Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.05.2004. In der Welt beschreibt der Historiker Paul Kennedy die unvermeidliche Entartung jedes Krieges. Und Andre Glucksmann beschreibt die tschetschenischen Rebellen als Anti-Terroristen par excellence. Die NZZ belauscht den verbalen Pingpong in der Pariser Banlieue. In der FR wundert sich Richard Wagner über die Ignoranz der Deutschen gegenüber gebildeten Einwanderern. Spiegel-online sieht den Westen am Boden. In der SZ kritisiert Richard Overy die Entmenschlichung des Terroristen. Die FAZ fragt, warum im Mannesmann-Prozess Laien- und Ersatzrichter in die Kantine geschickt wurden.

Welt, 12.05.2004

"Uns steht ein turbulenter Ritt bevor. Wer einen Krieg beginnt, sollte niemals glauben, er könne dessen Entartung und Konsequenzen kontrollieren", schreibt der amerikanische Historiker Paul Kennedy angesichts der desaströsen Entwicklung im Irakkrieg. "Krieg ist die Hölle. Wie Clausewitz an vielen Stellen gewarnt hat, hört er selten so auf, wie man es geplant hatte. Darüber haben die neokonservativen Strategen nie nachgedacht. Diese Art von moralischer Entartung haben selbst diejenigen höheren Militärs nicht vorhergesehen, die sich von Anfang an Sorgen machten, dass die Nachkriegsphase im Irak nicht angenehm werden würde. Und die mittleren Dienstränge, die sich um die Härte und Tapferkeit ihrer Truppen kümmerten, haben ab und zu vergessen, die Regeln des Krieges zu beachten. Jetzt ist die gute Leistung beschmutzt." Aber das, so Kennedy, liegt in der Natur des Krieges. Weshalb man besser keinen anfangen sollte.

"Was will der Westen? Auf das Schlimmste warten? Dass sich das afghanische Szenario wiederholt?" Auf den Forumsseiten fordert Andre Glucksmann den Westen auf, mit den tschetschenischen Rebellen zu verhandeln, denn diese haben bisher weitgehend auf terroristische Akte gegen Zivilisten verzichtet. "Anti-Terroristen nenne ich die Widerstandsarmee, die sich gegen diesen Repressionsapparat auflehnt, und dabei alles versucht, das Leben von Zivilisten zu schonen. Das Attentat vom 9. Mai 2004 war ein Akt des antiterroristischen Widerstands par excellence. Man nimmt den Scharfrichter und seine Helfershelfer ins Visier und tötet ihn. Anstatt nun Putin weiterhin zu feiern, und ihm ein weiteres Mal grünes Licht zu geben, während man diesen Akt des begrenzten Krieges verdammt, sollten die demokratischen Regierungen diesem pyromanischen Feuerwehrmann dieses Mal in den Arm fallen."

NZZ, 12.05.2004

Marc Zitzmann schickt einen lebhaften Bericht aus den Banlieues Frankreichs, deren Bewohner eine eigene Sprache erfinden, die inzwischen auch die Wissenschaftler interessiert. David Lepoutre hat dem Thema eine ethnografische Studie gewidmet, 'Coeur de banlieue. Codes, rites et langages'. "Der Autor hat zwanzig Monate lang neben der berüchtigten Cite des Quatre-Mille bei Paris gewohnt und dort in der Schule unterrichtet. Lepoutre beschreibt das Ritual der Wortgefechte, bei denen sich zwei Halbwüchsige vor versammelten Gleichaltrigen bekämpfen. Die bei dem verbalen Pingpong hin und her fliegenden 'Vannes' (neckende bis verletzende Sticheleien) werden vom 'Publikum' augenblicklich als gelungen ('mortel!') oder lausig ('pas marrant!') eingestuft; neben der 'Qualität' der jeweiligen Beschimpfung, die kurz, trocken und grausam sein muss, zählen auch die Lautstärke und die Geschwindigkeit der Diktion. Wem die entscheidende Reaktionsschnelligkeit fehlt, dem helfen Kompendien wie das dreibändige 'Ta mere' des Radio- und TV-Moderators Arthur. Die darin aufgelisteten 'Vannes' sind nicht just poetisch, doch machen einige zumindest schmunzeln. Etwa: 'Bei dir zu Hause ist es so klein, dass selbst die Kakerlaken bucklig sind.'"

Weitere Artikel: Christoph Egger stellt das Programm der Filmfestspiele in Cannes vor, die heute mit Pedro Almodovars "La mala educacion" eröffnet werden. Der ist allerdings eine "herbe Enttäuschung". Besprochen werden die Tournee des Tonhalle-Orchesters mit dem Pianisten Leif Ove Andsnes durch die USA und Bücher, darunter Steinunn Sigurdardottirs "außergewöhnlicher" Roman "Gletschertheater" und Andre Acimans Buch über "Hauptstädte der Erinnerung" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 12.05.2004

Der Schriftsteller Richard Wagner, selbst Rumäniendeutscher, schüttelt den Kopf über die Ignoranz der Deutschen gegenüber den Einwanderern. "Die gesamte Aussiedlerproblematik bleibt für große Teile unserer Öffentlichkeit auf das Pfingsttreffen der Vertriebenen reduziert. Dass ein Peter Maffay oder ein Oskar Pastior aus Siebenbürgen stammen und die Eltern des Außenministers Ungarndeutsche sind, fällt kaum ins Gewicht. Wenn ein Präsidentschaftskandidat auftaucht, dessen Wurzeln in Bessarabien liegen, blickt man ratlos auf die Landkarte. Deutschland weiß das Potenzial seiner Einwanderer nicht zu nutzen. Wie viele Akademiker unter den russischen Juden, die seit 1990 in unser Land kamen, sitzen in der Sozialhilfefalle? Keiner fragt sie, was sie können."

Weiteres: Angeregt von einem Vortrag des Historikers Jürgen Kockafragt Johannes Wendland, wieso der Begriff der Freiheit "in der Sozialdemokratie, ja in der deutschen Geschichte insgesamt" immer nur "einen Platz in der zweiten Reihe zugewiesen bekam". Daniel Kothenschulte erklärt, warum er sich nicht so recht auf Cannes freuen mag. Auch Martina Meister sieht in Times mager dunkle Wolken über der Cote d'Azur aufziehen. Besprochen werden die Ausstellung zu Eduard Mörike im Marbacher Schiller-Museum, die Willi-Baumeister-Schau im Münchner Lenbachhaus, Peter Konwitschnys Inszenierung von Luigi Nonos Klangmonument "Unter der Großen Sonne von Liebe beladen" in Hannover und Bücher, darunter Kafkas Brief "an den Vater" und James Kelmans Roman "Spät war es, so spät" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 12.05.2004

Der britische Historiker Richard Overy versucht, die Misshandlungen irakischer Gefangene zu erklären, nicht ohne daraufhin zu weisen, dass uns diese "Barbarisierung des Krieges" seit der deutschen Besetzung der Sowjetunion bekannt ist. Doch anders als an der Ostfront oder später in Vietnam, meint Overy, sind es im Irak nicht widerwillig rekrutierte Wehrpflichtige, sondern "hochprofessionelle" Soldaten, deren Verwilderung erschrecken muss. "Die Hauptschuld trägt George Bushs Wort vom Krieg gegen den Terror. Es hat die Illusion entstehen lassen, im Nahen Osten stelle jeder Mensch eine potenzielle Bedrohung dar. Das Wort 'Terrorist' wurde schon von den Nazis auf die Widerstandskämpfer in allen besetzten Gebieten angewandt. Heute ist 'Terrorist' ein Gattungsbegriff für dämonisierte Fanatiker, die nach allgemeiner Ansicht zu den schlimmsten Gräueltaten fähig sind. So hat man die vermeintlichen Feinde im Irak entmenschlicht, so wie es die deutsche Propaganda 1941 mit den Sowjetsoldaten tat, die sie so zur Misshandlung und Exekution freigab."

Ein unter dem Pseudonym Jan Roussau schreibender Autor untersucht den Stillstand im saudischen Königsreich, in dem die zehntausend Prinzen ein undurchdringliches Machtgeflecht bilden: "Eine ernst zu nehmende politische Transformation wird es nur geben, wenn ein Großteil der Familie politisch und materiell enteignet wird oder zumindest an eine weit kürzere Leine genommen. Kronprinz Abdallah hat zwar seine Halbbrüder und Neffen dazu aufgefordert, endlich ihre Telefonrechnungen zu begleichen. Aber es ist unklar, ob dies viel mehr war als ein symbolischer Schritt. Doch bis jetzt hat der Nepotismus im großen Stil das System zusammen gehalten."

Weiteres: Thomas Steinfeld fragt sich, ob die "akademischen Bürokraten" der Bayerischen Rektorenkonferenz wirklich glauben, die Zersplitterung der Wissenschaft aufhalten zu können. Reinhard J. Brembeck gibt einen Ausblick auf die Münchner Biennale für neues Musiktheater, die heute zum neunten Mal beginnt. Wolfgang Schreiber interviewt dazu den künstlerischen Leiter Peter Ruzicka. Christine Burtscheidt fordert tiefgreifendere Reformen an deutschen Schulen als nur eine Schulzeitverkürzung.

Besprochen werden Wolfgang Petersens "Troja", das Fritz Göttler zu einer "Musterstadt von edler Einfalt und stiller Größe" verkommen findet, die große Houdon-Schau in Versailles und Bücher, darunter die Tagebücher der beiden Pioniere Meriwether Lewis und William Clark (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 12.05.2004

In Spiegel Online fürchtet Reinhard Mohr, dass sich mit den Folterbilder aus dem Gefängnis Abu Ghraib nicht nur die Regierung Bush, sondern der gesamte Westen desavouiert ist - "und mit ihm die Rede von Demokratie und Menschenrechten, von Aufklärung und Zivilisation überhaupt". "Plötzlich bekommt der 'Clash of Civilizations', Leitbegriff des amerikanischen Politologen Samuel Huntington, einen ganz anderen Akzent. Plötzlich erscheint die arabisch-muslimische Welt tatsächlich als Opfer des eroberungswütigen christlich-kapitalistischen Westens - von der Gier nach Öl bis zur flagranten Demütigung der islamischen Gesellschaft. Alle düsteren Verschwörungstheorien, die Amerika und den Westen immer und überall für das Unheil in der Welt verantwortlich machen, finden nun ihre bequeme, dabei schrecklich glänzende Rechtfertigung....Dem demokratischen Westen wird buchstäblich der Teppich unter den Füßen weggezogen. Seine moralischen Werte erscheinen nun, und das auch noch aktenkundig, wie die pure Heuchelei, und selbst die krudesten Vorurteile über seine angebliche Dekadenz finden in den folter-pornographischen Szenerien ihre scheinbar unwiderlegliche Bestätigung.""

TAZ, 12.05.2004

Sebastian Moll sinniert über die Fotos aus dem Irak, die zunächst als Instrumente der Folter gegen die irakischen Gefangenen eingesetzt wurden und sich nun gegen die Folterer selbst richten: "Die nackte Evidenz des Fotos, so die Fototheorie von Barthes bis Sontag, sagt nichts über seine Bedeutung aus - das Foto braucht die Bildunterschrift. Die rhetorische Kraft eines Fotos kann beinahe beliebig eingesetzt werden, je nachdem in welchen politischen oder ideologischen Kontext man es stellt. Das gerät nun den Folterern von Abu Ghraib zum Verhängnis. Die Evidenz der Grausamkeit schockiert nicht mehr nur die Häftlinge von Abu Ghraib, sondern die ganze Welt. Die Bildunterschrift lautet nun nicht mehr, an die Gefangenen gerichtet: 'Schau, das kann dir passieren!', sondern sie richtet sich an die Weltöffentlichkeit und lautet: 'Amerikaner sind Folterer.'"

Diedrich Diederichsen freut sich, dass beim Franz-Ferndinand-Konzert in Berlin der "nasale, arrogante, ewig britische Ton" in der guten Laune unterging. Cristina Nord eröffnet die Filmfestspiele von Cannes. Auf einer vorderen Seite feiert sie außerdem die neuen "jungen Selbstbewussten" des deutschen Kinos.

Und schließlich TOM.

FAZ, 12.05.2004

Walther Grasnick kritisiert das "Rechtsgespräch" im Mannesmann-Prozess: Es fand statt nur zwischen Berufsrichtern, Staatsanwälten und Verteidigern, also "unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Und unter Ausschluss der Laienrichter. Auch der Ersatzrichter. Sie alle wurden in die Kantine geschickt oder sonstwohin." Allerdings seien "die wenigen Fälle, in denen das Gericht die Öffentlichkeit ausschließen darf, in der Strafprozessordnung peinlich genau und abschließend geregelt. Darauf sind wir in einem Rechtsstaat stolz. Doch keine dieser Ausnahmen lag hier vor."

Weitere Aritkel: Lorenz Jäger erinnert an Gustav Schwab und Heinz Schliemann, die sich schon vor Brad Pitt für Troja interessierten. In seinem Artikel weist er außerdem darauf hin, dass Schliemann in Troja eine Entdeckung machte, die heute gern verschwiegen wird: Hakenkreuze. Im Machtkampf um den Hauptstadtkulturfond geht es nicht um die Künste, meint Rh. in der Leitglosse, sondern nur um eins: den "Einfluss von Adrienne Göhler". Paul B. Baltes, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, fordert für Deutschland "eine neue Struktur des ganzen Lebens von der Kindheit bis ins hohe Alter". Zu diesem Zweck sollte vor allem mehr Geld in die Altersforschung investiert werden.

Mark Siemons hat in der American Academy einem Vortrag von Jürgen Kocka über Freiheit zugehört. Burkhard Spinnen gratuliert der Schriftstellerin Eva Demski zum Sechzigsten. WWS. schreibt zum Tod des Jazzmusikers Barney Kessel. Angelika Heinick stellt ein Buch über Pablo Picassos Polizeiakte vor ("Pablo Picasso - Dossiers de la Prefecture de Police", Editions Acatos). Jürg Altwegg meldet, dass die Schweiz über die Einführung der Buchpreisbindung nachdenkt, seit französische Konzerne wie Fnac die Westschweiz mit billigen Büchern überschwemmen.

Auf der Medienseite annonciert Michael Hanfeld vier digitale Olympiakanäle der Öffentlich-Rechtlichen. Gina Thomas berichtet über den Prozess gegen den Zeitungsverleger Conrad Black, der auf 1,25 Milliarden Dollar verklagt wird. Auf der letzten Seite porträtiert Edo Reents den Schlagzeuger Zak Starkey, Sohn des ersten Beatles-Schlagzeugers, der jetzt für Oasis trommelt. Richard Kämmerlings schickt eine Reportage vom verwirrenden Leben im neuen Peking: so schnell wird dort abgerissen und neu gebaut, dass die Stadtpläne nie aktuell sind. Eleonore Büning bewundert Daniel Barenboim, der in seiner Rede zur Verleihung des Wolf-Preises in der Knesset bewiesen hat, dass er Politisches und Musikalisches nicht trennt.

Besprochen werden die Aufführung von Luigi Nonos "Al gran sole carico d'amore" in Hannover (Peter Konwitschny liefert eine "keusche, Noten wie Buchstaben der 'azione scenica' wörtlich nehmende Regiearbeit" ab, jubelt Eleonore Büning), "Fehlfarben" - die erste gemeinsame Ausstellung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden mit VW, Daniel Goldins neues Tanzstück "Tagelang und Nächtelang" in Münster, eine Retrospektive des Fotografen Rene Burri in Berlin und die Uraufführung von Martin Crimps "Cruel and Tender" in London.