Außer Atem: Das Berlinale Blog

In der Kälte der Großstadt: Lone Scherfigs "The Kindness of Strangers" eröffnet die Berlinale

Von Thekla Dannenberg
08.02.2019. Gestern abend wurde in Berlin mit großer Gala, rotem Teppich und Lone Scherfings "The Kindness of Strangers" die Berlinale eröffnet. Scherfings Film ist ein Großstadtmärchen aus dem winterlichen New York, in dem eine Reihe von Unglücksraben Halt und Trost sucht. Das wird mit einer reichlichen Portion Humanismus dargeboten, und aus dem Konzerthaus dröhnen dazu die Klänge von Smetanas "Moldau".
Gestern abend wurde mit Lone Scherfigs Film "The Kindness of Strangers" die 69. Berlinale eröffnet, die zugleich die 18. und letzte von Dieter Kosslick ist. Er wird abgelöst von Carlo Chatrian. Ob dieser das in unzählige Nebenreihen ausufernde Programm kappen wird, bleibt abzuwarten. In diesem Jahr jedenfalls wird noch mal aus dem Vollen geschöpft: über 400 Filme werden gezeigt. Wir werden wie jedes Jahr täglich berichten und versuchen, einen kleinen Pfad durch den Dschungel zu schlagen. Viel Spaß! - die Perlentaucher



Die Menschen in Lone Scherfigs Filmen begegnen sich nicht unbedingt auf der Sonnenseite des Lebens, nicht auf den höheren Stufen einer Karriereleiter und schon gar nicht bei Glamour und Glitz. Sie haben Lebenskrisen hinter sich, Unglücksfälle und durchaus selbst verschuldete Niederlagen. Sie finden sich im Krankenhaus und auf Beerdigungen, beim Volkshochschulkurs oder in der Selbsthilfegruppe. Dort bilden sie eine Art Untergrund-Netzwerk der Mitmenschlichkeit und ziehen sich gegenseitig mit vereinten Kräften aus ihrem Unglück und ihrer Einsamkeit. So war es schon bei Scherfigs Erfolgsfilm "Italienisch für Anfänger" und dort gelang es der dänischen Regisseurin, mit ihren schrägen Figuren und nordischer Sprödigkeit die leicht sentimentale Schlagseite ihrer Kopenhagener Geschichte auszugleichen.

Auch in "The Kindness of Strangers" erzählt Scherfig ein Großstadtmärchen, diesmal jedoch unter amerikanischen Bedingungen: Die junge Clara flüchtet mit ihren beiden Kindern vor dem schlagenden Ehemann von Buffalo nach New York, wo die drei ohne Kontakte und ohne Geld bald auf der Straße landen. Ihre Tage verbringen sie in der Public Library, am Abend schnappen sie sich bei Empfängen die Horsd'oeuvres vom Buffet, und nachts schlafen sie im Auto, zumindest bis es abgeschleppt wird. Clara kann niemanden um Hilfe bitten, weil ihr prügelnder Mann Polizist ist und sie offenbar sofort und überall aufspüren könnte.

Zufall, Fügung und Glück bringen die drei mit anderen einsamen Gestalten der Stadt zusammen: Mit dem Restaurant-Manager Marc, der wegen seines drogenabhängigen Bruders zu Unrecht im Gefängnis saß, mit dem Anwalt John Peter, den die Ungerechtigkeit der Justiz depressiv gemacht hat, mit Timofey, der den Investoren zuliebe in seinem russischen Restaurant mit heftigem Akzent spricht,mit dem von sich und der Welt überforderten Jeff und natürlich mit der Krankenschwester Alice, die vor lauter Mildtätigkeit sich selbst zu verlieren droht. Wer hilft einem Engel? Die einen kennen sich aus der Suppenküche, die anderen aus der Therapiegruppe "Vergebung", die Alice beide neben ihrer Arbeit im Krankenhaus organisiert. Sie alle, die sich selbst nicht helfen können, helfen wenigsten den anderen durch die Kälte der Großstadt, besonders im Winter.



Man würde sie gern mögen diese Unglücksraben, aber das will einfach nicht gelingen. Scherfig zeichnet sie so klischeehaft und gönnt ihnen so wenig Witz oder Skurrilität, dass man bald jedes Interesse an ihnen verliert. Sie sind alle Opfer. Vor allem Zoe Kazan (die Enkeltochter von Elia Kazan) spielt die Clara mit unerschütterlicher Filmprinzessinnenhaftigkeit: Hilflos, ratlos, ahnungslos stakst sie in geklauten Prada-Klamotten durch die New Yorker Obdachlosenasyle und Gerichtssäle, ohne dass irgendwann ein innerer Motor anspränge. "Gib nicht auf Mama", sagen ihre tapferen kleinen Kinder mit den großen Augen. In besonders dunklen und kalten Nächten tönen aus dem Konzerthaus immerhin wärmende Klänge. Und ähnlich breit wie die Geiger in Smetanas "Moldau" und erst recht im gefühligen Soundtrack streicht auch Scherfig immer wieder ihre Botschaft heraus: Wer gibt einem denn das Recht, unfreundlich zu sein? Der Film nimmt sich selbst so ernst und trumpft mit seinem Humanismus so sehr auf, dass er trotz seines doppelt und dreifachen Happy Ends nicht einmal richtig erbaulich wirkt.

Thekla Dannenberg

Lone Scherfig: The Kindness of Strangers. Wettbewerb. Mit Zoe Kazan, Andrea Riseborough, Tahar Rahim, Caleb Landry Jones, Jay Baruchel. Dänemark / Kanada / Schweden / Deutschland / Frankreich 2019, 112 Minuten  (Vorführtermine)