Im Kino

Ich komme zu Euch als Mythos

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Fabian Tietke
22.06.2017. Ein Zentralwerk des Afrofuturismus kommt wieder in die Kinos: Sun Ras von John Carney inszenierte trippige Polit-Space-Opera "Space is the Place". Roger Ross Williams baut in seine Dokumentation "Life, Animated" Zeichentrickelemente unterschiedlicher Herkunft ein; die Kluft zwischen Kino und Leben bleibt freilich unüberbrückbar.

Ein pinkes Etwas, eine Art aufblasbares Wasserspielzeug aus zwei Eishörnchen, die mit einer Brücke verbunden sind, gleitet durch das Weltall. Die ersten Bilder von John Coneys "Space is the Place" sind ein Bekenntnis zur Space-Age-Ästhetik der Science-Fiction-B-Filme der vorangegangenen Jahrzehnte. Ansonsten kreist "Space is the Place" um seinen unangefochtenen Protagonisten: den Jazztausendsassa Sun Ra. Nach den Eröffnungscredits sehen wir Ra mit ägyptisierendem Kopfschmuck in einer Landschaft sitzen, Seifenblasen schweben durch das Bild. Er schmiedet Pläne: die Schwarze Bevölkerung der USA soll durch die Vibrationen der Musik Sun Ras auf diesen utopischen Planeten des Friedens portiert werden.

Ras Raumschiff transportiert ihn durch Zeit und Raum. Im Chicago des Jahres 1943 trifft er in einem Nachtclub auf seinen Widersacher Mr. Overseer. Statt auf dem Klavier Musik zu klimpern, zu der eine weibliche Tanztruppe ihre Beine präsentieren kann, widersetzt sich Sun Ra der Erwartungshaltung und beginnt untanzbar frei zu interpretieren. Ras Klavierspiel löst einen allgemeinen Tumult aus. Als der Staub sich setzt, sitzen sich Ra und Mr. Overseer in einem kosmischen Kartenspiel gegenüber, das im Nachtclub beginnt, um wenig später in einer ortslosen Wüstenlandschaft fortgesetzt zu werden. Noch einmal später treffen sie sich im Kalifornien der 1970er Jahre wieder, um ihr Ringen um die Vorherrschaft unter der Schwarzen Bevölkerung der USA fortzusetzen.


Immer wieder wird der Film von musikalischen Zwischenspielen von Sun Ra und seinem Archestra unterbrochen, strukturiert und kommentiert. Die Handlung ist durchwoben von mythologischen Versatzstücken, die sich auch in der Biographie Sun Ras finden. Ra legte Anfang der 1950er Jahre seinen bürgerlichen Namen ab, den er als eine Art "Sklavennamen" betrachtete. Als selbstgewählten Nachnamen nahm er den des ägyptischen Sonnengottes an und erfand sich als außerirdisches Wesen vom Saturn wieder. Wie in der Mythologie Ras mischen sich auch in "Space is the Place" Versatzstücke unter anderem der ägyptischen Mythologie und der Religion der Black Israelites. 1971 war Sun Ra Artist in Residence an der University of California in Berkeley und hielt eine Vorlesung über "The Black Man in the Cosmos", die die Arbeit an "Space is the Place" inspiriert haben dürfte.

"Space is the Place" stellt Drogen, Alkohol und Prostitution als trügerischem Ausweg aus der drückenden Realität der Utopie von Frieden und Glückseligkeit auf einem anderen Planeten gegenüber. In Sun Ras Worten als Botschafter der intergalaktischen Regionen des Rates des Weltalls: "Ich bin nicht echt. Ich bin wie ihr. Ihr existiert nicht in dieser Gesellschaft. [...] Ich und ihr - wir sind Mythen. Ich komme nicht zu euch als Realität, ich komme zu euch als Mythos. [...] Ich komme aus einem Traum, den die Schwarzen vor langer Zeit träumten. Ich bin eine Erscheinung, die euch eure Vorfahren gesandt haben." In dieser kurzen Ansprache, die er vor den angesichts seines Auftretens skeptischen Jugendlichen eines Freizeitheims hält, bringt Ra die Ideen des Films auf den Punkt. Während Mr Overseer für die Kollaboration von Schwarzen mit den Weißen steht, die sich von den Aufsehern der Sklavenzeit in die Gegenwart fortsetzt (nicht zufällig umgibt sich Mr Overseer gern mit jungen weißen Frauen), steht Sun Ra für die Verheißung umfassender Befreiung durch die friedensstiftende Kraft der Musik. Gegenüber dieser Verheißung erweist sich der Repressionsapparat, als der das FBI in dem Film erscheint, als machtlos.

Rund um den deutschen Kinostart von "Hidden Figures" im Februar diesen Jahres gelangte das Phänomen des Afrofuturismus auch in Deutschland zu einiger Bekanntheit. Einer der meist zitierten Sätze zum Afrofuturismus stammt aus einem Interview mit dem Musiker und Schriftsteller Greg Tate: "Being black in America is a science fiction experience". "Space is the Place" vermischt religiöse Heilsversprechen, die Verheißungen einer revolutionären Raumfahrt und die Utopie der Portierung auf einen fernen Planeten in einem trippigen Film. Die Handlung mag immer wieder holpern, an politischer und ästhetischer Kraft hat der Film knapp 40 Jahre nach seinem Entstehen nichts eingebüßt.
 
Fabian Tietke
 
Space is the Place, USA 1974, Regie: John Coney, Darsteller: Sun Ra, Barbara Deloney, Raymond Johnson, Erika Leder, Christopher Brooks, Laufzeit: 81 Minuten.
 
Die restaurierte Fassung von "Space is the Place" feiert am 26.6. im Berliner Kino Babylon Mitte Weltpremiere. Ein Kinostart folgt am 6.7.2017.
 
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Die schwächsten Passagen des Dokumentarfilms "Life, Animated" sind gleichzeitig die technisch aufwändigsten: Um den Graben zu überbrücken, der sich zwangsläufig auftut zwischen der Lebenswelt von Owen Suskind, eines jungen Erwachsenen mit Autismus-Diagnose, und den Disney-Zeichentrickfilmen, die Owen innig liebt und in gewissem Sinne mental bewohnt, fertigt Roger Ross Williams eigene Animationssequenzen an: Die entsprechenden Passagen verwandeln Owen seinerseits in eine gezeichnete Figur, stellen traumatische Kindheitserinnerungen nach oder inszenieren gar imaginäre Begegnungen mit den klassischen Cartoon-Charakteren.
 
Dass diese neugefertigten Zeichentrickszenen ästhetisch misslungen sind, weil sie die objektive Schärfe, die Disney-Filmen aller Sentimentalität zum Trotz stets eignet, vermissen lassen und sich stattdessen in einer hingeschluderten Bleistiftskizzenästhetik versuchen, ist nur ein Teil des Problems. Fast noch schwerer ins Gewicht fällt, dass der emotionale Kern des Films gerade in der prinzipiellen Unvereinbarkeit der beiden Welten besteht: Umso mehr Owen sich für die Disney-Filme begeistert, umso mehr er sich von allen Seiten mit Disney umgibt (nicht nur mit den Videokassetten, sondern auch mit Disney-Stofftieren, mit selbstverfasster Disney-fan-fiction, einmal im Film sogar mit zwei leibhaftigen Disney-voice-actors), umso deutlicher wird nur, dass er zwangsläufig immer außen vor bleibt, auf der anderen Seite des Bildschirms.
 
"Life, Animated" verwendet großzügig Disney-Material. Wichtig sind, für Williams wie für Owen, dabei weniger die großen Erzählbögen, die die Filme entwerfen, als "sprechende" Details: eine aufseufzende Prinzessin, der niedergeschlagene Blick eines einsam zurückgelassenen Geschöpfs, das Zangenklappern eines lustigen Hummers. Reine Affektbilder, die sich, spätestens, wenn sie mithilfe der Rückspultaste der Fernbedienung isoliert werden, von ihrem narrativen Kontext lösen, und in die eigene biografische Erzählung einbauen lassen - wo sie aber eben zwangsläufig Fremdkörper bleiben, weil sie immer nur darauf verweisen können, dass dasjenige, was sie umgibt, was sie kommentieren und spiegeln, gerade kein Disneyfilm ist.
 

Die Tricksequenzen von Roger Ross Williams wollen von diesem Dualismus nichts wissen und sich lieber der Illusion hingeben, dass es tatsächlich eine Kommunikation gibt zwischen den Bildern des Kinos und der Welt. Zum Glück setzt "Life, Animated" sie recht sparsam ein; im Gedächtnis bleiben eher die Szenen, in denen Owen allein vor dem Fernseher sitzt und jede einzelne Szene aufsaugt, jede Dialogzeile mitspricht, auf jede Bewegung reagiert - aber am Ende doch stets auf sich selbst zurückgeworfen bleibt. Es ist angenehm, dass "Life, Animated" sich nicht allzu viele küchenpsychologische Gedanken macht über spezifische Wirkungsmechanismen der Filmwahrnehmung. Ideologiekritische Spitzen wider die Unterhaltungsindustrie, die, wie die Wim Wenderse dieser Welt zu wissen glauben, unser aller Unterbewusstes kolonialisiert, liegen Williams sowieso fern; aber der Film läuft auch nicht auf ein Therapiemodell, auf "besser Leben mit Disney" hinaus.
 
Eher bekommt "Life, Animated" etwas zu fassen vom Wesen der Filmrezeption überhaupt, von der Hilflosigkeit, mit der jede Zuschauerin, jeder Zuschauer im Kino wie vor dem Fernseher den bewegten Bildern ausgeliefert ist. Nicht etwa, weil die Bilder, insbesondere die der Disney-Filme, manipulativ wären. Sondern weil sie, eben, auf der anderen Seite liegen, weil wir keinen Einfluss auf sie haben, nicht Teil von ihnen sind.
 
Eingebettet ist das alles in einen ästhetisch eher wenig ambitionierten Dokumentarfilm, der den talking-heads-Stil nur selten für - dann durchaus eindringliche - Alltagsbeobachtungen aufgibt. Die erste Filmhälfte erzählt, teils mithilfe von home-movie-Material, von der Jugend Owens, von der Reaktion der Familie auf die Diagnose (zu einer Zeit, als Autismus noch in anderem Ausmaß als heute tabuisiert, nicht in ein Spektrum psychosozialer A/Normalität eingeordnet, sondern als das Andere der "gesunden" Vergesellschaftung verteufelt war), von einer Kindheit zwischen Ausgrenzung und langsamen, vorsichtigen Schritten ins freie, beängstigend ungeordnete Leben; deren vielleicht entscheidenden dann die zweite Hälfte protokolliert: Owen zieht von zu hause aus, findet eine Arbeit (natürlich im Kino), wird aber auch von der Freundin verlassen. Genauso wenig wie um kulturanalytische Analysen zeitgenössischer Bewegtbildkultur geht es um große, verallgemeinerbare Aussagen über das Wesen von Autismus. Weil Owens Bruder sich vor der Kamera offensichtlich nicht allzu wohl fühlt, und auch seine Mutter reserviert bleibt, geht es nicht einmal um eine panoramatisch aufgefaltete Familiengeschichte, sondern um ein kleinformatiges, intimes Portrait, dessen eigentliches Objekt vielleicht weniger Owen ist, als sein Vater, der am Versuch, seinen Sohn zu verstehen, zu verzweifeln droht.

Lukas Foerster
 
Life, Animated - USA 2016 - Regie: Roger Ross Williams - Laufzeit: 92 Minuten.