Vorgeblättert

Leseprobe zu Joachim Kalka: Die Katze, der Regen, das Totenreich. Teil 1

16.02.2012.
"Das haben wir gleich!" Zauberei der Improvisation

     "… er war eigenartig geschickt in allen möglichen Dingen, die ich ohne den geringsten Nutzen waren – eine Art improvisierter Zauberei; er ließ fünfzehn Streichhölzer sich nacheinanderentzünden wie ein richtiggehendes Feuerwerk oder schnitt eine Banane oder etwas dergleichen zu einer tanzenden Puppe zurecht. Er hieß Isidore Smythe, und ich sehe ihn noch vor mir, mit seinem kleinen dunklen Gesicht, wie er an die Theke tritt und aus fünf Zigarren ein hüpfendes Känguruh macht."
CHESTERTON, Der unsichtbare Mann

Ein Zauberkünstler fasziniert uns auf doppelte Weise: Er suggeriert das Unmögliche, die Verwandlung von Wasser in Wein, und regt alte magische Ahnungen in uns; aber er besitzt auch ein überwältigendes Körpergeschick, eine präzise Agilität der Hand wie nur ein Trickdieb oder ein Chirurg. In seiner Gegenwart wollen wir noch einmal an kleine Wunder glauben, während das größte davon schon jetzt die Virtuosität der Finger ist – die als "Prestidigitation" ja seinem Handwerk einst einen Namen gegeben hat. Und am schönsten stellt diese Kunstfertigkeit sich dar, wenn sie sich scheinbar ungeplant irgendwelcher herumliegender Gegenstände bemächtigt und eine Serviette, einen Weinkorken oder eine Zigarettenschachtel zu Sprüngen und Wahrsagungen animiert. Die scheinbare Beiläufigkeit, die Geste des Was-haben-wir-denn-da läßt sich heutzutage auf der Bühne des Variétés oder im Fernsehstudio nur noch begrenzt inszenieren, aber auf dem Höhepunkt der Salonmagie boten sich ideale Voraussetzungen für den kunstvoll planlosen Griff nach dem sorgfältig präparierten Zufallsrequisit. Auch die Vorstellungen vor großen Auditorien hatten meist – durch eine weniger rigide Anordnung der Sitzplätze in Ballsälen oder Empfangsräumen – etwas Informelles, das die Illusion des Spontanen begünstigte. "Aber Herr Graf", läßt Robert-Houdin in seinen Memoiren den Papst immer wieder "mit bezaubernder Treuherzigkeit" sagen, "wie bringen Sie das nur alles fertig?"
     Dies "alles" gehörte ursprünglich zu einer allgemeinen Kunstfertigkeit, mit den Dingen der Welt umzugehen. In den alten Zauberbüchern des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die zwischen der genuinen Magie und den Do-it-yourself-Handbüchern unserer Zeit stehen, findet sich ein buntes Bündel von Anweisungen, sich durchs Leben zu schlagen – wie man Wölfe fängt, die Fallsucht kuriert oder den Teint schneeweiß macht, dazwischen dann Instruktionen für das, was wir heute Zauberkunststücke nennen würden. Bei Johann Wallbergen (1769) stehen beispielsweise zwischen Sommersprossenkuren und Wetterregeln die Anleitungen, "Einen Brief in ein Ei zu bringen" oder "Feuer ohne Mühe und Schaden aus dem Mund zu speien". Bei gewissen barbarischen Spielereien wie "Zu machen, daß ein gebraten Huhn aus der Schüssel lauffe" (in der Taschenspieler- Kunst, 1768) wird bereits sinnfällig, daß der Zauberkünstler sich alles und jedes zum willfährigen Objekt präparieren möchte; er ist jedoch auch der Treuhänder einer alten Verwandlungssehnsucht, und das "Hokuspokus" wird nicht von ungefähr als blasphemisches Jahrmarktsecho der Meßformel hoc est enim corpus meus erklärt. Noch im Salon werden Mysterien der Wandlung zelebriert.
     Es zeigt sich hier eine Utopie der schrankenlosen Kontrolle über die formbar gewordenen Dinge, einer Kontrolle, die uns gerade in ihrer scheinbaren Beiläufigkeit besonders fasziniert; und es ist noch dazu die Utopie des freiwilligen Gehorsams, als würden die Gegenstände im Flug durch die Luft nicht in eine genau berechnete Fron gezwungen, sondern freuten sich mitzuspielen (wie bei der Dressur im Zirkus ein Gutteil des Zaubers aus der fast immer irrtümlichen Vorstellung erwächst, sie mache den Tieren Freude). Diese Inszenierung genialer Kontrolle kann man im Zusammenhang mit der musikalischen Virtuosität sehen, deren eigentlicher Ort ebenfalls der Salon war und die ihren tiefsten Reiz auch aus der Überschreitung der gewohnten Grenzen des Möglichen zieht, vor allem, was die Geschwindigkeit angeht – die ganze Kunst ein einziger Teufelstriller (was dem Virtuosen, der, wie Robert Schumann abfällig bemerkt, "nichts hat als seine Finger", die Verachtung des Künstlers einträgt). Schnell muß es gehen, bekennt noch der alte Ruf des Varietekünstlers: hey presto! Und wie alles, was schnell gehen soll, tendiert das Virtuosentum zum Desaster. Wie das Scheitern der angeblichen Virtuosität am Klavier zu den klassischen Clownsnummern gehört, so ist ein zusammenbrechendes Zauberprogramm ebenfalls eine komische Inszenierung von großer Beliebtheit: Ein hübsches Beispiel als scheiternde Zauberkünstler bieten Laurel und Hardy in dem MGM-Film Hollywood Revue of 1929.
     Es gibt wohl nur noch einen einzigen anderen Ort, wo die virtuose, das Magische streifende Beherrschung des Objekts – jeglichen Objekts, nicht nur ausgewählter Gegenstände wie eines Balles oder fünf brennender Fackeln – eine solche Bedeutung hat: das ist die Stummfilmkomödie. Hier rennt eine ganze Studiobevölkerung von Clowns und Akrobaten herum und jongliert mit der Haushaltseinrichtung. W. C. Fields zeigt seine alten Music-Hall-Tricks mit Zigaretten und Billardqueues, Harold Lloyd verwandelt die Fassade eines Hochhauses in einen vertikalen Parcours der Mißgeschicke und der rettenden Griffe.
     Zu den Qualitäten dieses improvisatorischen Slapsticks gehört wiederum etwas, das durchaus an alte magische, initiatorische Vorstellungen anschließen will – an den in die Urgeschichte aller Zivilisation gehörenden Topos der Verwandlung. Der überraschte Einbrecher im Herrenzimmer springt in die Nische, wo die zerbrochene Statue stand, rammt sich die Hand ins Hemd und erstarrt: Napoleon. Der hingekauerte Harpo Marx wird mit übergeworfener Decke zum Sessel, in dessen Tiefe eine Blondine mit überraschtem Schrei versinken kann. Aber der größte Zauberer der Objektbeherrschung regiert die Welt mit unwandelbar regloser Miene.
     Buster Keatons berühmter Film The General ist die Geschichte eines kleinen Angestellten (eines gewissenhaften Lokomotivführers), der gerne ein Held wäre, dem die Gelegenheit dazu jedoch offiziell versagt wird: Wegen seiner kriegswichtigen Tätigkeit kann er nicht als Freiwilliger der konföderierten Armee in den amerikanischen Bürgerkrieg ziehen. Nun wird er dennoch hinter den Linien in ein Spionageabenteuer verwickelt, das den Helden in ihm zum Vorschein bringt; bei den noch heute visuell stupenden Verfolgungsjagden über alte Eisenbahnstrecken – keine andere amerikanische Stummfilmkomödie und wenige andere Filme der Zeit überhaupt geben einen solchen Eindruck von Landschaft und weiten, leeren Räumen – verfolgen einander auch die vertrackten Objektepisoden, die rasch und improvisatorisch gemeisterten Schwierigkeiten. Viele dieser Aktionen gleichen genial angemessenen Übersprungshandlungen. Emblematisch: Keaton verfolgt mit seiner Lokomotive – dem "General" – eine andere Maschine, die Verfolgten werfen Langholz auf die Gleise, um ihn zu stoppen. Keaton steigt hastig ab, läßt seine Lok langsam weiterfahren und rennt ihr voraus, um den ersten Baumstamm vom Gleis zu stemmen. Er hält, auf den Schienen stehend, schwankend die schwere Last in beiden Händen, als ihn von hinten der eigene Kuhfänger erfaßt: Da liegt er, immer noch mit dem Baumstamm beschwert, und der nächste auf den Schienen wird bereits vor ihm sichtbar. Keaton hebt nun mühsam, aber mit exakter Sicherheit seinen Stamm hoch und wirft ihn schräg so auf den nahenden zweiten, daß dieser durch den Aufprall hochhüpfend vom Gleis gehebelt wird – Problem B verschwindet mit der Lösung von Problem A; das hat etwas von der befriedigenden Logik gewisser Züge beim Schach. Nicht ohne eine eigentümliche Unheimlichkeit zeigt sich dieses erlösende Glück im Umgang mit Objekten auch an anderer Stelle, als Keaton, der mit ausholenden Bewegungen seines Säbels eine Artillerieposition kommandiert, schließlich einen Heckenschützen (der einen Soldaten nach dem anderen von der Kanone weggeschossen hat und nun Keaton selbst zu erlegen droht) mit der sich unbemerkt vom Griff des Säbels lösenden, durch die Luft geschleuderten und im Rücken des Schützen steckenbleibenden Klinge tötet. So führt noch der defekte Gegenstand zum verdient unverdienten Triumph. Solche Ballette, in denen die widerspenstigsten und klobigsten Objekte plötzlich einverständig einer geheimen Logik gehorchen, mehr noch: in denen sie mitspielen zu wollen scheinen, sich auf die Bahn unserer Wünsche drängen, sind Zauberei. Wir können alles, bedeuten sie uns, wenn wir mit einem glücklich tastenden Griff, der einfach sitzt, den Schlüsselpunkt der Verwandlung finden, und manchmal bemerken wir es nicht einmal, wie eine mit nachtwandlerischer Sicherheit passende Geste hinter unserem eigenen Rücken alles ins Lot gebracht hat. Hier herrscht eine Plastizität der Dinge, in der das Zuhandene seine uralte Widerspenstigkeit und Feindseligkeit verliert, eine entzückende Disponibilität, eine für alles aufgeschlossene Freundlichkeit der Objekte, die nicht länger tückisch und gleichgültig liegenbleiben, sich verweigern oder gar zurückschlagen. Wenn die abreißende Vorderfront eines Hauses im Hurrikan auf Keaton stürzt, umrahmt sie ihn, der unverletzt und reglos stehen geblieben ist, nur gleichsam zärtlich mit der Öffnung des obersten Fensters.

zu Teil 2