Im Kino

Hemmungslose Cinephagie

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk, Jochen Werner
01.04.2021. Virgil Vernier nimmt uns in "Sophia Antipolis" mit in den gleichnamigen Technologiepark an der Cote d'Azur, vor dessen Kulisse sich langsam die Realität auflöst. Und ein kleines Liebeslied auf den Horrorfilmer Charles Band und seinen Streamingservice "Full Moon Features": eine große Wundertüte, angefüllt mit 40 Jahren Genre- und Exploitationfilmgeschichte.


Surreal, mystisch, metaphysisch - mit diesen Worten wird das filmische Werk des Franzosen Virgil Vernier fast ohne Ausnahme kommentiert. Man könnte sagen, Verniers Filme sind Dystopien oder Science Fiction der besonderen Art. Sie sind in der Gegenwart verortet, oft mutet das Fiktionale sehr dokumentarisch an, so dass man sich fragen muss, was davon inszeniert und was nur beobachtet ist. Dabei wirken die Bilder des Alltäglichen wie von einem anderen Planeten. Surreal, mystisch, metaphysisch - was genau die besondere Stimmung dieser Filme auszeichnet, ist nicht so leicht zu bestimmen. Irgendetwas ist anders, verschoben, verloren oder neu kombiniert. Verniers Blick auf die Welt ist ein außergewöhnlicher.

Im Fall von "Sophia Antipolis" scheint ein Name die Narration in Gang zu setzen: Der titelgebende Technologiepark an der Côte d'Azur, gelegen zwischen Nizza, Cannes und Antibes. Den Gebäudekomplex gibt es wirklich, er wurde in den 1970er Jahren als "das französische Silikon Valley", ein Ort des Arbeitens und des Forschens, aufgebaut. Verniers Film macht aus diesem konkreten Ort einen Topos, kultiviert das Rätselhafte, das im zugleich antik und futuristisch klingenden Namen steckt.

Es beginnt damit, dass drei junge hübsche Frauen in einer Schönheitsklinik ein Beratungsgespräch für eine Brustvergrößerungs-OP führen. Sie wollen es sehr, sind sich sicher. Nach und nach weicht der diesen Szenen innewohnender Humor einer deutlich düstereren Stimmung. In seinen Filmen gehe es langsam los, so Vernier, er liebe Prologe und Exkurse. Auch in "Sophia Antipolis" formt sich der obskure Filmgegenstand ungewöhnlich langsam. Eine durchgehende Handlung gibt es nicht, dafür mehrere Episoden, die auch in sich lückenhaft sind. Monströs, verwüstend, heilend scheint die Sonne.



Vor dieser Hitze hütet sich eine andere Figur ohne Namen im Schatten ihrer Wohnung. Diese Frau lebt alleine, ist finanziell versorgt, weiß mit ihrer Zeit wenig anzufangen. Aus dem Bedürfnis nach Sinn und Anschluss tritt sie einer Sekte bei, die aus der Asche der alten Welt eine neue Ära formen will.

Cut: Männer und Frauen bei einem Kampftraining. Durch Montage gestückelt wirken die Szenen der freiwilligen demütigenden Gewalteinübung schräg und bizarr. Sie bereiten sich vor, wollen sich rüsten - eine selbst organisierte Bürgerwehr, die nachts "den Mist von den Straßen aufräumen" geht, die Polizei sei nutzlos. So wird eine Wohnung gestürmt, ein Mann aus seinem Bett geholt und mit Klebeband an einen Stuhl gefesselt. Er wehrt sich nicht. Sie setzen ein Obdachlosencamp in Flammen. Alles brennt früher oder später in "Sophia Antipolis".

"Die Welt geht den Bach runter", sagt eine Figur, "das Ende ist nah". Es scheint, als hatten diese voneinander losgelösten Geschichten irgendwann zu einem Ganzen gehört - bis etwas Unwiederbringliches geschah. Als hätte sich die Welt da draußen einfach aufgelöst und mit ihr der alles zusammenhaltende Kern. Jede Episode - ein Fragment des Untergangs. Auch das wunderschöne 16mm-Filmmaterial (Kamera: Simon Roca, Tom Harari) und das wie aus weiter Ferne ertönende Voiceover sind Mittel, die für Verfremdungen sorgen. In seinen Filmen wolle er sich, so Virgil Vernier, von der klassischen Dramaturgie entfernen - hin zu einer diskontinuierlichen Erzählform, in der sich das Geschehen dem realistischen Modus bewusst entreißt. Die Realität ist hier alleine das, woran die Figuren in ihrem Wahn und ihrer Verzweiflung glauben.

Und diese Realität wirkt unheimlich: Hypnose, Träume, Stimmen, die die Figuren nachts zu empfangen glauben. Man sagt, die aktuelle Renaissance der Religion und Spiritualität sei ein Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses nach Trost und Halt, die in der modernen Welt durch den Wegfall traditioneller Strukturen oft fehlt. Für diese neuen alten Formen des (Aber)Glaubens interessiert sich Virgil Vernier. Nur wirkt das, was eigentlich Halt geben soll, in seinen Filmen wunderbar beunruhigend.

Olga Baruk

Sophia Antipolis - Frankreich 2018 -Regie: Virgil Vernier - Darsteller: Dewy Kunetz, Sandra Poitoux, Hugues Njiba-Munuba, Bruck, Lilith Grasmug - Laufzeit: 98 Minuten. "Sophia Antipolis" bei Mubi

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Gingerdead Man 2


Vermutlich werden nur sehr wenige Leser*innen dieser Kolumne den 2008 veröffentlichten Horrorfilm "Gingerdead Man 2: The Passion of the Crust", das erste Sequel einer bis heute fünf Filme umfassenden Filmreihe über einen vom Geist eines Serienmörders besessenen Lebkuchenmann, gesehen haben. Zum Einstieg in diesen Text eignet er sich gleichwohl vorzüglich, verbirgt sich doch hinter der Horrortrashfassade eine durchaus liebevolle und ironische Selbstparodie des seit fast 50 Jahren überaus umtriebigen Low- bis No-Budget-Genrefilmproduzenten und -regisseurs Charles Band, dessen Streamingservice "Full Moon Features" im Folgenden ein kleines Porträt gewidmet werden soll.

Als "Calvin Cheatum", Jungproduzent und Erbe der "Cheatum Studios", die mit wenig Geld Filme mit Titeln wie "Tiny Terrors 9" produzieren, hat sich Band ein augenzwinkerndes Selbstporträt erlaubt - und überdies langjährige Mitstreiter wie David DeCoteau oder John Carl Buechler sich selbst spielen lassen. Wie Calvin Cheatum ist Charles Band Erbe einer Exploitation-Familientradition. Bereits sein Vater Albert Band zeichnete seit den 50er-Jahren für eine Reihe kleiner, billiger Horror- und Science-Fiction-Filme sowie Western verantwortlich - und kehrte später für einige Produktionen seines Sohnes auf den Regiestuhl zurück. Charles Bruder Richard Band komplettiert als Filmmusikkomponist das Familienunternehmen, das zunächst "Empire Pictures" und dann "Full Moon" und im Zeitraum von 40 Jahren zahlreiche Sublabels in Leben rief und wieder begrub. Bis heute arbeitet Band mit einem relativ kleinen Kreis fester Mitarbeiter*innen, zu dem neben DeCoteau und Buechler Regisseure wie Ted Nicolaou oder William Butler zählen.

Über 300 Produzentencredits und 68 Regiearbeiten verzeichnet die Internet Movie Database für Charles Band, und aufgrund seiner Vorliebe für diverse Pseudonyme - "Gingerdead Man 2" ist von einer gewissen Silvia St. Croix inszeniert, über die ansonsten nichts bekannt ist - müssen wir stark davon ausgehen, dass die Dunkelziffer noch bedeutend höher liegt. Sein Debüt lieferte Band 1973 mit gerade einmal 22 Jahren und der "Last Tango in Paris"-Parodie "Last Foxtrot in Burbank" ab. So richtig los ging es dann Ende der 70er mit einer scheinbar nie abreißenden Folge preisgünstiger, knalliger Horror- und Science-Fiction-Filme. "Tourist Trap" von David Schmoeller ist heute ein waschechter kleiner Klassiker, und auch Bands eigene frühe Regiearbeiten wie "Parasite 3D" oder "Metalstorm - The Destruction of Jared-Syn" wecken bei manchem nostalgische Erinnerungen ans, je nach Generation, Bahnhofskino- oder Videothekenzeitalter.

Evil Bong


Dass Band früher als (beinahe) jeder andere sein Œuvre ins Streamingzeitalter gerettet hat, ist hingegen nur Hardcorefans des nach wie vor unermüdlich produktiven Produzenten bekannt - und deren Zahl ist stetig gesunken, wurde doch den Band-Hardcorefans in den letzten beiden Dekaden einiges abverlangt. Immer geringer wurden die Budgets, vermutlich waren sie bei der einen oder anderen Produktion kaum noch fünfstellig. Immer endloser wurden die Endlosreihen immer billigerer Sequels, die Band zunehmend im eigenen Heizungskeller zu drehen schien. Und immer absurder die Prämissen, vgl. weiter oben der besessene Lebkuchenmann, der es im Übrigen in gleich zwei Crossovers mit einer dämonische Wasserpfeife zu tun bekommt, die ihrerseits Star einer neun Teile umfassenden Filmreihe ist. Diese Neuproduktionen werden seit einigen Jahren direkt auf Bands eigenem Streamingservice "Full Moon Features" veröffentlicht, seit neuestem jeweils in zwei Episoden, die zusammengenommen einen Spielfilm von meist einer knappen Stunde Laufzeit ergeben. Bands Versuch vermutlich, auf den noch immer nicht erloschenen Serienhype aufzuspringen, oder zumindest so zu tun, als ob - eine zentrale Prämisse für "Full Moon".

Im Narrativ von Bands Privatmythologie war "Full Moon Features" gar einer der ersten Streamingservices überhaupt und ging nur wenige Monate nach Netflix ans Netz - tatsächlich lagen, auf Basis der recherchierbaren Datenlage, wohl mehrere Jahre dazwischen, aber im Full-Moon-Universum gehen die Uhren ohnehin anders. Zeit wird in mehr als nur einer Hinsicht ziemlich relativ. Auf Spielfilmlänge werden die neueren Produktionen Bands oft mit einem ganzen Arsenal arrivierter Taschenspielertricks gebracht: Ausführliche Vor- und Abspänne kriechen im Schneckentempo über den Screen, wenn noch 10 Minuten bis zur angestrebten Länge von, sagen wir, 70 Minuten benötigt werden. Und nicht selten wird am Anfang eines Sequels einfach 10 Minuten lang der vorhergehende Film zusammengefasst, wie auch bestimmte Establishing Shots über einzelne Filme oder ganze Reihen hinweg immer und immer wieder recycelt werden - wenn es einen Meister des Stock-Footage-Kinos gibt, dann ist das ziemlich konkurrenzlos Charles Band.

Im Grunde ist "Full Moon Features" eine große Wundertüte, angefüllt mit 40 Jahren Genre- und Exploitationfilmgeschichte. Man weiß nie so recht, was man bekommt, wenn man reingreift, aber ziemlich oft ist es auf eine rührende Weise ramschig. Auch in welchen Fassungen die gewählten Filme zu sehen sind, scheint rein zufällig. Eine ganze Reihe von Filmen werden bei "Full Moon" in 480p-Rips gestreamt, die an jene Files erinnern, die man in der grauen Frühzeit der illegalen Filmtauschbörsen aus dem Internet herunterladen konnte und deren Pixel von der Größe her an Badezimmerkacheln erinnern. Hier und da ist auch mal einer dabei, der in nicht anamorpher Fassung noch für 4:3-Fernsehschirme optimiert ist und auf modernen Geräten mit dicken schwarzen Balken auf allen vier Seiten erscheint. Zwei Sequels der sechsteiligen Science-Fiction-Filmreihe "Trancers" hat Band gar in um etwa 25 Prozent zu langsam abgespielten Fassungen hochgeladen, sodass die jeweils nur knapp über 70 Minuten langen (und ohnehin nicht sehr ereignisreichen) Filme dort nun anderthalb Stunden dauern. Alle reden und bewegen sich in Zeitlupe, der Soundtrack klingt mitunter wie Doom Metal, es ist ganz bezaubernd.

"Full Moon Features" ist in wirklich jeder Hinsicht das Bargain Basement unter den Streamingservices, in dem ein Monat schlappe 4 Dollar (plus Tax) kostet, ein Ramschtisch, in dem es sich endlos wühlen lässt, ein Sortiment, in dem Quantität klar vor Qualität kommt. Und es ist wahr, gut und schön, dass es das gibt. Wann, wenn nicht jetzt, im endlosen Lockdown, ließe es sich so problemlos vor sich selbst und der Welt rechtfertigen, mal einen Filmmarathon mit allen neun "Evil Bong"-Filmen zu veranstalten? Oder allen 15 "Puppet Master"-Filmen? Wo ließe sich dem Wählerischen der Cinephilie so mühelos eine Ethik des Exzesses, der hemmungslosen Cinephagie entgegensetzen?

"The Resonator: Miskatonic U"


Überdies lässt sich, gerade wenn man die Reihen endloser Sequels und Stock-Footage-Wiederverwertungen von Full-Moon-Klassikern der 80er- und 90er-Jahre konsequent bis ins Heute verfolgt, auch eine kleine Geschichte der Produktions- und Verwertungslogiken preisgünstiger, epigonaler Genrefilme, gewissermaßen am eigenen Leib, nachvollziehen. Der Weg von der Kinoproduktion über die Videopremiere und den Direct-to-DVD-Film bis hin zu den reinen Streamingproduktionen der Gegenwart ist eine Niedergangsgeschichte, die anhand von Bands Filmen besonders deutlich sichtbar wird, da seine Produktionen nie zu denjenigen gehörten, die ihr geringes Budget durch umso mehr Erfindungsreichtum kompensierten. Eher ging es in Filmen wie "Puppet Master", "Trancers" oder "Dollman" um eine gewisse Bescheidenheit, eine Verdichtung, einen möglichst ökonomischen Umgang mit dem, was ihren Machern an Mitteln zur Verfügung stand. Über diesen Ansatz hinaus wuchsen Bands Produktionen vor allem dann, wenn mal ein begnadeter Filmemacher wie Stuart Gordon im Rahmen des Band'schen Familienunternehmens tätig war.

An eine Sternstunde dieser Kooperation knüpft auch die bis dato jüngste Neuproduktion von Full Moon Features an. "The Resonator: Miskatonic U" ist eine Art Sequel zu Gordons Lovecraft-Adaption "From Beyond", sicherlich einem der besten Filme, bei denen Charles Band seine Finger im Spiel hatte. Tatsächlich sind die Spuren der Qualitätsoffensive, die Band für seine angeblich zwölf neuen Filme des Jahres 2021 angekündigt hat, durchaus zu erkennen. "The Resonator" wurde an mehr als einer Location gefilmt, Licht und Kamera wirken professionell - alles Messlatten, an denen etwa die jüngeren "Puppet Master"-Filme zuverlässig scheiterten. Das leicht erhöhte Budget, das Band für aktuelle Produktionen in die Hand zu nehmen kürzlich ankündigte, ist spürbar. Jetzt bräuchte es noch den einen oder anderen Filmemacher, der eine Vision oder zumindest ein, zwei echte Ideen mitbrächte - dann könnte im kontemporären Full-Moon-Œuvre wieder einiges gehen. Bis dahin wühlen wir uns einfach noch eine Weile durch die Hundertschaften von vergessenen Filmen auf dem großen, zauberhaften Full-Moon-Features-Ramschtisch.

Jochen Werner

Full Moon Features