Außer Atem: Das Berlinale Blog

Filmt von der Eisscholle: Wladimir Schnejderows 'Zwei Ozeane' (Retrospektive)

Von Lukas Foerster
12.02.2012. Die Retrospektive machte in den letzten Jahren abwechselnd einen allzu routinierten und einen allzu beliebigen Eindruck. Präsentiert wurden entweder altbekannte Meisterregisseure (Bunuel, Bergman) oder eher willkürlich zusammengestellte Programme ("City-Girls im Stummfilm", "Traumfrauen der Fünfziger"). Dieses Jahr zeichnet sich die Retro ganz im Gegenteil gleichzeitig durch Wagemut und den Willen zur Konkretion aus: Gezeigt werden sowjetische (und ein paar deutsche) Filme aus den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, die allesamt von einem einzelnen Studiokomplex produziert wurden: Der "Meschrabpom-Film" und ihrem deutschen Ableger, der Prometheus. Eine Sonderstellung im sowjetischen Kino nahm Meschrabpom nicht nur aufgrund seines Bezugs zu Deutschland ein: Die Verbindung der Studioverantwortlichen zur Staatsmacht waren - zumindest zunächst - verhältnismäßig locker, produziert wurden neben Kultur- und Dokumentarfilmen vor allem Spielfilme mit einer Nähe zum schon damals von Hollywood dominierten Genrekino - eine "rote Traumfabrik" (so der Titel der Retro) eben.


Die Retrospektive machte in den letzten Jahren abwechselnd einen allzu routinierten und einen allzu beliebigen Eindruck. Präsentiert wurden entweder altbekannte Meisterregisseure (Bunuel, Bergman) oder eher willkürlich zusammengestellte Programme ("City-Girls im Stummfilm", "Traumfrauen der Fünfziger"). Dieses Jahr zeichnet sich die Retro ganz im Gegenteil gleichzeitig durch Wagemut und den Willen zur Konkretion aus: Gezeigt werden sowjetische (und ein paar deutsche) Filme aus den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, die allesamt von einem einzelnen Studiokomplex produziert wurden: Der "Meschrabpom-Film" und ihrem deutschen Ableger, der Prometheus. Eine Sonderstellung im sowjetischen Kino nahm Meschrabpom nicht nur aufgrund seines Bezugs zu Deutschland ein: Die Verbindung der Studioverantwortlichen zur Staatsmacht waren - zumindest zunächst - verhältnismäßig locker, produziert wurden neben Kultur- und Dokumentarfilmen vor allem Spielfilme mit einer Nähe zum schon damals von Hollywood dominierten Genrekino - eine "rote Traumfabrik" (so der Titel der Retro) eben.

"Zwei Ozeane" ist ein Film, den man auch innerhalb der Retrospektive leicht übersehen könnte: Ein nur gut einstündiger Dokumentarfilm aus der frühen Tonfilmzeit über die Nordostpassage, über den am Ende (das darf man ruhig verraten) erfolgreichen Versuch, entlang der russischen Nordküste vom Atlantik in den Pazifik zu gelangen und also eine Route schiffbar zu machen, die den langen Umweg über den dritten, den indischen Ozean, überflüssig machen würde. Verantwortlich für "Zwei Ozeane" zeichnet Wladimir Schnejderow, der im Programm außerdem noch mit dem Goldsucherthriller "Kampf um Gold" vertreten ist. Auch aus dem ihm anvertrauten dokumentarischen Stoff macht Schnejderow kein didaktisches Lehrstück über den Triumphzug der sowjetischen Nautik, sondern einen waschechten Abenteuerfilm, dessen zentraler Protagonist und Held allerdings nicht der Kapitän, auch nicht die gesamte Crew, sondern das Schiff selbst ist: Um den kohlebetriebenen Eisbrecher "Sibirjakow" herum ist der gesamte Film strukturiert. Die Sibirjakow sticht in See, die Sibirjakow nimmt Fahrt auf, die Sibirjakow teilt das Eis (die atemberaubenden Nordmeeraufnahmen sind alleine schon Grund genug, sich diesen hervorragenden Film anzusehen), die Sibirjakow muss freigesprengt werden.

Man meint den Bildern anzumerken, dass nicht nur die Schifffahrt selbst, sondern auch ihre filmische Dokumentation ein echtes Abenteuer war. Viele Aufnahmen sind vermutlich von einem kleinen, zerbrechlichen Rettungsboot aus gefilmt. Und wenn die Besatzung mit Spitzhacken und Dynamit bewehrt über Eisschollen springt, den Kältetod knapp vor Augen, dann filmt Schnejderows Crew das nicht vom Deck aus, von oben, aus sicherer Entfernung; statt dessen ist die Kamera wohl selbst auf einer dieser schlüpfrigen, ständig leicht driftenden Eisschollen aufgebaut, zumindest filmt sie auf Augenhöhe der pickelschwingenden Matrosen, abseits der Sibirjakow. Selten wird man im Kino so aufmerksam gemacht auf den physikalischen Akt des Filmens, der sonst in der Unmittelbarkeit des gefilmten Bilds verschwindet und höchstens in angestrengt selbstreflexiven Gesten wieder eingeholt werden kann. Insofern ist "Zwei Ozeane" auch ein Film über das Filmen.

Ganz deutlich ein Film über das Filmen ist "Zwei Ozeane" in einer Szene, die so analytisch und klug ist, dass man beinahe doch eine selbstreflexive Intention unterstellen könnte. Die Kamera blickt vom Schiff aufs Meer, vereinzelte Eisschollen treiben vorbei. Auf einer sieht man zwei Eisbären stehen und (irgendwie erwartungsvoll) in Richtung Boot blicken. Man denkt zunächst, das sei einfach nur ein Schauwert unter vielen und es käme danach einfach wieder eine neue Attraktion. Statt dessen ein Umschnitt, die Besatzung versammelt sich an der Reling und zielt auf die Eisbären: gleichzeitig mit Gewehren und mit der Kamera. "Bitte schießt erst, wenn wir zuende gefilmt haben!" hört man jemanden rufen. Kamera und Projektil, wie bei Kathryn Bigelow. Dann wieder Schnitt auf die Eisbären, bald wird das Feuer eröffnet, die Bären können noch auf eine benachbarte Scholle flüchten, dann wird der eine erlegt, der andere gefangen genommen. Später gibt es eine kurze, lustige Szene, in der die Tierwelt zumindest symbolisch Rache nehmen kann: Während eines Landausflugs versucht ein Crewmitglied auf einem Elch zu reiten, der bäumt sich auf und wirft den Matrosen ab.

Lukas Foerster

"Dwa okeana - Zwei Ozeane". Regie: Wladimir Schnejderow, Jakow Kuper. Dokumentarfilm Russland 1933, 65 Minuten. (Vorführtermine)