Vom Nachttisch geräumt

Das Buch eines Liebenden

Von Arno Widmann
03.06.2015. Die Angst vor dem Anderen löst sich nur, wenn man ihn berührt: Das zeigt der Fotograf Jean-Marie Ghislain in seinem Band "Berührende Schönheit".
In seinem ebenfalls im Sandmann Verlag erschienenen Buch "Schönheit besiegt Angst" erzählt der Fotograf Jean-Marie Ghislain, wie er, um seine Angst zu besiegen, anfing zu den Haien, ja mit ihnen zu tauchen. Der Band "Berührende Schönheit" zeigt die Fotos, die er von Haien gemacht hat. Ohne Blitz, ohne künstliches Licht. Es sind meist schwarz-weiß Aufnahmen, also bei den Lichtverhältnissen im Wasser eher Schattierungen in Dunkel- und Hellgrau. Die Schönheit kann ich nicht sehen. Vielleicht ist meine Angst zu groß. Ich ahne sie allerdings. Als eine der Bewegung. Im Film würde sie mir wahrscheinlich deutlich. Aber der Anblick eines riesigen leicht geöffneten Haimauls, das auf mich zu schwimmt, ein seitwärts sitzendes wie schielend blickendes Auge - ich sehe keine Schönheit darin.



Allerdings meldet sich kein Fluchtimpuls. Nicht, weil ich hier in einem Sessel sitze und, wenn ich das Buch beiseite lege, auf den Reichstag blicke, sondern weil ich weiß, dass Flucht sinnlos ist. Ich habe keine Chance. Selbst wenn ich so durchtrainiert wäre wie der Fotograf es ist und seine gewaltigen Flossen an den Füßen hätte. Der Leser dieser Zeilen merkt: Ghislains Aufnahmen haben den Schreiber gefangen genommen. Aber es ist nicht ihre Schönheit. Es ist ihre Fremdartigkeit. Ich sehe die Aufnahmen und habe das Gefühl: Das ist eine andere Welt. So sehr anders, dass ich nichts sehe als das Andere. Es ist der Reiz des Exotischen. Er besteht darin, einem klarzumachen: Es ginge auch anders. Und gleichzeitig merkt man, dass es nicht anders geht. Zu fremd ist das alles. Aber wir wissen das natürlich besser.

Es gibt 500 Hai-Arten. Jede ist anders. Aber sie leben alle im Wasser. Sie sind soziale Wesen. Sie scheinen individuelle Vorlieben für einander zu haben. Das alles habe ich gelesen. Aber es hilft mir nichts, wenn ich sie sehe. Hier in diesem Buch nicht und erst recht nicht draußen im Wasser. Ich habe auch gelesen, dass es Haiarten gibt, die einen warnen. Es würde also durchaus helfen, einfach wegzuschwimmen. Aber mehr hilft natürlich, sich ihnen behutsam zu nähern, sich "anzufreunden" mit ihnen. Das ist der Weg, den Ghislain gegangen ist. Auf dem Umschlag des Buches sieht man einen Haikopf im Profil und auf ihm liegt flach die Hand Ghislains. Man hat den Eindruck, der Hai habe das Auge geschlossen und genieße die Berührung durch die Hand, als würde er gestreichelt.



Das lässt mir die Sache noch fremder erscheinen. Schon bei Hunden hat die artenübergreifende Interaktion von Herr und Hund etwas Bestürzendes. Sie zeigt uns, dass wir nicht wirklich ganz anders sind als die anderen Tiere. Sonst gäbe es keine Möglichkeit zur Verständigung. Andererseits: fast zwanzigtausend Jahre zusammenzuleben - ohne wenigstens rudimentäre Kommunikation - das wäre schon sehr eigenartig. Man darf das Wort hier auch einmal wörtlich nehmen. Ghislain zeigt mit seinen Fotos, dass Berührungen von Mensch und Hai möglich sind. Berührungen, die nichts mit der Dialektik von Angriff und Verteidigung zu tun haben, sondern mit Neugierde und womöglich auch mit einem gegenseitigen Verlangen zu tun haben. Ein Verlangen nach Nähe. Oder doch wenigstens das Zulassen davon. Das klingt esoterisch, mystisch. Aber nur, weil wir sofort abschweifen, weil wir die Worte aufladen. Nähe heißt einfach Nähe, Verzicht auf die Einhaltung einer Respektdistanz.

Wie kommt es dazu? Bei Ghislain und wie beim Hai? Und wie kann es gleichzeitig passieren? Wir wissen das ja nicht einmal beim Umgang mit Artgenossen. Wann darf ich die Frau, die ich gerade kennengelernt habe, am Arm fassen? Wann sie in den Arm nehmen? Wann sie küssen? Wann darf ich das mit der Frau, die ich liebe, in einem Streit? Ghislain zeigt uns, dass, wenn das mit Haien geht, es auch mit der Frau gehen sollte, mit der wir gerade verkracht sind. Das ist das kleine Stück Hoffnung, das man mitnimmt, wenn man diesen Band an einem trüben Morgen durchgesehen hat. So vermessen, den Weg Ghislains gehen zu können, ist man nicht, aber vielleicht schafft man es die Angst zu bezwingen, die einen darin hindert, eine Freundin anzurufen oder den Brief des Finanzamtes zu öffnen.

Jean-Marie Ghislain: Berührende Schönheit, Elisabeth Sandmann Verlag, München 2014, 192 Seiten, 120 Abbildungen, 48 Euro.