Bücherbrief

Fröste der Freiheit

Neue Bücher von Szeczepan Twardoch, Julia Kissin und über Richard Wagner
08.08.2016. Szeczepan Twardochs monumentales Schlesien-Epos, Julia Kissinas poetisch sprudelndes Moskau-Feuerwerk, Emma Clines psychologisch intensives Sekten-Drama, Ulrich Drüners faktengesättigte Wagner-Biografie - dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats August.
Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher über den Perlentaucher bei buecher.de bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den Perlentaucher, der eine Provision bekommt.

Den Bücherbrief in seiner vollen Pracht können Sie auch per E-Mail betrachten. Dazu müssen Sie sich hier anmelden. Weiterempfehlen können Sie ihn natürlich auch.

Weitere Anregungen finden Sie in unserer Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", den Leseproben in Vorgeblättert, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen, und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Emma Cline
The Girls
Roman
Carl Hanser Verlag 2016, 352 Seiten, 22 Euro



Emma Clines Debütroman "The Girls" erntet nur zwei Wochen nach seinem Erscheinen in Amerika auch hierzulande viel Lob: Selten waren sich die Rezensenten so einig wie bei diesem Roman einer jungen kalifornischen Autorin um eine junge Frau, Evie, die auf ihre Teenager-Zeit bei einer Sekte im Sommer 1969 zurückblickt. In der FAZ schaut Sandra Kegel gern darüber hinweg, dass das Buch sicher von dem nicht enden wollenden Hype um Charles Manson und seine "Blumenkinder" profitiert. Kegel ist viel zu hingerissen von dem psychologisch intensiven Drama über die Verführbarkeit junger Menschen durch eine Ideologie. Evie sucht fünfzig Jahre nach ihrem Ausbruch aus dem bürgerlichen Elternhaus in eine Sekte in "bedrückender Innenschau" geradezu "manisch" in ihrer Erinnerungen nach dem Moment, an dem sie den brutalen Höhepunkt hätte vorhersehen können, so Kegel, die das subtil und pointiert beschrieben findet. Franziska Wolffheim lobt in der SZ neben Clines Vermögen, den Kontrollverlust des Mädchens "plausibel", aber ohne endgültige Antworten zu beleuchten, vor allem die "poetischen Bilder" und die verschiedenen Spannungsebenen dieses "thrillerartigen" Romans. Spiegel-Kritiker Christian Buß betont mit Blick auf die jüngsten Attentäter des IS die Aktualität des Buches, das den pubertären "Willen zur Destruktion" und den Wunsch nach einem "Fanal der eigenen Existenz" nachzeichne. Und Richard Kämmerlings bewundert in der Welt nicht nur die faszinierenden Schilderungen der "Girls" zwischen "Freundschaft, Liebe, Anbetung und homoerotischem Begehren", sondern erschrickt während der Lektüre des zeitlosen, "dunkelleuchtenden" Romans gar vor sich selbst.

Julia Kissina
Elephantinas Moskauer Jahre
Roman
Suhrkamp Verlag 2016, 240 Seiten, 22,95 Euro



In Julia Kissinas zweitem virtuos übersetzten Roman "Elephantinas Moskauer Jahre" sprudeln die "bunten, poetischen und grotesken Bilder", schwärmt Katharina Granzin in der FR. In diesem wunderbar "eigensinnigen Gegenentwurf" zum realen Sowjetalltag im Moskauer der achtziger Jahre stürzt sich die Kritikerin mit Kissinas junger Heldin aus der Provinz Kiews in die Moskauer Literaten- und Künstlerboheme und bewundert, wie die "neue Achmatova" noch in der existentiellen Verzweiflung zwischen Armut, Wohnungslosigkeit und animalisch übergriffigen Männern das Schöne und Absurde entdeckt. Stefanie Peter mag in der Welt zwar kaum glauben, dass es damals so witzig und skurril vor sich ging und fühlt sich in dem Pointen-Feuerwerk bald, als hätte sie "das entscheidende Stück Torte Napoleon" zu viel gegessen, Kissinas Sinn für Tragikomik und ernste, herzerwärmende Momente bewundert sie allerdings ebenfalls. Ganz verliebt in die zwischen Tizian-Madonna und Jane Birkin oszillierende junge Frau, die vor "heroischem Übermut" überschäumt, liebestoll und hemmungslos glühend die Avantgarde aufmischt, ist auch Meike Fessmann in der SZ. Gelegentlich wird ihr auf dem "Analogie-Karussell", auf dem sich russische Literaten wie Chlebnikow oder Bulgakow ebenso drehen wie Ginsberg, Lady Gaga oder zen-buddhistische Haikus, ein wenig schwindelig. Doch ist sie, wie die anderen Kritiker bei so viel Wahnsinn und Temperament gespannt auf den letzten Teil der Trilogie.

Vincenzo Latronico
Die Verschwörung der Tauben
Roman
Secession Verlag 2016, 336 Seiten, 24 Euro



Für FAZ-Kritiker Niklas Bender ist Vincenzo Latronicos zweiter Roman der Beweis für die Meisterschaft des jungen italienischen Autors, dessen Talent auf jeder Seite wie "Champagner sprudelt". Wie Latronico in dieser Erzählung um zwei ungleiche rivalisierende Freunde - den gierigen italienischen Firmenerben Alfredo und den intelligenten albanischen Arbeitersohn Donka - sprachlichen Anspruch, Spannung und psychologischen Feinsinn in eine kluge Handlung verwebt, findet Bender "ambitioniert" und brillant. Dass der Autor dazu leichthändig und humorvoll Spieltheorie und Ethnologie zu verbinden weiß, verschlägt dem Kritiker vollkommen den Atem. Maike Albath kann dem in der SZ nur zustimmen: Sie liest einen "rasanten" Finanzthriller, der die "Psychopathologie der Nullerjahre mit archaischen Motiven" verknüpft und zugleich ein präzises Porträt der verlorenen Generation der Berlusconi-Ära zeichnet. Dass Latronico die "Kain- und Abel-Konstellation" um weitere mit "soziologischer Raffinesse" geschilderte Figuren anreichert, sich mit Michel Houellebecq, David Foster Wallace, Roberto Bolaño und Antonio Moresco ebenso gut auskennt wie mit Autofiktion, Metafiktion und dem Erzählton des neunzehnten Jahrhunderts und dabei auch noch Ironie beweist, ringt Albath größte Anerkennung ab. Und in der Welt bewundert Marc Reichwein, wie der Autor "macchiavellistische Intelligenz mit Bourdieu-Gespür für die feinen Unterschiede" paart.

Friederike Gösweiner
Traurige Freiheit
Roman
Droschl Verlag 2016, 144 Seiten, 18 Euro



Nur wenige Besprechungen hat dieser so wunderbare wie traurige Debütroman der Österreicherin Friederike Gösweiner bisher erhalten. Erzählt wird von der dreißigjährigen Hannah, die sich aus ihrer Beziehung mit einem angehenden Kinderarzt löst und nach Berlin zieht, um endlich ihre Karriere als Journalistin in Gang zu bringen und als studierte Arbeitslose zwischen zahllosen Absagen und Liebesenttäuschungen immer weiter in eine Lebenskrise schlittert. Zeit-Kritikerin Ursula März lobt die großartige Darstellung einer persönlichen Krise, die aus zu langem Zögern resultiert. Im rbb-kulturradio ist Manuela Reichert tief beeindruckt, wie klug, "kühl in Ton und Blick" und ganz ohne Larmoyanz die Autorin den Abstieg ihrer traurigen Verliererin und die "modernen Fröste der Freiheit" beschreibt. Für Standard-Kritikerin Christa Gürtler ist der Roman eine eindringliche Fallstudie über die "prekären Verhältnisse" einer verlorenen Generation, deren Selbstoptimierungsstrategie an den neoliberalen Arbeitsverhältnissen scheitert. Während Gürtler in Gösweiners "präzisen" und "berührenden" Schilderungen lernt, wie "traurig Freiheit jenseits aller Sicherheiten" sein kann, liest Karl-Markus Gauß in der Presse eine "unerbittliche" Studie über Einsamkeit, die ganz nebenbei auch die "Herrschaftstechniken" bei Vorstellungsgesprächen beleuchtet. Auf kulturnews.de spricht die Autorin, die über "Einsamkeit in der jungen deutschsprachigen Literatur der Gegenwart" promoviert hat, über die Probleme der Generation Praktikum.

Szczepan Twardoch
Drach
Roman
Rowohlt Verlag 2016, 416 Seiten, 22,95 Euro



Dass sich Szeczepan Twardoch selbst wie ein "polnischer Hemingway" inszeniert, nehmen ihm die Kritiker nicht übel. Auf die Idee, die geschundene Erde als allwissende mitleidlose Erzählstimme auftreten zu lassen, muss man auch erst einmal kommen. Für SZ-Kritiker Helmut Böttiger ist das schlicht eine "ästhetische Meisterleistung". Mehr noch: Drach scheint laut Böttiger auf einer "teuflischen Klaviatur" zu spielen, wenn er über vier Generationen von einer schlesischen Familie erzählt, zwischen Erstem Weltkrieg und Gegenwart Ereignisse spiegelt und ungeahnte tiefsinnige Assoziationen freilegt, "derbe" Schlachtszenen mit humor- und lustvollen Liebeszenen verknüpft und dabei auch noch das als "Wasserpolnisch" bezeichnete Deutsch-Polnisch der Schlesier wiedergibt. In der FAZ ist Katharina Teutsch hin und weg von der virtuosen und rasant rhythmischen Text-Montage über den jahrhundertlangen Kampf um Schlesien - von den Aufständen der Zwanziger über die Zwangspolnisierung nach 1945 bis zur "turbokapitalistischen Phase" nach 1945 und zurück ins Mittelalter. Twardoch hat hier auch einen gewaltigen Recherche-Aufwand betrieben, erklärt sich beeindruckt. Während Teutsch der Roman als Antwort auf Maria Janions These vom "westöstlichen Bewusstsein" der Polen erscheint, scheut Jurek Skrobala im Spiegel nicht den Vergleich mit Thomas Manns "Buddenbrooks". Ein tragisch-schönes Buch über Identität, "Sinn und Vergänglichkeit" meint Skrobala, ein furioses, mit "fotografischer Genauigkeit" entworfenes und auf jeder Seite bebendes "Monumentalgemälde" voller Schicksale und Geschichten, lobt Paul Jandl in der Welt.


Sachbuch

Ulrich Drüner
Richard Wagner
Die Inszenierung eines Lebens
Karl Blessing Verlag 2016, 832 Seiten, 34,99 Euro



Mit Ulrich Drüners Biografie kommt das beste Buch über Richard Wagner erst drei Jahre nach dem Wagner-Jahr 2013, konstatiert Manuel Brug in der Welt und bereut doch keine Minute des Wartens. Denn Drüner, 33 Jahre Bratschist im Staatsorchester Stuttgart, schreibt souverän und kenntnisreich, akribisch und klug, zugleich in flüssigem und witzigem Erzählton, informiert über Musikhistorie, Ideengeschichte und Kunstideologie des 19. Jahrhunderts, fasst die bisherige Forschung brillant zusammen, liefert "luzide" Werkanalysen und verfügt bei aller Liebe zu Wagner doch über den nötigen kritischen Blick für Wagners Ambivalenzen, lobt Brug. Kurz: ein neues Standardwerk, denn egal ob Drüner den Antisemiten, Luxus-Liebhaber, Nietzsche- und Liszt-Freund, die Hochbegabung oder das Verhältnis zu Frauen untersucht - stets räumt er faktengesättigt mit Mythen, Beschönigungen und Selbstinszenierungen auf und umkreist den "kleinen Mann, der vor seinen Gläubigern flüchtete, einem König politische Anweisungen gab, witzig und egoistisch war, schroff und schmeichelnd, abstoßend und gewinnend", so der Welt-Kritiker. In der FAZ kann sich Eleonore Büning dem nur anschließen: Insbesondere freut sie sich, dass Drüner "mit überraschendem Bildmaterial und mit apokryphen Textquellen", etwa mit einer Wagner-Karikatur von Franz Lenbach, neues Licht auf "scheinbar Bekanntes" wirft und bei aller Schonungslosigkeit Wagners Musik nicht denunziert.

Mohsin Hamid
Es war einmal in einem anderen Leben
Eine Heimat zwischen Orient und Okzident
DuMont Verlag 2016, 224 Seiten, 19,99 Euro



Der pakistanische Autor und Journalist Mohsin Hamid ist vor allem als Romancier bekannt, informiert NZZ-Kritikerin Claudia Kramatschek. Dass er sowohl den Anschlag auf das World Trade Center als auch den Bombenanschlag in der Londoner U-Bahn 2007 vor Ort miterlebte, mag ihn in besonderer Weise dafür prädestinieren, über islamistischen Terrorismus zu schreiben, und doch verspricht diese Essaysammlung mit Artikeln aus den letzten fünfzehn Jahr noch mehr, fährt Kramatschek fort: Sie liest in den Texten, die in die Themenbereiche Leben, Kunst und Politik unterteilt sind, ein ausgewogenes Plädoyer gegen Vereinheitlichungen und Pauschalisierungen, die sich etwa im Begriff "der Islam" niederschlagen, und für Pluralismus und das Recht auf Diversität, das beispielsweise in Hamids Heimatland Pakistan tagtäglich bedroht ist. Auch wenn die Beiträge laut Kramatschek in Qualität und Aussagekraft variieren, lohnt der Band schon allein für die schönen Texte über Pakistan, in denen Hamid etwa erzählt, wie er als Student trotz der damals initialisierten Islamisierung des Landes die "vitale Gegenwelt der Kunst" entdeckte und wie die Lektüre von Antonio Tabucchis "Erklärt Pereira" seine eigene Poetologie der Mehrdeutigkeiten beeinflusste. Während Kramatschek Hamids erhellende und deutliche Kritik an seinem Land im Bezug auf die sozial getrennten Ethnien, Klassen und Religionen lobt, vermisst Zeit-Kritiker Leo Schwarz bei aller Sympathie für den Autor Originalität, "harte Thesen und augenöffnende Formulierungen".

Oliver Hilmes
Berlin 1936
Sechzehn Tage im August
Siedler Verlag 2016, 304 Seiten, 19,99 Euro



Pünktlich zum achtzigsten Jahrestag der Olympischen Spiele in Berlin 1936 liegt Oliver Hilmes Buch vor und die Rezensenten sind überwiegend zufrieden: "Skrupellos" gut findet FR-Kritiker Harald Jähner das Buch des Historikers, das er zwar keinem Genre zuordnen kann, aber der "raffinierten" Mischung aus Gesellschaftsroman und Tagebuchzitaten, Zeitungsartikeln und anderen Quellen sowohl Authentizitätsanspruch als auch Unterhaltungswert attestiert. Fasziniert streift Jähner mit Hilmes durch ein "bizarres" Berlin, das von Hitler als Mischung aus "rigider Massendressur" und ausschweifenden Partys inszeniert wurde, begegnet einem "dichten Strom unterschiedlichster Menschen" wie Jesse Owens oder der deutsch-amerikanischen Fechterin und Jüdin Helene Mayer, wohnt den "konkurrierenden Gartenfesten" von Göring und Goebbels bei und streift mit Ernst Rowohlt und dem amerikanischen Schriftsteller Thomas Wolfe durch das Berliner Nachtleben, das in diesen sechzehn Tagen den Rassismus mit aller Macht zu verbergen versuchte. Auf literaturmarkt.info lobt Christoph Mahnel nicht nur Hilmes "sehr gute Händchen bei der Wahl seiner 'Snapshots'", sondern auch das finale Kapitel "Was wurde aus...". SZ-Kritiker Jens Bisky kann sich dem Lob seiner Kollegen nicht anschließen: Während Hans Joachlim Teichler in der FAZ noch hervorhebt, dass Hilmes "die Gleichzeitigkeit von Repression und feierlicher Präsentation fassbar" macht, moniert Bisky "Klatsch und Tratsch" über Mode, Rezepte, Drinks und Alkoholprobleme und vermisst handfeste Informationen.

Marc Auge
Das Pariser Bistro
Eine Liebeserklärung
Matthes und Seitz 2016, 118 Seiten, 15 Euro



Der französische Ethnologe und Anthropologe Marc Augé ist vor allem durch seine Theorie der "Nicht-Orte" bekannt geworden. Dass er sich nun dem "Pariser Bistro" widmet, ist für die Rezensenten ein Glücksfall, denn Augé gelingt es, sich in seinem wunderbar melancholischen Buch dem "rasenden Verwehen der Zeit" entgegenzustellen und an das "Wunderbare im Alltäglichen" zu erinnern, wie Klaus Bittermann in der taz schreibt. Während für Bittermann Augés Bistro als eine "Form von Widerstand" gegen seelenlose Imbissketten erscheint, erlebt Cornelius Wüllenkemper in der SZ einen "Ort der sozialen Distinktion und kollektiven Identität", den der Autor in "kursorischen, locker aneinandergereihten, oft autobiografisch illustrierten Betrachtungen" skizziert. Dass Augé gleichermaßen als kenntnisreicher Wissenschaftler und leichthändiger literarischer Geschichtenerzähler auftritt, wenn er von den Komödien und Tragödien der "romanesken" Orte erzählt, gefällt Wüllenkemper gut. In der NZZ freut sich Oliver Pfohlmann vor allem über Erinnerungen an das Bistro der fünfziger Jahre, als Gäste wie Sartre, Hyppolite, Althusser und de Beauvoir dort diskutierten und tranken. Im Dradio Kultur flaniert Barbara Wahlster mit Marc Augé durch die Pariser Bistros der Gegenwart. Lesern, die noch mehr Lust auf Pariser Flair bekommen, sei außerdem Sarah Bakewells "Café der Existentialisten" und Michael Matveevs Roman "Das Viertel der Maler" empfohlen.

Jens Balzer
Pop
Ein Panorama der Gegenwart
Rowohlt Verlag 2016, 256 Seiten, 20 Euro



Für Zeit-Kritiker Thomas Groß ist Jens Balzer, stellvertretender Kulturressortleiter der Berliner Zeitung, der "Frontberichterstatter unter den Popkritikern". Wer könnte also besser für eine derartige "Tour d'Horizon" durch die Welt des Pop geeignet sein, als der Mann, der sich auf Konzerten von Rihanna und Lady Gaga ebenso in die Menge wirft wie im Berghain, sich mit Neo-Rock-'n'-Roll, Freak Folk, oder Drone Metal genauso auskennt wie mit R'n'B und Hiphop - und nicht mal vor der "semiotischen Katastrophe" einer Helene Fischer zurückschreckt. Und es bleibt bei keinem Best of der Balzer-Kritiken, versichert Groß: Der "Ist-Zustand" des Pop werde ohne historische Herleitungen, aber in scharfsinnigen Analysen durchkämmt, die ehemals männlich trieb-dominierte Pop-Musik unter postpatriarchalen Verhältnissen untersucht und die längst zu "postkoitaler Tristesse" verkommene Darstellung von Sex und Männlichkeit im Pop zugunsten von starken Frauenfiguren wie Amy Winehouse oder Adele verabschiedet. Während Groß dem Autor seine männliche "Deutungshoheit" doch ankreidet, ist Jens-Christian Rabe in der SZ restlos glücklich über die endlich geschlossene Lücke in der jüngsten Vergangenheit der Pop-Geschichte. Wie witzig, sprachgewaltig, fundiert, voller Ironie und mit einem würzigen Spritzer Insider-Arroganz sich Balzer zwischen Mainstream und sämtlichen Sub-Subgenres bewegt, erscheint dem Kritiker als Riesenvergnügen. Im Tagesspiegel amüsiert sich Gerrit Bartels nicht nur über "hermaphroditische Backenhörnchen auf Metamphetamin" und boshafte Seitenhiebe auf Justin Bieber oder Rammstein, sondern dankt dem "Anti-Diederichsen" auch dafür, dass er zeigt, wie aktuell Pop immer noch ist.