Vorgeblättert

Leseprobe zu Geert Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Teil 3

31.03.2014.
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Gedichte schreiben nach Verdun und Somme
Die Schlachtfelder von 1916

Gerade meine letzte Apfelsine gegessen. Ich blicke auf
ein sonnenbeschienenes Höllenbild.
- Siegfried Sassoon, Tagebucheintrag, 1. Juli 1916 (1)


"Im Volksglauben heißt es, Kanonenschüsse locken die Wolken an", so Virginie Loveling (1836-1923) am Samstag, dem 9. Januar 1915 in ihrem Kriegstagebuch.(2) Krieg ruft Regen hervor, so war es während des Großen Krieges, so war es im neunzehnten Jahrhundert. Das Gedächtnis der Grand Old Lady der flämischen Literatur reichte, was das anging, sehr weit zurück: "An der Mole entlanggehend, ankämpfend gegen den Wind, erinnere ich mich, dass es 1870, während der Schlachten bei Gravelotte und Sedan, auch so heftig geregnet hat und dass Personen, die die Schlacht bei Waterloo erlebt hatten, erzählten, während der Gefechte vom sechzehnten bis achtzehnten Juni 1815 habe es eine wahre Sintflut gegeben." In der Fachliteratur war man sich schon bald einig, dass diese Witterungsverhältnisse eine entscheidende Rolle bei den Kriegshandlungen gespielt hätten, in Waterloo, aber auch bei anderen Land- und Seeschlachten.(3) Krieg war also in Westeuropa bereits untrennbar mit Regen verbunden; 1914 bis 1918 aber schienen sich Wetter- und Kriegsgötter auf beispiellose Weise vereinigt zu haben. Kein anderes Element bestimmte die Kriegserfahrung an der Westfront so extrem und aufreibend wie der peitschende Niederschlag, der die Landschaft in einen sumpfigen Morast verwandelte und die Kampfmoral aufweichte. Regen und Schlamm bilden das Leitmotiv in den Kriegsbüchern Le Feu (Das Feuer) von Henri Barbusse (1917) und Undertones of War (Untertöne des Krieges) von Edmund Blunden (1928), und auch in den Versen von Soldaten, die in Frankreich und Flandern kämpften, geht es immer wieder darum.(4) "Den ganzen Winter hat es geregnet", beginnt ein Gedicht von Marc de Larreguy de Civrieux (1895-1916) aus dem Jahr 1916, "Mein Gott, wie trübselig der Himmel schien / Den ganzen Winter hat es geregnet / mehr und mehr und mehr und mehr" - wobei im Französischen "plus" (mehr) aussieht wie die Mehrzahl von "plu" (geregnet), was das Bild des Dauerregens noch verstärkt.(5)
     Wenn der Regen bewirkt hätte, dass der Krieg schneller zu Ende war, hätten ihn die Soldaten vielleicht bereitwillig ertragen. Aber alle kämpfenden Parteien litten gleichermaßen darunter, und so verschlimmerte er nur die allgemeine Misere und trug nicht zu einer entscheidenden Wende im Kriegsgeschehen bei. Nach eineinhalb Jahren Kampf brachte die Wirkung der anhaltenden Regengüsse die wohl treffendste Metapher für die Beschreibung des Zustandes an der Front hervor: Der Krieg war im Schlamm stecken geblieben. Stagnation führt jedoch nie zu einem Sieg, und so mussten die Angriffe fortgesetzt werden, auch wenn sie selten oder nie in nennenswerten Terraingewinnen resultierten. Die Verluste stiegen inzwischen weiterhin an - im Jahr 1915 fielen 349.000 Franzosen, davon allein schon in den Schlachten im Artois und in der Champagne fast eine Viertelmillion(6) -, aber die gegnerischen Linien wurden dadurch kaum geschwächt. Also änderte man 1916 die Taktik. Das Ziel war nicht mehr, Terrain vom Feind zu erobern, sondern möglichst viele Gegner zu töten. Oder wie es der deutsche Oberbefehlshaber von Falkenhayn um Weihnachten 1915 ausdrückte: "Hinter dem französischen Abschnitt der Westfront gibt es in Reichweite Ziele, für deren Behauptung die französische Führung gezwungen ist, den letzten Mann einzusetzen. Tut sie es, so werden sich Frankreichs Kräfte verbluten, da es ein Ausweichen nicht gibt, gleichgültig, ob wir das Ziel selbst erreichen oder nicht."(7) Und so wurde aus dem Stellungskrieg eine Erschöpfungsschlacht.
     Der Ort, den von Falkenhayn gewählt hatte, war Verdun. Dort begann am 21. Februar um 7 Uhr morgens mit einem massiven, pausenlosen Beschuss, der erst neun Stunden später enden sollte, die Operation Gericht. Nach zwei Tagen hatten die französischen Divisionen, die Verdun verteidigen mussten, schon mehr als zehntausend der 26.523 Soldaten verloren.(8) Aber zur Erschöpfung der französischen Truppen führte diese Offensive nicht, denn General Petain führte das sogenannte Noria- oder Paternoster-System ein: die Einheiten wurden nach einem Rotationsprinzip abgelöst. Der Vorteil war, dass Soldaten nur sehr kurz dem Allerschlimmsten ausgesetzt waren, der Nachteil, dass nahezu jede Division bei Verdun kämpfen musste. Ende Juni 1916 hatten bereits 65 der 95 einsatzbereiten französischen Divisionen Verdun durchgestanden. Mehr oder weniger. Für die Ablösung waren jedes Mal nur halb so viele LKW nötig wie für den Transport an die Front. Anders ausgedrückt: Jeder Einsatz in Verdun halbierte die Zahl der Soldaten einer Division. "Das ist keine Armee mehr, das sind Leichen", so ein Passant, der bei der Ablösung zuschaute.(9) Selten wurde bei Verdun so gekämpft, wie man sich das bei einem Krieg vorstellt. Die Soldaten dienten mehr oder weniger als Kanonenfutter. 140.000 Granaten feuerten Franzosen und Deutsche aufeinander ab. Pro Tag. Im Takt von vierzehn Sekunden passierte ein LKW mit Munition die wichtigste französische Nachschubroute, von Maurice Barrès schon bald in einer von seinen hunderten Lobreden auf den Krieg als la voie sacrée (Heiliger Weg) bezeichnet.
     Einer der Artilleristen war der bretonische Rechtsanwalt Albert-Paul Granier (1888-1917). Vom 21. bis 24. Februar, an den ersten vier Tagen der Schlacht, arbeitete er in den Gefechtspausen an dem Gedicht "L'Attaque" (Der Angriff) - abwechselnd eine unterkühlte Beschreibung der kleinen Unannehmlichkeiten, die der feindliche Artilleriebeschuss verursacht (ein Soldat wird gezwungen, Schnee zu essen, oder besser: auf die Suche zu gehen nach noch weißem, nicht vergiftetem Schnee, nachdem seine Feldflasche in Stücke geschossen wurde und das Gas seine Kehle vor Durst brennen lässt), und einem zum Scheitern verurteilten Versuch, der Gewalt Phantasie und Unbekümmertheit entgegenzusetzen. Der unaufhörliche Beschuss, so meint ein Artillerist im Gespräch mit seinem Hauptmann, sei gar nicht im Takt. Und der Paukenschläger spiele falsch und müsse sich am A-Ton orientieren, der vom Geschützdonner ausgehe. Doch immer wieder drängt sich die Realität auf: Von einem Zusammenspiel oder einer Orchestrierung kann nicht die Rede sein, denn kein einziger Kurier ist zurückgekehrt und niemand weiß, woran er ist.(10) Ein Gefühl vollständiger Desorientierung, das für diese Fronterfahrung prägend war. Die Kommunikationswege waren ständig unterbrochen, und die Soldaten fühlten sich oft ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert. Ernähren mussten sie sich von Brot und billigem Wein. Wasser war zwar im Überfluss vorhanden - auch während dieser Schlacht regnete es ohne Unterbrechung -, doch in allen Wasserspeichern (nun ja: Bombenkratern) schwammen Leichen, das ganze Gelände stank nach Fäulnis und Verwesung, und es wimmelte von Ratten und Ungeziefer. Lebende und Tote steckten im Schlamm fest, und keiner wusste, warum.
     Auf der anderen Seite des Niemandslandes befand sich Anton Schnack (1892-1973). Um seine Erfahrungen wiederzugeben, schuf er eine ganz eigene Gedichtform, epische, pathetische Sonette mit überlangen Zeilen, mäandernden Sätzen, vollgestopft mit apokalyptischen Visionen, ultrarealistisch und mythisch zugleich, wie ein moralisierender Alptraum. Was die Soldaten in Verdun durchlitten, war ein Bombardement des Körpers und der Sinne, auf die kein Mensch vorbereitet sein konnte. Schnack versuchte vor allem Worte zu finden, um den fast pausenlosen Lärm zu evozieren: die Detonationen, das gewalttätige Gebrüll, das dumpfe Dröhnen im "Erdbauch", "als riefe ein großer Mund aus einem Schlaf".(11) Aber auch die unerwarteten Momente der Stille, beunruhigend, da sie oft neues Unheil ankündigten. "Aber dann fiel in Gräben ein Schuß, der Schlafende traf." (S. 64) Schnack geht dem Wesentlichen nie aus dem Weg. "Es gab viel Tod", heißt es lakonisch in "Ein Tag" - "doch wen noch kümmert Tod" (S. 62); der Tod ist so alltäglich geworden wie weggeworfenes Brot. "Alles verweht; nur Tod bleibt übrig" ("Im Graben", S. 68). Stets liegt er auf der Lauer, jeden Moment kann er zuschlagen, steht er herausfordernd vor einem, greift er feige hinterrücks an. Grau werden die Soldaten davon. Sie verlieren ihre Seele und ihren Glauben und immer wieder ihr Leben. Um die Gewalt zu steigern, noch mehr Tod und Schrecken zu säen, den Gegner nicht nur verbluten zu lassen, sondern bei lebendigem Leib zu verbrennen, wurden in Verdun auch zum ersten Mal in großem Maßstab Flammenwerfer eingesetzt. Schnack blickte später verblüfft zurück auf die fast wollüstige Haltung, mit der er durch Handgranaten Tod und Verderben gesät hatte:

…daß ich den Tod warf, lächelnd, boshaft, in das Gewühl,
     anbrausend unter Rauch und Staub, anbrüllend nach dem
     Gas,
das weit schon war, schon nördlich; daß ich ihn bogig warf,
     gewandt, zehnmal, noch öfter, schneller
In ihre blaue Müdigkeit…oh, warum war die Zeit nicht
     heiliger, nicht göttlicher, nicht heller,
Nicht strahlender voll Liebe, Bruderkuß, Demut, Traumtiefe,
     daß ich mich schauerlich in Dunkelheit und Mord vergaß!
Oh, daß ich Tod warf wie ein frohes Spiel, wie einen Stein nach
     gelben Vögeln, in ihren Sturm, verloren, prächtig, wild,
Mit leichter Hand, gespannt, entzückt, wenn er sie traf, wenn
     sie sich bäumten schnellend hoch wie Fische und rücklings
niederfielen
Mit hochgeworfnen Händen, stöhnend, lautlos, schwer, in sich
     zusammen, in den roten Rauch von ihrem jungen Blut, um
     mit dem Leben noch zu spielen(12)

Die Scham war sicherlich aufrichtig, aber auch die Euphorie war echt. Der Krieg war eine Orgie - der Gewalt, aber auch spektakulärer Klang- und Lichteffekte, die in einer Welt vor Hollywood und Techno-Party eine magische Wirkung haben konnten, wenn jemand ein Sensorium dafür besaß. Für keinen Dichter galt das mehr als für den Mann, der mit an der Wiege der modernen französischen Lyrik gestanden hatte: Guillaume Apollinaire. "Wie schön die Raketen die Nacht erleuchten", schrieb
er in dem Gedicht "Merveille de la guerre" (Der Krieg ein Wunder), doch er war davon nicht geblendet.

[…]
Doch wäre es noch schöner, gäbe es noch mehr
Derweil betrachte ich sie wie eine Schönheit, die sich schenkt
     und gleich vergeht
Mir scheint, ich wohne einem großen Festmahl bei, von Blitzlicht
     tageshell erleuchtet
Ein Festmahl ist's, das die Erde sich gönnt
Sie hat Hunger und öffnet lange bleiche Münder
Die Erde hungert, und das hier ist ihr Belsazar-Festmahl, kannibalisch.(13)

Die Menschen, die an dem Spektakel teilhatten, mochten zeitweilig davon berauscht oder betäubt sein, aber sie waren nicht mehr als entbehrliche Statisten in dieser Show. Hier waren höhere Mächte im Spiel, die sowohl die Schönheit als auch die Teilnehmer stets aufs Neue für ihr eigenes, unersättliches Vergnügen einsetzten. L'art pour l'art stand einem Krieg nicht zu. Etwaige Schönheit war ein Nebenprodukt, so wie Läuse.
     Der Kampf konnte die Soldaten verrückt machen vor Angst, aber auch in Ekstase versetzen. Der Wille zur Macht, von dem Nietzsche gesprochen hatte, bekam hier für Tausende junger Männer eine sehr konkrete Bedeutung. Sie besaßen Macht über Leben und Tod. Die moralischen Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft durften, nein mussten sie überschreiten. Oder, wie es August Stramm in einem Brief zu Beginn des Krieges formuliert hatte: "Morden ist Pflicht ist Himmel ist Gott."(14)
     Peter Baum, der deutsche Schriftsteller, der 1913 in Berlin noch Apollinaire begegnet war, hatte im Krieg ganz andere Pflichten. Auch er sah und beschrieb das Feuerwerk über dem Schlachtfeld, aber als Sanitäter war sein Blick meist nach unten gerichtet. "So mancher Arm vermisst den Körper doch", bemerkte er lakonisch in einem seiner Schützengrabenverse.(15) Als er am späten Nachmittag des 5. Juni 1916 Gräber für die Opfer jenes Tages aushob, wurde er von einem Granatsplitter getroffen. Am frühen Morgen des nächsten Tages starb er.(16)

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(1) Sassoon 1983, S. 83
(2) Loveling 2005, S. 74
(3) McAdie 1925. Schon im Dezember 1914 erschien in den USA ein Artikel, in dem der Einfluss des Wetters auf die Kriegshandlungen in historischer Perspektive skizziert wurde. Lovelings Erinnerung wird hier bestätigt (im Zusammenhang mit dem Deutsch-Französischen Krieg ist die Rede von "torrential rains; floods; icy roads; muddy fields"), und es wird erwähnt, dass ähnliche Wetterumstände einen Einfluss auf Kriegshandlungen in Namur, an der Maas und in Flandern in Kriegen 1586, 1692 und 1708/09 hatten (Ward 1914)
(4) Blunden schrieb aus Anlass der anhaltenden Regenfälle bei der Dritten Flandernschlacht: "Es war einer der vielen Regenschauer, die - sogar unter jungen Offizieren - die Legende hatten aufkommen lassen, die Deutschen könnten nach Belieben den Regen auslösen." (2006, S. 257)
(5) Larreguy de Civrieux 1926, S. 47
(6) Becker 1992, S. 159
(7) zitiert in: Melching/Stuivenga 2006, S. 153; das deutsche Zitat stammt aus: E. von Falkenhayn: Die oberste Heeresleitung 1914-1916 in ihren wichtigsten Entscheidungen, Berlin 1920, S. 183 f. (Kursivierung Geert Buelens). Siehe auch Keegan 2004, S. 390, und Strachan 2004(b), S. 232. Strachan gibt an, dieser Text sei erst nach dem Krieg entstanden, als von Falkenhayn seine Memoiren schrieb. Krumeich und Audoin-Rouzeau betonen, ein Memorandum mit diesem Text sei nie gefunden worden (in Audoin-Rouzeau/Becker 2004, S. 305)
(8) Burg/Purcell, S. 102. Für diese Passage wurden außerdem Becker 1992, Smith/Audoin-Rouzeau/Becker 2003, S. 75-92, und Strachan 2004 (b), S. 229-243 benutzt
(9) Becker 1992, S. 155
(10) Granier, L'Attaque, in: Les Coqs et les Vautours, Éditions des Équateurs, 2008, S. 107-110
(11) Schnack 2003, S. 64 ("Eine Nacht")
(12) Schnack 2003, S. 96 ("Handgranatenwerfer")
(13) zuerst in: La Grande Revue, Nr. 11, November 1917. Aus dem Französischen von Andrea Spingler
(14) Stramm 1997, S. 174
(15) Baum 1920
(16) Cross 1989, S. 174-177

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Auszug mit freundlicher Genehmigung von Suhrkamp
(Copyright Suhrkamp Verlag)


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