Tagtigall

Fundstücke

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
02.08.2022. Warsan Shire bringt den Krieg mit nach Hause. Roger Robinson imaginiert sich ein Hosentaschenparadies, das an Heines Idee der portablen Heimat erinnert. Tania Skarynkina ahnt, wo der viele Staub im Haus herkommt: Empfehlungen zu schwarzer Lyrik und Lyrik aus Belarus.
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I. Krieg

Beim Streunen, wie ich es vielleicht auch aus weltlagebedingter Ratlosigkeit zuletzt viel getan habe, treibt es mich immer wieder in Gefilde, ohne dass ich wüsste, was ich dort suche. So stieß ich in der von Fiston Mwanza Mujila herausgegebenen Anthologie "Kontinentaldrift. Das Schwarze Europa" auf Gedichte der britisch-somalischen Dichterin Warsan Shire, die mit ihrem Vers "Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn, Zuhause ist das Maul eines Haifischs." aus dem Gedicht "Home/Zuhause" 2015 über Nacht berühmt wurde.

In der Anthologie fand sich auch ihr Gedicht Souvenir, das meine Neugier weckte und mich beim Streunen innehalten ließ.

    Souvenir

    Ich glaube, ich habe den Krieg mitgebracht
    auf meiner Haut, ein Leichentuch
    um meinen Schädel, Dinge, Fragen unter meinen Nägeln.
    Wenn ich fernsehe, sitzt er mir zu Füßen.
    Ich höre bei jedem Telefonat seinen feuchten
    Atem im Hintergrund. Ich spüre, wie er zwischen uns
    im Bett schläft. Er seift mir beim Duschen
    den Rücken ein. Er drückt sich
    am Waschbecken gegen mich.
    Nachts reicht er mir die Tabletten, hält mir
    die Hand, niemals begegne ich seinem Blick.
           
    (Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes und Charlotte Milsch)

Shires Verse verhandeln alltägliche Fremdheit und Bedrohung, nicht nur die eigenen. Ihre Bilder sind drastisch, doch ihre Verse brennen nach Leben, wie vielleicht nur Poesie brennen kann. Soeben ist im S. Fischer Verlag unter dem Titel "Haus Feuer Körper" die deutsche Fassung ihres ersten Gedichtbands erschienen.


II. Paradies

Eine andere große Entdeckung in derselben Anthologie war für mich der britische Dichter Roger Robinson, von dem bislang hierzulande leider noch keine separate Veröffentlichung angekündigt ist. Hier ein Gedicht aus "Kontinentaldrift":

    TRAGBARES PARADIES
    
    Und spreche ich vom Paradies,
    spreche ich von meiner Großmutter,
    die mir riet, es stets bei mir zu tragen
    in meinem Wesen, verschwiegen, so
    dass außer mir niemand davon weiß.
    So können sie es nicht stehlen, würde sie sagen.
    Und falls das Leben dich unter Druck setzt,
    taste nach seinem Falz in deiner Hosentasche,
    rieche seinen Harzduft an deinem Taschentuch,
    summe seine Hymne unter deinem Atem.
    Und falls die Strapaze anhält, zur tagtäglichen wird,
    begib dich in einen leeren Raum - ob Hotel,
    Hostel oder Hütte -, such dir eine Lampe
    und leere dein Paradies auf einem Tisch aus:
    deinen weißen Sand, grüne Hügel und frischen Fisch.
    Leuchte mit der Lampe darauf wie die frische Hoffnung
    des Morgens und behalt es im Auge, bis du schläfst.
                   
    (Aus dem Englischen von Jonis Hartmann)

Weißer Sand, grüner Hügel, frischer Fisch, das imaginäre Hosentaschenparadies (die Illusion der portablen Heimat, von der Heine einst sprach) -  hier als Widerstandsnest. Mag sein, dass Dichtung nichts bewirkt, aber vielleicht kann sie tatsächlich, so Robertson, Traumata in etwas verwandeln, das die Menschen anschauen können. Ein Satz, der auch von Warsan Shire stammen könnte, so verschieden beider Dichtung auch ist.


III. Buddha

In jüngster Zeit tauchen zahlreiche belarusische Stimmen auf. Eine Dichterin, auf deren Bekannterwerden man gespannt sein darf, ist Tania Skarynkina, geboren 1969 in Smarhon, nicht weit von Litauen. Bislang kennt man hierzulande nur wenig, vor allem die Traumprotokolle, die man bei "DECODER" lesen kann, sowie einige Gedichte im Versschmuggel-Band Deutsch-Belarusisch.

Nun ist auf dem diesjährigen 23. Poesiefestival in Berlin eine Anthologie belarusischer Dichterinnen vorgestellt worden, und dazu gab es ein kleines Heft mit Übersetzungen - darunter auch mit Gedichten von Tania Skarynkina. Ihre Lyrik schreibt sie auf Russisch, ihre Prosa auf Belarus, genauer vielleicht auf Smarhonisch, wenn es das gibt; in ihre Texte jedenfalls mischen sich Polnisch und Russisch hinein, denn ihre Herkunftsregion ist vielsprachig und multikulturell - wie das Land, das immer wieder seine Menschen verlor, weil diese vor neuen Machthabern fliehen mussten.

So alltäglich ihre Gedichte scheinen, die Bedrängnis, aus der heraus Skarynkina schreibt, unterminiert jedes ihrer Bilder, ist unheimlich - ein Alptraum:

    staub auf dem kopf des souvenirs

    staub gewischt heute auf dem buddhakopf
    wo bloß der viele Staub im Haus herkommt
    versteh ich nicht

    panzer und spw
    sind doch nun wirklich
    weit weg

    staubig ist der buddha als
    stünde er am straßenrand
    und würfe sich gleich

    vor das kriegsgerät
    ihm den weg zu versperren
    dabei hat er gar keine brust

    (Aus dem Russischen von Andreas Tretner)

Staub? Ja, ja: Alltägliche Rituale wie Hausarbeiten haben immer auch die Funktion, die zerfallende Welt intakt halten zu wollen. Auf den Bildern des kriegszerstörten Kölns meiner Herkunft war ein Staub allgegenwärtig, wie er sich in diesem Gedicht findet, auch nachdem Panzer und Spähwagen längst abgezogen waren. Als Leserin weiß man also sofort, "wo bloß der viele Staub im Haus herkommt", und auch Skarykinas Buddha weiß es und begibt sich im Gedicht stellvertretend für das "ich" in den Widerstand. Dabei hat einer wie er "keine Brust" sprich: keinerlei Neigung zum Heldentum. Poetisch gesehen ragt hier jeder Vers gerade mal so aus dem Staub hervor, dass man sich lesend von einem zum nächsten hangelt.

"Augustregen hat ohne Vorwarnung die Julihitze abgelöst", beginnt ihre Prosa "Die Fremden", die (alp)traumartigen Kollisionen inszeniert. An einer Stelle fragt ein Dichter einen Schauspieler, worum es in Kafkas "Verwandlung" gehe. Wie sollte man diese Erzählung zusammenfassen? Eine Unmöglichkeit, möchte man meinen, doch der Schauspieler antwortet auf eine Weise, die der Dichterin, ihm (und uns Lesern) das Blut in den Adern gefrieren läßt: "Das Schlimmste ist, wenn man nicht gebraucht wird, aber existiert." Vielleicht, so könnte man mutmaßen, sind Gedichte wie der "Falz in der Hosentasche" (Robinson), aus dem der "Harzduft" unserer Existenz sich verströmt.


IV. Heshe - Waschanlage meets Abendrobe

    "Diese Unsicherheit in der dritten Person, die ein 'sie' hat - was schon als
    Wort sowohl die dritte Person Plural als auch ein Singular sein kann -, und die
    Sicherheit, die sozusagen ein 'er' hat. 'Er' ist immer eins." (Barbara Köhler).

Liliane Lijn, Heshe, 1980. Foto: Marie Luise Knott, Venedig 2022


Auf der diesjährigen Biennale in Venedig findet sich inmitten von eher naturverbundenen Frauenporträts eine Skulptur, die unmittelbar ins Auge springt, hergestellt aus grell-lila und grell-orangefarben glänzenden Fasern. Die einen stehen ab wie die Rundbürste einer Autowaschanlage, die anderen fallen verführerisch herab wie die Schleppe einer Dragqueen; ein quadratischer Hohlspiegel bildet den Kopf. Wo die Bürste mit dem Draht als Wirbelsäule die Idee der Bewegung (Drehung) wachruft, sorgt der als Schleppe zu Boden fallende Umhang für Eleganz. Verchromter Stahl, synthetische Fasern und optisches Glasprisma, lautet die Beschreibung. Die vielen "Härchen" bündeln Licht, Bewegung und Attraktion. "Heshe" heißt das Kunstwerk. Eine ErSie also.

Buchstäblich genommen steckt offensichtlich im Englischen in jeder "she" ein "he". Nur das stimmvolle "s" macht den kleinen Unterschied und sorgt dafür, dass der Mann "he" neben der Frau "she" fast unvollständig wirkt. Adam aus der Rippe Evas? Und das ist nicht nur im Englischen der Fall, sondern, wie ich irgendwo erfuhr, in mindestens 15 Sprachen der Welt; darunter auch im Russischen. Anders im Deutschen, wo "sie" und "er" nur das (im Weiblichen stumme) "e" verbindet. Zudem ist das Pronomen "sie" nie eindeutig, es verkörpert neben dem weiblichen Singular den beidgeschlechtlichen Plural. Im Deutschen also ist nur "er" immer ganz bei sich.

Der Name der Künstlerin, Liliane Lijn, "Lein" gesprochen, ist ein Pseudonym. Ihre Eltern waren russische Juden, vor den Pogromen über Antwerpen in die USA geflohen, wo Liliane 1939, vier Monate nach der Ankunft der Mutter zur Welt kam. Welche Sprachen sprach sie? Russisch? Jiddisch? Englisch? Jedenfalls machte sie sich die Kulturbrüche, in die hinein sie aufwuchs, zu ihrem Kunstelexir - in Abstraktionen und Dekonstruktionen. Die Energie der Bewegung prägt ihr Werk. Ihre Zylinder und konisch zulaufenden Säulen sind nicht selten auf Drehmotoren angebracht. Lijn nennt ihre cones gerne auch "Koans" - und erinnert damit an die Koan-Praxis im Zenbuddhismus, die es sich zur Aufgabe macht, Widersprüche aufzulösen und in Nichtzweiheiten zu denken. In "HeShes" zum Beispiel.

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Zum Weiterlesen:

Kontinentaldrift. Das schwarze Europa, hg. von Fiston Mwanza Mujila, Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2021, 25 Euro

Warsan Shire, Haus Körper Feuer. Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head (zweisprachige Ausgabe), dt von Muna AnNisa Aikins, Mirjam Nuenning, Hans Jürgen Balmes, Nachwort: Sharon Dodua Otoo, S. Fischer Verlag, Frankfurt 2022, 24,80 Euro.

VERSschmuggel / Кантрабанда паэзіі. Poesie aus Belarus und Deutschland, hg. von Thomas Wohlfahrt, Alexander Gumz, Karolina Golimowska, Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2022, 22 Euro.