Im Kino

Vorübergehende Kräuselungen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
26.03.2020. Heute zwei Filme zum Streamen: Das nationale Filmarchiv von Thailand hat aus aktuellem Anlass eine sehenswerte Auswahl aus der eigenen Sammlung online gestellt, darunter Thavi Na Bangchangs Filmklassiker von 1954, "Santi-Vina": eine Liebesgeschichte und ein buddhistisches Höhlengleichnis. Naoko Yamadas "A Silent Voice" ist ein umwerfend schönes Anime über Dynamiken jugendlicher Sozialisation und uneingestandene Gefühle.


"Ich habe Dich früher gehasst," eröffnet eine Schülerin einer anderen während einer gemeinsamen Riesenradfahrt, "und ich hasse Dich immer noch. Du hasst mich ja auch. Aber das ist ok. Lass und darin zusammenkommen, dass wir uns beide gegenseitig hassen." "Nein," sagt die andere, "ich hasse Dich nicht. Ich hasse mich selbst."

Das Gespräch der beiden Feindinnen, die sich nicht einmal auf die Bedingungen ihrer Feindschaft einigen können, bringt erst einmal keine von beiden weiter, verdeutlicht aber das Problem, mit dem sich alle Figuren in Naoko Yamadas Animationsfilm "A Silent Voice" auf die eine oder andere Weise herumschlagen: Verhältnisse zu anderen Menschen sind immer auch Selbstverhältnisse. Unser Blick auf die und unser Umgang mit den Menschen, die uns - ganz egal unter welchen Vorzeichen - nahe sind, ist nicht zu trennen von unserem Blick auf und unserem Umgang mit uns selbst. So entspringen etwas die Aggressionen, mit denen Shōya, die Hauptfigur des Films, die gehörlose Shōko, eine Mitschülerin, traktiert, einer Mischung aus identifikatorischer Neugierde und Selbsthass: Er erkennt sich in der hilflosen Außenseiterin selbst wieder und bekämpft dieses Erkennen, indem er sie demütigt.

Von Anfang an ist das An- und Abstoßungsverhältnis zwischen Shōya, dem schlaksigen Jungen mit dem ungestümen Wuschelhaar und Shōko, dem blassen, im Gegenlicht fast von Sonnenstrahlen verschlungenen Mädchen, eingelassen in eine komplex entworfene Alltagswelt. Die ersten Szenen spielen während der Grundschulzeit: Shōko ist die Neue in der Klasse, und sie wird nicht nur von Shōya, sondern auch vom Rest der Klassengemeinschaft zurückgewiesen. Nach gut 20 Minuten gibt es einen Zeitsprung: Jetzt sind wir in der Oberstufe, die einstigen Sitznachbarn sind in alle Winde, beziehungsweise verschiedene Schulen verstreut. Shōya ist selbst zum Außenseiter geworden. Nach dem Unterricht lernt er Gebärdensprache und versucht, wieder Kontakt mit Shōko aufzunehmen.



Im Zentrum von "A Silent Voice" steht freilich nicht die Bekehrung eines Bullys als individueller Bildungsroman. Vielmehr geht es um eine Vielheit von Dynamiken jugendlicher Sozialisation, die sich nicht so einfach auf einen moralischen Nenner bringen lassen. Innigste Freundschaften zerbrechen an Missverständnissen und auch die perfidesten Machtspiele haben oft weniger mit Bosheit zu tun als mit uneingestandenen Gefühlen. In der Entstehung und dem Zerfallen von Cliquen findet der Film seine epische Dimension und auch eine spezifische Melancholie: Der enge Zusammenhang der Grundschulzeit, als die ganze Welt, im Guten wie im Schlechten, in den Grenzen eines Klassenzimmers darstellbar war, ist auf immer verloren. Der sozialen Entropie des nahenden Erwachsenenlebens kann sich auf die Dauer niemand entziehen, die neuen Gemeinschaften, die entstehen, sind brüchiger, von Anfang an mit zahllosen Vorbehalten versehen.

Yamadas Formprinzip greift das entropische Moment auf. Es richtet sich weniger am Ideal des ganzen, mit sich selbst identischen Menschen aus als an einer beständigen Zersplitterung und Dezentrierung. Köpfe kleben eingeengt am Bildrand, während um sie herum toter Raum sich erstreckt; Hände, die sich mal in stummer Verzweiflung zur Faust ballen, mal den tröstenden Kontakt zu Mitmenschen suchen, nur um doch im letzten Moment zurückgezogen zu werden, sind meist expressiver als Gesichter; Füße in Turnschuhen und die zugehörigen rastlosen Beine fast schon leitmotivisch allgegenwärtig. Eine konstruktivistische Montageästhetik ist das im Kern, die teilweise ins Abstrakte ausschlägt (so etwa im wiederkehrenden Motiv expandierender Kreise) und geschickt verwebt wird mit fantasmagorischen Traum- und Angstbildern.

Nicht zuletzt sieht das alles einfach nur umwerfend schön aus. Wie einige andere neuere japanische Trickfilme ist "A Silent Voice" in einer Mischtechnik aus den klassischen, zeichentischbasierten Verfahrensweisen und Computeranimation entstanden. Die Figuren und auch die meisten statischen Aspekte ihrer Umgebung sind von Hand gezeichnet, während einige Hintergründe, Lichtreflexe und dynamische Objekte am Rechner modelliert wurden. Der Film ist so fein verarbeitet, dass man die Übergänge selten eindeutig ausmachen kann. Aber die Mediendifferenz zieht eine innere Unruhe ins Bild ein, die gut passt zu den Figuren des Films, jungen Menschen, die sich in ihren eigenen Körpern nicht so recht zu Hause fühlen.

"A Silent Voice" hatte vor dreieinhalb Jahren einen deutschen Kinostart, der wenig Beachtung fand. Zu weit weg ist Yamadas feinfühlige Exploration psychischer und sozialer Texturen sowohl von der reflektierten Fantastik der Ghibli-Filme - hierzulande immer noch das Maß aller Dinge in Sachen Anime - als auch von den motivisch nicht unähnlichen, ebenfalls in der Adoleszenz und der urbanen Gegenwart verankerten, aber viel melodramatischer angelegten Filmen Makoto Shinkais ("Your Name", "Weathering With You"), die insbesondere auf dem japanischen Heimatmarkt alle Box-Office-Rekorde brechen. Derzeit ist er auf der Streamingplattform Anime on Demand verfügbar. Die erzwungene Vereinzelung der Quarantäne ist vielleicht nicht die schlechteste Voraussetzung, einen Film zu entdecken, der in berückender Detailliertheit von den Schwierigkeiten erzählt, aus Selbstgefängnissen auszubrechen.

Lukas Foerster

A Silent Voice - Japan 2016 - OT: Eiga Koe no Katachi - Regie: Naoko Yamada - Laufzeit: 130 Minuten. "A Silent Voice" bei Anime on Demand.

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Das nationale Filmarchiv von Thailand hat aus aktuellem Anlass eine sehenswerte Auswahl aus der eigenen Sammlung online gestellt, allen voran den 2016 in Bologna restaurierten Filmklassiker "Santi-Vina", ein legendäres, lange verschollen geglaubtes Werk aus dem Jahr 1954, das als der erste thailändische 35mm-Tonfilm gilt.

Santi ist ein blinder Junge, der nach dem Unfalltod seiner Mutter in einem kleinen Dorf allein bei seinem verarmten Vater aufwächst. Das Mädchen Vina hat Mitleid mit dem Außenseiter, nimmt ihn in Schutz gegenüber gemeinen Bullys wie ihrem Altersgenossen Grai. In einer Höhle nebenan führt der gütige Mönch Luang Ta ein frugales Dasein umgeben von vergoldeten Bildnissen des Buddha. Um gutes Karma zu erwirken, gibt Santis Vater seinen Sohn in die Obhut des Mönchs. Vielleicht vermag er auf diesem Weg das Augenlicht wiederzuerlangen.

Die Zeit vergeht und Santi wird zum jungen Mann. Vina und er sind verliebt, aber als Blinder, angewiesen auf die Hilfe der anderen, gilt er im Dorf nicht für heiratsfähig. Auch Grai hat es auf Vina abgesehen, seine Eltern haben sogar schon den Brautpreis entrichtet. Aber die Braut wehrt sich: Gemeinsam mit ihrem Geliebten nimmt sie Reißaus.



Regisseur Thavi Na Bangchang, auch bekannt unter dem Pseudonym Khru Marut, nimmt sich für diese einfache Geschichte alle Zeit der Welt. Der Gestus des zweistündigen Films ist wie der seiner Darsteller langsam, fast statuarisch. Landschaften, Festlichkeiten und Rituale etablieren einen gleichmütigen Grundton, der auch dort die Oberhand behält, wo der Film an den Leidenschaften der Dorfbewohner teilhat. Die sanfte Liebe von Santi und Vina oder die Eifersucht Grais, so fühlt es sich an, sind nichts als vorübergehende Kräuselungen im Fluss der Dinge.

Die Figuren sind volkstümliche, breit ausgeführte Typen. Santi trägt sein reines Herz am Revers; den Bösewicht sollst du an seinem Schnurrbart erkennen. Vom filmischen Realismus entfernt uns auch die Nachvertonung. Die von erwachsenen Sprechern nachgebildeten Kinderstimmen lassen nie vergessen, dass hier Bauchredner am Werk sind. Die Bilder stehen in einem interessanten Verhältnis zu Santis Blindheit. (Diese ist im Übrigen als Somatisierung eines Kindheitstraumas lesbar.) In leuchtenden Pastellen, von Filmrestauratoren auf der Grundlage von drei existierenden Kopien mit großem Aufwand rekonstruiert, entfaltet sich ein ländliches Idyll von seltener Schönheit. Der Film schwelgt in visuellen Reizen, die seinem Protagonisten unzugänglich bleiben. Am Ende - spoiler alert - wie durch ein Wunder von seiner Blindheit geheilt, wird Santi den Sinnesfreuden des Menschseins aus freien Stücken entsagen. Endlich sieht er, was wir sehen - dies jedoch nur, um den Versuchungen der Welt desto besser zu widerstehen.

Santi-Vina ist ein buddhistisches Höhlengleichnis: Der Weg führt nicht wie bei Platon aus dem Zwielicht der Erscheinungen ins Tageslicht der Ideen, sondern aus der leuchtenden Welt in die erleuchtete Höhle des Verzichts. Es ist ein Film, in dem die Dialektik des Kinos thematisch wird zwischen Weltzugewandtheit und Weltflucht. Ein Film zur Stunde also: Auf der YouTube-Site des Film Archive Thailand bildet er sinnigerweise den Auftakt einer Playlist mit dem Titel "COVID-19".

Nikolaus Perneczky

Santi-Vina - Thailand 1954 - Regie: Thavi Na Bangchang - Darsteller: Poonpan Rangkhavorn, Rayvadi Sriwilai - Laufzeit: 116 Minuten. Santi-Vina bei Youtube.