Im Kino

Ein ganz hoher Ton

Die Filmkolumne. Von Janis El-Bira, Ekkehard Knörer
23.04.2020. Kino zum Streamen: Die Regisseurin Jacqueline Audry erzählte in den fünfziger Jahren mit "Olivia" im plüschigen Ambiente eines Mädcheninternats erstaunlich deutlich eine Geschichte von weiblichem Begehren. "The Performer" von Lukasz Ronduda und Maciej Sobieszczanski ist ein verweisreiches Spiel ums Spiel prekärer Künstlerexistenzen, radikaler Kunst und Verrat.


Das Internat auf dem Land ist fast schon ein Schloss: mit seinem großen Foyer, den Nischen und Winkeln und Ornamenten, den Vorhängen, dem Marmor und vor allem den sich nach oben schwingenden Treppen für Auftritte wie gemacht. Und so erscheint Lucie (Edwige Feuillère), die Schulleiterin, gleich nach Olivias (Marie-Claire Olivia) Ankunft auf der Empore, geht wie auf eine Bühne die Treppe hinunter. Drunten das bewegte Gewusel der Mitschülerinnen, auf die Olivias Blick nur in Ableitung fällt. Von den Blicken, die zwischen der Lehrerin Lucie und der Schülerin Olivia hin- und hergehen, von den Gefühlen und dem Begehren, das überspringt, oder immerzu im Übersprung ist, gehemmt und drängend, die Erfüllung umkreisend, davon vor allem erzählt "Olivia", Jacqueline Audrys erstaunlicher, heute fast völlig vergessener, bald siebzig Jahre alter Film.

Erstaunlich genug, dass es ihn gibt, erstaunlich auch, dass es eine Regisseurin wie Jacqueline Audry überhaupt gab. Zur Pionierzeit, als das Kino noch keine etablierte Kunst war, gab es wenigstens hier und da Frauen, die Filme drehten oder, wie Alice Guy, auch produzierten. Später, in den Jahren, in denen sich das Kino zur kommerziellen Kunst mit Studiosystemen und aufwendigen Apparaten professionalisierte, technisch wie ökonomisch, blieben Regisseurinnen weitestgehend ausgeschlossen, wohin man auch blickt. Hier und da gab es singulär bleibende Figuren, Ida Lupino in Hollywood, Tazuko Kazane in Japan, im Nachkriegsdeutschland sucht man freilich lange vergeblich, und zwar in Ost wie in West. Die Kreise des Kinos waren geschlossene Zirkel: Hinter den Kameras Männer weitgehend unter sich, die Sache mit dem male gaze auf die weiblichen Star ist zunächst einmal sehr buchstäblich zu verstehen.

Jacqueline Audry ist die große Ausnahme im französischen Kino, noch vor der heute viel berühmteren Agnès Varda. Sie hatte sich als Assistentin männlicher Regiestars wie Max Ophüls und Jean Delannoy bewährt und drehte dann 1946 ihren ersten eigenen Film. Es folgten weitere, rund zwanzig Jahre lang hatte Audry eine Karriere, immerhin dreizehn Filme entstehen in recht dichter Folge dabei, gleich drei Verfilmungen von Colette-Romanen darunter, auch ein Version von Jean-Paul Sartres Gesellschaftsstück "Geschlossene Gesellschaft". Sie war angesehen, drehte mit Stars wie Arletty und Lino Ventura, hatte Erfolge - und wurde, nicht zuletzt von den Punks der Nouvelle Vague, die mit diesem von ihnen verachteten "Qualitätskino" aufräumen wollten, verdrängt und auch von der Filmgeschichtsschreibung, selbst der feministischen, wenig wahrgenommen.



Und ja, "Qualitätskino" kann man zu einem Film wie "Olivia" sagen, von der ersten wunderbar eleganten Einstellung an, die in einer Kamerafahrt einen Waldweg entlang die zum Internat ratternde Zweipersonenkutsche wie zufällig einfängt und ihr zum Eingangstor folgt. Es fehlt nicht an weichgezeichneten Nahaufnahmen, plüschig bis zum Ersticken ist die Ausstattung, die das Internat mit seinen Schülerinnen und Lehrerinnen in ihren zugleich zugeschnürten und aufgebauschten Kleidern zur geradezu archetypischen Etui-Welt mit Etui-Menschen (Walter Benjamin) darin macht. Es passt dazu der vibrierende Vortrag eines Racine-Stücks durch Edwige Feuillère mit ausgewählten Schülerinnen vor ohnehin stets und gern prasselndem Kaminfeuer: ein ganz hoher Ton, das Theater-Gegenstück der Qualitätskinokunst, die Audry vollendet beherrscht.

Aber gerade das ganz und gar Zugedeckte, das so sichtlich Unterdrückte, Verpackte gibt einen überzeugenden Hintergrund ab für das Überquellen der Gefühle, die sich nicht ausleben lassen, von dem "Olivia" weniger erzählt, als genau diese Dynamik der an die Oberfläche drängenden Unterdrückung selbst abzubilden. Nahe, sehr nahe kommen sich Lucie und Olivia, Olivia im Bett, Wange an Wange, nur unendlich knapp verfehlen die sich suchenden Münder einander. Zur Dynamik, die immer auch Plot wird, auf Leben und Tod, gehört eine Struktur, die Olivia bei ihrer Ankunft schon antrifft: Die Schule ist in zwei Lager gespalten, es gibt die Fans der Direktorin Lucie und jene der schönen, aber leidenden blonden Miss Cara (Simone Simon) - beide sind einander in einem eigentümlich inexplizitem eifersüchtigem Kampf um die Liebe der Schülerinnen verbunden.

Wo Lucie aufrecht auftritt und aufrecht noch sitzt, ist Cara ganz Liegen, im Bett, mit Migräne, umsorgt von der strengen Frau Riesener, Inbegriff des kalten, drohenden Deutschen, mit einem um den Kopf geschlungenen Zopf, der die Person gegen das Fließende, das der von ihr geliebten Cara eignet, abdichten soll. Olivia hat nur Augen, und Seele und Liebe, für Lucie, verfällt ihr. Und Lucie verfällt ihr, daraus macht der Film nicht das geringste Geheimnis, zurück. Die Liebe, wie alles homosexuelle Begehren, das noch auf ganz anderen Wegen zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen kursiert und sich in Unterbrechungen und Umleitungen aufstaut, bleibt unerfüllt - oder erfüllt sich nur in seiner, für eine der Beteiligten tödlichen Unerfülltheit. (Männer übrigens kommen so gut wie gar nicht, nennenswert nur in einer einzigen Szene vor, in der man in erster Linie ihre Hinterköpfe zu sehen bekommt.)

Wie unverblümt Jacqueline Audrys Film von diesem Begehren spricht, von seiner Kostümwelt eher betont als verdeckt, wie deutlich die Worte und Bilder sind, die sie findet, wie explizit sie herausstellt, welches Unglück die Not und Notwendigkeit des Impliziten bedeutet, ist schlicht verblüffend. Und ein Film wie "Olivia", frisch restauriert noch bis Juli in der Arte Mediathek zu sehen, macht deutlich, dass den herkömmlichen Erzählungen der Filmgeschichte nie zu trauen ist: Es gebührt ihm und seiner Regisseurin Jacqueline Audry darin ein wichtiger Platz.

Ekkehard Knörer

Olivia - Frankreich 1951 - Regie: Jacqueline Audry - Darsteller: Edwige Feuillère, Simone Simon, Marie-Claire Olivia, Yvonne de Bray, Sudanne Dehelly - Laufzeit: 88 Minuten. "Olivia" ist als französische Import-DVD erhältlich und noch bis 7. Juli bei Arte zu sehen.

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Geschmolzenes Silber, sagt der Künstler Oskar Dawicki, habe man dem Verräter eines Geheimnisses im Mittelalter in den Rachen gekippt. Härtete es aus, sei so eine schöne Skulptur des oberen Verdauungstrakts entstanden. Die Silberringe seiner Geliebten und Agentin befingert Dawicki in "The Performer" da schon mit regem Interesse. Natürlich wird er sie schmelzen und schließlich eine Apparatur entwickeln, die ihm - er ist schließlich Radikalperformer - das blubbernde Edelmetall tatsächlich in den Schlund befördert. Sein versilberter Ösophagus wird anschließend als bleibendes Werk auf einen Markt geworfen, der den Künstler selbst wortwörtlich ausgebrannt hat. Eingegangen an der Unverkäuflichkeit flüchtiger Performancemomente und doch verewigt in deren höchstem, selbstauflösendem Moment. Das Werk steht, aber der Preis ist zu heiß. The artist is absent.
 
Eine hochpathetische Symbolklammer legen Łukasz Ronduda und Maciej Sobieszczański um ihren Film, der 2015 in der Berlinale-Sektion "Forum Expanded" lief, und der nun auf der Streaming-Plattform des Berliner Arsenal-Kinos zu sehen ist. Pathetisch, aber nicht witzlos. Zu tun hat das auch damit, dass die Protagonisten keine Erfindung, sondern Filmversionen ihrer selbst sind. Was aber nicht, und da wird es erst interessant, damit zu verwechseln wäre, dass sie sich "selber spielen". Oskar Dawicki jedenfalls, soviel ist sicher, zählt tatsächlich zu den bekannteren polnischen Performance- und Aktionskünstlern. Auch die Speiseröhrenskulptur "Speech is Silver" stammt wie überhaupt alle im Film gezeigten Werke und Aktionen von ihm. Anders als der Abspann des Films behauptet, ist Dawicki hierbei jedoch nicht zu Tode gekommen, ist nicht gänzlich eins geworden mit seiner Arbeit. Auch sein ebenfalls als er selbst im Film auftretender (und gleichfalls sterbender) Mentor Zbigniew Warpechowski ist eine verbürgte Figur, wie Wikipedia und eingesprengte, dokumentarische Archivaufnahmen in "The Performer" belegen. Jemand, der verstört haben muss in der Hochzeit der Happenings und Aktionen in den 60er und 70er Jahren - auch durch eher zweifelhafte Nummern mit lebenden Tieren, wie man hier sehen kann und muss, aber eigentlich nicht will.
 


Zum Sterbebett dieses dahinsiechenden Altmeisters ist Oskar Dawicki im Film unterwegs. Auch das ist hochgradig bildlich zu verstehen, denn Warpechowski verkörpert in den Augen seines ehemaligen Schülers den Verrat an der Kunst und deren Kommerzialisierung. "Is performance art dead?", fragt zu Beginn eine Tonbandstimme. "I don't know", sagt Dawicki und beweist dann doch das Gegenteil - aber gleichzeitig eben auch das Gegenteil vom Gegenteil. Denn die flüchtigen Artefakte, die von seinen Performances herabfallen und zurückbleiben, reichen zwar noch für den Wodka in der Absturzkneipe, aber kaum mehr für die Miete.
 
Damit ist aber auch schon mehr Plot versprochen, als "The Performer" einlöst. Denn eigentlich geht es nicht um prekäre Künstlerexistenzen oder eine narrative Verhandlung der Frage nach Wesen und Wert der Kunst, sondern vielmehr um ein verweisreiches Spiel ums Spiel: Man sieht dem "echten" Oskar Dawicki als einer Art filmischem Avatar seiner selbst dabei zu, wie er seine eigenen Performances für den Film, nein: für die Handlung des Films rekreiert. Deren Unbedingtheit zerlegt sich dabei in die Bestandteile einer schnöden Betriebssatire, wenn zu Davickis suizidalen Entgrenzungen die Sektgläser umgehen. Immer unauflöslicher scheint bald, wie ernst es der Film mit seiner dauerrauchenden und versonnen in die Ferne stierenden Figur tatsächlich meint. Für die Kunst selbst scheint die Sache hingegen klar: Die zuvor anzitierten und nachgestellten Werke und Auftritte Dawickis werden im Abspann wie Mitwirkende aufgereiht. Deren eigentlicher Ort ist eindeutig ein anderer. Ihre Übertragung in den Film ist zwar keine Totgeburt, hinterlässt mit der Filmfigur Oskar Dawicki aber immerhin eine Leiche.

Janis El-Bira

The Performer - Polen 2015 - Regie: Łukasz Ronduda, Maciej Sobieszczański - Darsteller: Oskar Dawicki, Zbigniew Warpechowski - Laufzeit: 65 Minuten. "The Performer" ist via arsenal 3 zu sehen