9punkt - Die Debattenrundschau

Die Kontaktschuld lässt grüßen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2020. Nein, Geschlecht ist keine Konstruktion: "Ich war Frau, bevor ich überhaupt denken konnte. Ich durfte es nur nicht sein", schreibt Georgina Kellermann, die mal Georg war, in der Zeit. Die FAZ setzt ihren Hohenzollern-Streit fort. Schon in den Achtzigern warnten Maren Kroymann und Lieselotte Steinbrügge vor David Hamilton, aber damals hat niemand auf Feministinnen gehört, schreiben sie in der SZ. Und noch ein Grenzübertritt von Satire erschüttert die Republik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.09.2020 finden Sie hier

Ideen

In einem interessanten historischen Hintergrundtext für geschichtedergegenwart.ch liest der junge Historiker Gil Shohat die Äußerungen schwarzer und weißer antikolonialistischer Intellektueller in Großbritannen in der Kriegszeit und findet sehr früh Vergleiche zwischen dem Holocaust und dem Kolonialismus: "Bei den hier diskutierten rhetorischen Vergleichen (und ja, Gleichsetzungen) von Judenverfolgung und der Unterdrückung der Schwarzen in den Kolonien angesichts des drohenden Zweiten Weltkrieges und der gleichzeitigen steigenden Virulenz der kolonialen Frage ist es wichtig zu betonen, dass sich sowohl die panafrikanischen Aktivist*innen als auch antikoloniale ILP-Politiker*innen dezidiert und auch praktisch mit Jüdinnen und Juden in Europa solidarisierten."

Linke Identitätspolitik ist eigentlich nur Zeichenpolitik, behauptet Lars Weisbrod in der Zeit, leugnet aber nicht, dass sie qua "Cancel Culture" durchaus Auswirkungen haben kann wie reale Machtpolitik: "Wo Zeichenpolitik wider Erwarten Dellen in die echte Welt schlägt, kann sie das nur, weil ihr kaum mehr materielle Kräfte entgegenwirken. Ein 25-jähriger befristet oder frei beschäftigter Journalist mag sich davor fürchten, gecancelt zu werden. Einem unkündbaren Meinungskolumnisten aus der Babyboomer-Generation, der zusätzlich auf Mieteinnahmen aus seinen Immobilien zurückgreifen kann, könnte es herzlich egal sein, was irgendwer bei Twitter findet."

Weiteres: In der NZZ verteidigt der Philosoph Martin Rhonheimer den Liberalismus gegen den konservativ-katholischen Autor Patrick J. Deneen, der in seinem Buch "Warum der Liberalismus gescheitert ist" schreibt, der Liberalismus habe die "'Entfremdung' des Individuums vorangetrieben und dieses schließlich vom bürokratischen Fürsorgestaat abhängig gemacht."
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Europa

Am 3. Oktober 1990 wurde die deutsche Frage endlich gelöst und mit ihr im übrigen die polnische Frage, schreibt Heinrich August Winkler in der Zeit. Und erinnert an die Mentalität, die noch kurz vor der Wende im Westen herrschte: "Dass Deutschland seine Spaltung in zwei Staaten in absehbarer Zeit, wenn überhaupt, überwinden könne, glaubten im Westen vier Jahrzehnte nach der doppelten Staatsgründung von 1949 nur noch wenige. Links der Mitte - im politischen Protestantismus, bei den Grünen und auf dem linken Flügel der SPD - galt die deutsche Teilung inzwischen weniger als Folge des Ost-West-Konflikts denn als Sühne für die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus. Meinungsforscher kamen Ende der Achtzigerjahre zu dem Ergebnis, die DDR werde von einem großen Teil der jungen Generation als fremder Staat mit einer anderen Gesellschaftsordnung und nicht mehr als Teil Deutschlands wahrgenommen."

Putin ist viel schwächer, als er aus der Ferne scheint. Wenn Europa hilft, kann sich die Demokratiebewegung in Belarus durchsetzen, und Putin kann nicht viel dagegen machen, beteuert die französische Russlandexpertin Marie Mendras im Gespräch mit Barbara Oertel von der taz: "Nehmen Sie die Erfahrung mit der Ukraine: Putin schafft Probleme, um dann derjenige zu sein, der die Lösung dieser Probleme blockiert. Das wissen wir seit Jahren und wir dürfen nicht in diese Falle tappen. Der Kreml will Lukaschenko nicht um jeden Preis an der Macht halten, weil er das nicht kann. Moskau hat keinen ernsthaften Plan, um in Belarus einzumarschieren, es gibt dort keine Krim und keinen Donbass. Die Belarussen sind heute alle gegen die Diktatur vereint. Auch die Möglichkeiten Russlands, dort einen Mann Moskaus einzusetzen, sind sehr begrenzt."
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Geschichte

Hohenzollern-Streit in der FAZ, dritte Folge. Einige Historiker hatten sich gestern im politischen Teil der FAZ gegen die Behauptungen der Historikerin Eva Schlotheuber (Vorsitzende des Historikerverbandes) und ihres Kollegen Eckart Conze gewandt, der Stand der Forschung sei eindeutig, die Hohenzollern seien Nazi-Fans gewesen. FAZ-Redakteur Patrick Bahners verteidigt heute in der Leitglosse des Feuilletons die Angegriffenen. "Richtig bleibt: Die vier Gutachten beschreiben Handeln und Denkungsart des früheren Kronprinzen Wilhelm übereinstimmend. Gestritten wird nur darüber, ob das juristische Kriterium des 'erheblichen Vorschubs' erfüllt ist." Davon hängt ab, ob die Hohenzollern weitere Entschädigungsansprüche haben.
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Politik

Im SZ-Gespräch mit Peter Münch glauben der israelische Autor Nir Baram und die palästinensische Menschenrechtlerin Nivine Sandouka kaum noch an den Frieden im Nahen Osten. Über eine mögliche Lösung in Form eines gemeinsamen Staates oder einer Föderation mit dem Namen "Israel-Palästina" machen sie sich trotzdem Gedanken. Baram: "Wir brauchen gemischte Parteien. Nur so kann verhindert werden, dass es ständig darum geht, welches Volk die Mehrheit oder Minderheit stellt." Sandouka: "Als Erstes müssen wir uns auf die Versöhnung konzentrieren. Wir müssen die Geschichte der jeweils anderen Seite verstehen. Danach müssen wir den Fokus auf das Bildungssystem richten. Derzeit wird noch auf beiden Seiten das Narrativ und die Identität der jeweils anderen ignoriert."
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Stichwörter: Baram, Nir, Israel, Palästina, Nahost

Gesellschaft

Ist Geschlecht angeboren oder eine Konstruktion? Sind "Mann" und "Frau" nur Messpunkte auf einer kontinuierlichen Skala? Auf diese Frage antwortet in der Zeit die ehemalige WDR-Reporterin Georgina Kellermann, die einmal Georg war: "Einer meiner besten Freunde ist in Westfalen in der Nähe von Münster aufgewachsen. Streng katholisch erzogen worden. Hat Theologie studiert. Und ist homosexuell. Das wurde ihm in die Wiege gelegt. Das war er, bevor er überhaupt denken konnte. Sein Ehemann kommt aus Kasachstan. Da geht es noch ein wenig konservativer zu. Auch er sagt, die Homosexualität war da, bevor die Erziehung überhaupt einsetzte. Kein ernst zu nehmender Mensch käme doch heute noch auf die Idee, dass Homosexualität 'antrainiert' sein könnte. Ich bin davon überzeugt, dass ich Frau war, bevor ich überhaupt denken konnte. Ich durfte es nur nicht sein, weil die Gesellschaft es nicht zugelassen hat."

Auch bei manchen sich avantgardistisch wähnenden Linken nimmt Corona zuweilen einen recht schweren Verlauf, konstatiert Tania Kibermanis in einem launigen taz-Essay über ihre linken Freunde und deren Corona-Fantasien: "Ob Katholik, K-Gruppe oder Verschwörungsfreund - wer einmal in sehr hermetischen Denkgebäuden heimisch war, für den ist der Wechsel von einem Apartment ins nächste leider nur ein kurzer Weg. Fakten, Quellen und Stringenz fliegen in hohem Bogen aus dem Fenster, die stören nur beim gemütlichen Rückzug allein aufs Narrativ."

Mit einer gewissen Verzögerung sorgt der "Appell für freie Debattenräume" des Publizisten Milosz Matuschek und des Schriftstellers Gunnar Kaiser doch noch für Debatten. Philipp Bovermann und Felix Stephan hatten diesen Text in der SZ als "rechts" entlarvt (unser Resümee). Dagegen wendet sich Ben Krischke bei Meedia: "Dass Erstunterzeichner wie Harald Martenstein, Götz Aly, Vince Ebert, Necla Kelek oder Günter Wallraff nun laut SZ also - auch - zu den 'Köpfen der rechtskonservativen Infosphäre' zählen sollen, ist tatsächlich obskur. Dass Bovermann und Stephan in der Kritik am Appell, der übrigens nicht als Meinungsbeitrag gekennzeichnet ist, ausgerechnet das tun, was darin kritisiert wird - nämlich den Appell als rechten Gottseibeiuns abzukanzeln - entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Wer den Appell unterzeichnet, steht bei der SZ im Kleingedruckten, der darf sich dann auch zur 'rechtskonservativen Infosphäre' zählen lassen. Die Kontaktschuld lässt grüßen."

Es ist keineswegs so, dass Frauen sich im Fall Gabriel Matzneff (Unsere Resümees) oder im Fall des Fotografen David Hamilton, dem Frauen auch erst Jahre später sexuellen Missbrauch vorwarfen, nie äußerten - man hat sie nur nicht gehört, schreiben die Kabarettistin Maren Kroymann und die Romanistin Lieselotte Steinbrügge in der SZ. Als beider Doktorvater Alain Robbe-Grillet in der Zeitschrift lendemains 1980 Hamiltons Fotos in einem Aufsatz würdigte, schrieben Kroymann und Steinbrügge eine Replik: "Was dann geschah, ist sicherlich recht typisch für den Umgang mit feministischen Positionen: Unsere Replik wurde von diesem Professor als so niveaulos und unwissenschaftlich erklärt, dass sie gar nicht diskussionswürdig sei."

Die Satiriker Florian Schröder und Serdar Somuncu starteten vergangene Woche bei radioeins einen neuen Podcast, in dessen Verlauf Somuncu auch auf Cancel Culture zu sprechen kommt. "Es geht mir am Arsch vorbei, ob das Zigeunerschnitzel heißt oder Mohrenwirt. (…) Solange es nicht unter Strafe steht, sage ich Neger", Kritiker seien meist Frauen, "schlecht gefickte, miese, hässliche Schabracken." Es dauerte einige Tage bis der Shitstorm losging und der Sender den Podcast redaktionell bearbeitete. Auf Zeit Online möchte Johannes Schneider das nicht als Satire gelten lassen: "Nichts hier setzt die Stelle und den Tonfall kenntlich zum persönlichen Gespräch davor und zur Behauptung 'Ehrlichkeit' ab, vielmehr kritisiert Somuncu unmittelbar danach die stete Rollen- und Ebenenbehauptung einer Lisa Eckhart. Das lässt sich durchaus auch als Appell an Protagonistinnen des Kabaretts verstehen, sich eben nicht hinter Figuren zu verbergen, und macht die Behauptung, Somuncu habe zuvor lediglich als Bühnenfigur gesprochen, noch dubioser. Dass der Sender am Mittwochvormittag - übrigens erst auf Zeit-Online-Nachfrage transparent - gemeinsam mit der Pöbelpassage auch gleich diesen Schlenker verschwinden ließ: nicht ganz unpraktisch aus seiner Sicht."

"Wer sich die Mühe macht, sich die volle Pracht der Somuncu-Tiraden anzuhören - aber wer macht das schon in Zeiten des flüchtigen Scrollens? -, der hätte die Versuchsanordnung durchschauen können", meint indes Harry Nutt in der Berliner Zeitung: "Schroeder und Somuncu legen sie freimütig bloß. Jeder habe das Recht auf Diskriminierung, erläutert Somuncu. Er wolle nicht länger Opfer, sondern auch Täter sein. Was es zu beweisen galt. Der Podcast ist ein performativer Akt, der hart an die Schmerzgrenze des guten Geschmacks geht, um am Ende doch eine Art höhere Moral zum Vorschein zu bringen. Aber reicht das aus zur Entlastung?"

Im Tagesspiegel-Interview spricht der Autor JJ Bola, dessen Buch "Sei kein Mann" gerade erschienen ist, noch einmal über toxische Männlichkeit und die Stereotype, mit denen heterosexuelle Männer heute zu kämpfen haben.
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