz zurückstellen, ist der Ausgangszustand dieses ewigen Kreislaufs aus Ordnung und Chaos ebenso wiederhergestellt wie der Seelenfrieden Kuns, der beim Durchpflügen seiner eigenen Familiengeschichte begreift, dass er nicht der erste Mensch auf der Welt mit seinen Problemen ist. Während man vor der Leinwand versteht, dass jeder noch so unscheinbaren Geschichte hunderte andere nicht erzählte, häufig nicht einmal erinnerte Geschichten vorausgehen.

Katrin Doerksen

Mirai - Das Mädchen aus der Zukunft - Japan 2018 - Regie: Mamoru Hosoda - Laufzeit: 98 Minuten.

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"Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen", geht zurück auf einen 1941 geäußerten Satz Ion Antonescus, der während des Zweiten Weltkriegs "Staatsführer" Rumäniens war. Die unter ihm in Kraft getretene antisemitische Gesetzgebung veranlasste ethnische Säuberungen, Todesmärsche und Deportationen. Insgesamt wurden dabei bis zu 300.000 rumänische Juden getötet. Allein nach der Einnahme von Odessa im Oktober 1941 fielen in nur wenigen Tagen zwischen 25.000 und 35.000 Juden einem Massaker zum Opfer. Radu Judes Film setzt sich mit der oft marginalisierten, beschwiegenen oder gar geleugneten Beteiligung Rumäniens am Holocaust auseinander.

"Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen" beginnt mit historischen Filmaufnahmen der Befreiung Odessas. Rot flimmern die Zahlen des Timecodes am unteren Bildrand. In meist statischen Einstellungen werden Ansammlungen von Menschen in Schwarzweiß gezeigt. Auf der Tonspur erklingt triumphal-beschwingte Musik und ein kommentierendes Voice-Over: "Nach 24 Jahren des roten Terrors sind die Menschen endlich wieder frei. Sie freuen sich sichtlich. Die tapferen Soldaten des Kreuzes hissen über Odessa die rumänische Flagge, für die sie gekämpft und gesiegt haben." Die Zeit der Handlung und die heroisch-nationale Stimmung sind gesetzt. Das Endband des Filmstreifens schließt mit einem Blankfilm, auf dem der Titel von Radu Judes Film eingeblendet wird.

Danach ein Sprung in die Gegenwart, ins Militärmuseum von Bukarest. Die Kamera driftet über Tonangel und Mikrophon - eine Filmklappe wird in Großaufnahme eingeblendet. Vor einer mit Gewehren bestückten Vitrine betritt die Schauspielerin Ioana Jacob das Bild und schlüpft in ihre filmische Rolle: Mit direktem Blick in die Kamera markiert Jacob Differenzen zu der von ihr im Film dargestellten Theaterregisseurin Mariana Marin und benennt weitere Schauspielernamen. Was zunächst wie ein selbstreflexiver Schabernack wirkt, ist eine gezielte Destabilisierung, die Kamera wird auffällig und erzeugt keine Realismuseffekte. Stattdessen wird auf den Produktionsprozess des Films verwiesen.

Mit ihrem radikalen Theaterprojekt über die rumänische Beteiligung am Holocaust stößt Mariana Marin auf vielerlei Widerstände: Einige der Komparsen beleidigen sie sexistisch, beschuldigen sie anti-rumänischer Umtriebe und äußern rassistisches Ressentiment, dass sie als Darsteller von Juden nicht mit "Zigeunern" gemischt werden wollen. Der Kulturbeauftragte Movila droht, das von der Stadt finanzierte Projekt zu kippen, falls die Regisseurin nicht auf die Darstellung der rumänischen Beteiligung am Massaker von Odessa verzichte. Hinsichtlich der Fraternisierung von Wehrmacht und rumänischer Armee äußert er allerdings keinerlei Bedenken. Zwischen Panzerexponaten des Militärmuseums streiten sich Marin und Movila über Herstellung und Darstellung von Geschichte. In ihrem mit mannigfaltigen Referenzen und Zitaten überfrachteten Schlagabtausch geht es auch um Gedächtnispolitik und geschichtsrelativistische Vergleich mit anderen Genoziden. Movila konstatiert einen "Darwinismus der Massaker", nur das schlimmste würde sich im Gedächtnis festsetzen.



Zu den abschweifenden Diskussionen trägt der Film unterschiedliche Zeitdokumente zusammen: Tonbandprotokolle von Gewehrschüssen, antisemitische Plakate, dokumentarisches Material von Kriegsverbrecherprozessen, Fotografien, Reportagen, Bücher. Einerseits gelingt es hierdurch, den Blick auf die Geschichte aus unterschiedlichsten Perspektiven zu öffnen. Andererseits steht im Mittelpunkt immer wieder genau das, wodurch leicht hindurchgesehen wird: das Medium, der Signifikant, der Träger. Die unhintergehbare Materialität von Dokumenten rückt in den Fokus. Archivbilder werden geradezu archäologisch über den Bildschirm eines Schneidetisches und als materielle Objekte vermittelt. Nach und nach erschließt der Film mediale Schichten und Spuren.

Als Diskursgeograf integriert Regisseur Jude lange, laut vorgelesene Passagen der schonungslosen Kriegsbeschreibungen des russischen Poeten Isaac Babel, zitiert aus Goebbels Tagebuch, zeigt die den Massenmord an Juden dokumentierende Erschießungsszene aus Libau und Ausschnitte aus Sergiu Nicolaescus umstrittenen Film "Oglinda" (1994) - eine verklärende Hommage an den rumänischen Militärdiktator, die Antonescu als unschuldiges Opfer widriger Umstände und nationalen Märtyrer stilisiert. Harsch kommentiert Marin die selektive Erinnerungspolitik. Nach dem Ende des Ceaușescu-Regimes 1989 entstand eine steigende Verehrung Antonescus: Seine Anhänger strebten sogar dessen juristische Rehabilitierung an.

Bei der finalen Theateraufführung soll das Massaker von Odessa in Form eines Reenactments ins kollektive Bewusstsein (zurück)geholt werden: Auf einem Platz mitten in Bukarest marschieren Wehrmacht, Rote Armee und rumänische Truppen, liefern sich ein Feuergefecht und vollziehen den Massenmord. Das Publikum begrüßt die Soldaten mit Applaus, intoniert mit der Eisernen Garde die Nationalhymne und bejubelt sogar die Rede Antonescus zur Vernichtung der Juden. Was als erinnerungspolitische Sensibilisierung beabsichtigt war, entgleitet zu identifikatorischer Unterhaltung. Als wäre es die Liveübertragung eines Fernsehberichtes filmt Jude das Geschehen absichtsvoll in schäbiger Bildqualität und mit disruptiven Zoombewegungen. Aufgrund dieses dokumentarischen Effekts ist man sich nicht sicher, ob das Publikum neben den Statisten nicht auch noch aus Passanten besteht.

"Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen" handelt von einem Unverfugten der Geschichte. Erzählt wird Geschichte von ihren Rändern her, über unzählige Fragmente. Dabei ist der Film mal schockierend, mal grotesk und mal komisch. Immer wieder gibt es Schnitte und Brüche, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dokumentarischem Material und manierierten Nachstellungen, zwischen Schwarzweiß und Farbe. Über diese Schnitte und Brüche fügt sich ein kaleidoskophaftes Geschichtsbild zusammen.

Friederike Horstmann

Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen - Rumänien, Deutschland, Frankreich, Bulgarien, Tschechien 2018 - Regie: Radu Jude - Darsteller: Ioana Iacob, Alex Bogdan, Alexandru Dabija, Ion Rizea, Claudia Ieremia, Ion Arcudeanu, Dana Bunescu, Eduard Cirlan, Bogdan Cotlet, Larisa Crunteanu, Liliana Ghita, Ilinca Harnut, Rares Hontzu, Ilinca Manolache - Laufzeit: 140 Minuten.